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junge Welt Inland

03.11.1999
Protokolle ohne jede Beweiskraft
Keine weiteren Ermittlungen wegen der Brandstiftung in der Lübecker Hafenstraße?

Nachdem die Staatsanwaltschaft in ihrem Schlußplädoyer am Montag bereits Freispruch für den Libanesen Safwan Eid beantragt hatte, überraschte das heutige Urteil des Kieler Landgerichts nicht. Eid war vorgeworfen worden, den Brand in einem Lübecker Asylbewerberheim gelegt zu haben, in dem Safwan Eid mit seinen Eltern und Geschwistern wohnte. Grund soll ein Streit mit anderen Bewohnern des Heims gewesen sein. Bei der Katastrophe am 18. Januar 1996 waren zehn Menschen ums Leben gekommen. Bereits im September 1996 war er vom Lübecker Landgericht nach 60 Verhandlungstagen »aus Mangel an Beweisen« freigesprochen worden. Jedoch hatte der Bundesgerichtshof eine Wiederholung des Verfahrens verfügt, weil die Abhörprotokolle aus Eids Untersuchungshaft im ersten Verfahren nicht als Beweismittel verwendet worden waren.

Richter Jochen Strebos, der die Eid angeblich belastenden Indizien ein weiteres Mal Revue passieren ließ, sagte, die Abhörprotokolle seien »in ihrer Gesamtheit eher als den Angeklagten entlastende Indizien« zu werten. In einer Vielzahl von glaubhaften Unschuldsbeteuerungen, die sich auf den umstrittenen Tonbändern befinden, habe es lediglich zwei Stellen gegeben, die »auf den ersten Blick« hätten Zweifel aufkommen lassen. Daß Eid offenbar genau gewußt habe, welches Strafmaß ihn erwarte, sei für jemanden, der keine Strafe zu befürchten habe, weil er unschuldig ist, zwar ungewöhnlich, nicht jedoch für einen »Untersuchungshäftling, dem keiner glauben will«. An einer anderen zweifelhaften Stelle auf den Tonbändern habe das Gericht nicht mehr als »unidentifizierbare Silben« ausmachen können. Ohnehin habe sich die Bewertung der Abhörprotokolle oftmals »auf dem Feld der Spekulation bewegt«. Die Protokolle seien daher ohne jede Beweiskraft.

Resümierend stellte Strebos fest, die erneute Verhandlung habe »gewichtige Argumente, die für die Unschuld des Angeklagten« sprächen, erbracht. In diesem Teil der Begründung sah auch Abbildung Eids Verteidigerin Gabriele Heinecke (Foto) einen »weitergehenden Freispruch als den von Lübeck«. Vor allem aber habe das Gericht endlich geklärt, daß Eids Satz »Wir war'n's«, den ein Rettungssanitäter kurz nach dem Brand von ihm gehört haben will, »so nicht gesprochen wurde«.

Der Vertreter der Nebenklage, Haage, zeigte sich mit dem Freispruch unzufrieden. Die Beweisaufnahme sei »vorschnell beendet« worden. Auf die Frage, warum sich die Nebenklage trotz der wenig aussagekräftigen Abhörprotokolle auf Safwan Eid als Täter eingeschossen habe, so Haage, er habe »keine Erkenntnisse über andere Verdächtige«. Zwar sei es für die Nebenklage »nachvollziehbar unbefriedigend«, daß kein Täter ermittelt werden konnte, sagte Richter Strebos, doch könne und dürfe eine Strafkammer »keine weiteren Beweise gegen nicht Angeklagte erheben«. Das sei Aufgabe der Ermittlungsbehörden.

Aus Gründen der »Prozeßökonomie« waren nur Indizien und Zeugen gegen Eid zugelassen worden, wodurch in dem nun abgeschlossenen Prozeß keinerlei Gelegenheit gegeben war, auf die merkwürdigen Ermittlungen bei der Verfolgung der Spur der vier Neonazis aus Grevesmühlen hinzuweisen und dort neue Ermittlungen zu fordern. Die Erklärung des Staatsanwalts in seinem Schlußplädoyer, daß der Brandanschlag »wohl niemals aufgeklärt« werden könne, deutet darauf hin, daß es auch in Zukunft keine neuen Ermittlungen geben könnte. Aus diesem Grunde forderte das Lübecker Bündnis gegen Rassismus in einer Presseerklärung die sofortige Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen die Grevesmühlener Tatverdächtigen.

Jörg Meyer/AP-Foto: Christof Stasche

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