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junge Welt Inland
01.07.1997

Blinde Staatsanwaltschaft in Lübeck

Trotz Indizienkette wurde rechte Spur nie ernsthaft verfolgt


 
Überlebende des Lübecker Brandanschlages vom 18. Januar 1996 fordern in einer Erklärung (siehe Seite 10), daß die Ermittlungen gegen vier Jugendliche aus Grevesmühlen wiederaufgenommen werden, die kurz nach dem Brandanschlag festgenommen, aber wieder freigelassen worden waren.

Gegen die vier, die der rechtsradikalen Szene zugeordnet werden, wurde nur kurz ermittelt. Ihre Spur wurde genauso schnell wieder fallengelassen. Sie sei »komplett abgearbeitet« worden, hatte der Lübecker Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schulz im April 1996 gegenüber junge Welt erklärt. Doch zuviel fehlt, um das glauben zu können, zuviel bleibt an unbeantworteten Fragen, die zum Teil vorschnell ad acta gelegt wurden.

Es fehlt ein richtiges Alibi der Jugendlichen aus Grevesmühlen. Nur weil eine Polizeistreife drei dvon ihnen zur angenommenen Brandausbruchszeit in einem Wartburg in der Nähe einer Tankstelle gesehen haben will, wurden sie nach ihrer Vernehmung am Tag nach dem Brand wieder freigelassen. Ein Kassenbon der Tankstelle reichte als Beweis. Erst in der Nähe des brennenden Hauses wurden sie routinemäßig kontrolliert, aber nicht ihr Wartburg. Die Brandspuren an ihren Haaren, Wimpern und Augenbrauen wurden untersucht, als sie einen Tag später doch noch vernommen wurden. Doch ihre eigenartigen Erklärungen genügten den Ermittlern: Der eine will vier Tage zuvor einen Hund angezündet haben, ein anderer will sich beim Benzinabzapfen aus einem Mofa-Tank versengt haben. Ein gerichtsmedizinisches Gutachten stufte die Verbrennungen der drei als »typisch bei Brandstiftern« ein. Doch die entnommenen Haarproben verschwanden unauffindbar innerhalb der Polizei, wie manch anderes Beweismittel.

Zeugenaussagen, die den Verdacht gegen die Grevesmühlener erhärten könnten, wurden nicht weiter verfolgt. Auch nicht, daß einer der drei Jugendlichen, Maik W., Spitzname »Klein-Adolf«, einem Freund berichtete, er habe in Lübeck etwas angezündet oder wolle es tun. Selbst als sich mögliche Verbindungen des Sanitäters Jens L., dessen Aussage die einzige Grundlage für die Anklage gegen Eid darstellte, zu Rechtsradikalen aufzeigten, wurde die Staatsanwaltschaft nicht hellhörig. Gleichfalls nicht Ende 1996, als Maik W. sich bei einem Ladendiebstahl in Güstrow damit brüstete, bei dem Brandanschlag in Lübeck dabei gewesen zu sein.

Es fehlt vieles für ein abschließendes Bild von dem, was in der Brandnacht des 18. Januar 1996 in Lübeck geschah. Neben ausreichender Spurensicherung und manchem Beweismittel fehlte vor allem die Bereitschaft und die Phantasie der Staatsanwaltschaft, sich vorstellen zu können, daß es jemand anders als der Heimbewohner Eid gewesen sein könnte, der das Haus in Brand setzte.

Tilo Gräser