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junge Welt, Dienstag, 24. September 1996 · Nr. 224 ,Titelseite

> Einziger Belastungszeuge erinnert sich an alles und nichts.

Von Elke Spanner und Wolf-Dieter Vogel, Lübeck

>> Multiple Choice mit Jens L.

Dritter Verhandlungstag in Lübeck: Die Aussage des einzigen Belastungszeugen gegen Safwan Eid, Jens L., funktioniert nach dem Prinzip »Aus vier mach eins«. Das gesamte Sammelsurium seiner bisher protokollierten und teilweise widersprüchlichen »Geständnisversionen« vermengt L. vor dem Landgericht zu einer Art Gesamtversion. Der Libanese habe ihm gegenüber gestanden: »Wir warn's.« Es habe einen Streit mit einem Hausbewohner oder Familienvater gegeben. Man habe sich dafür rächen oder Rache üben wollen. Man habe ihm Benzin oder eine andere brandbeschleunigende Flüssigkeit an die Tür gekippt und angezündet. »Das lief dann brennend die Treppe runter.« Eids Verteidigerin Gabriele Heinecke erinnert L.s Aussage an einen Multiple-Choice-Test, bei dem sie nun die vermeintliche Wahrheit ankreuzen könne. Als Heinecke nachfragt, ob L. sich nur an den Satz »Wir warn's« genau erinnern könne, nickt dieser zustimmend. Den genauen Wortlaut des angeblichen Geständnisses bekomme er nicht mehr zusammen.

Mit der Glaubwürdigkeit von Jens L. und der Stichhaltigkeit seiner Aussage steht und fällt die Anklage gegen Safwan Eid. Schon vor seiner Vernehmung am gestrigen Montag hat der Zeuge mehr Fragen aufgeworfen, als er beantwortete.

Das holt er auch vor dem Landgericht nicht nach: Auf die zahlreichen Widersprüche befragt, zieht sich Jens L. stets auf den Satz »Ich erinnere mich nicht« zurück. Er erinnert sich auch nicht mehr daran, wann er seinem Kollegen Matthias H. von dem vermeintlichen Geständnis berichtet hat.

Dieser Punkt ist von entscheidender Bedeutung. Denn H. war es, der nach dem Brand im Januar die Polizei über das angebliche Geständnis unterrichtete. Jens L. dagegen vermutete, Safwan Eid habe dabei unter Schock gestanden: »Er schien teilnahmslos, benommen.« H. behauptete zunächst, Jens L. habe ihm vor der Brandruine von dem »Geständnis« erzählt - also noch vor dem Zeitpunkt, zu dem L. aussagt, im Bus mit Safwan Eid gesprochen zu haben.

Auch am Montag stellt Jens L. es so dar. Der Vorsitzende Richter Rolf Wilcken hält ihm daraufhin vor, daß er bei einer Vernehmung Ende Mai zu Protokoll gegeben hatte, Safwan Eid habe sich »noch am Ereignisort« offenbart. L. darauf: »Mit Ereignisort meinte ich vielleicht den Bus, mit dem wir zum Krankenhaus gefahren sind«.

Ende der achtziger Jahre hatte Matthias H. Kontakt zu rechtsradikalen Kreisen. In einem Spind seiner damaligen Arbeitsstelle wurden Aufrufe zur Gründung einer Wehrsportgruppe gefunden. Zudem tauchte der Verdacht auf, Matthias H. habe selbst Wehrsportübungen abgehalten.

So bemüht sich Verteidigerin Heinecke am Montag, das Verhältnis zwischen Matthias H. und Jens L. zu erhellen. L. bezeichnet seinen Kollegen als »guten Freund«.

Hellhörig werden Verteidigung und Staatsanwaltschaft, als Jens L. von gemeinsamen »Gotcha«-Spielen mit sogenannter Paintball-Munition erzählt. Getarnt und maskiert seien die Freunde durch den Wald gezogen, haben sich gegenseitig mit Gewehren mit Farbmunition beschossen. Sogar eine Satzung hat sich ihr Gotcha-Verein »Lübeck Leathernecks« gegeben. Demnach amtiert Matthias H. als Vorstand »auf Lebenszeit«, da die »Clubideologie« auf seinem »Gedankengut« beruhe.

Jens L. sagt aus, nichts von dieser Vereinssatzung gewußt zu haben. Zwei- bis viermal habe er im Frühjahr letzten Jahres mitgespielt. Nur wenige Minuten zuvor hat L. behauptet, Matthias H. erst im darauffolgenden Oktober oder November kennengelernt zu haben. Eine halbe Stunde später räumt er ein, seinen Freund »vielleicht 1990, 91 oder 92« zum ersten Mal gesehen zu haben.

Auch die zweifelhaften Ermittlungsmethoden der Lübecker Staatsanwaltschaft kommen am Montag zur Sprache. Befragt zu einem Gespräch zwischen Staatsanwalt Michael Böckenhauer und Jens L., das offiziell der Vorbereitung der Zeugen auf den Prozeß dienen sollte, erwähnt L. nicht nur, daß »wir uns über meinen verpatzten Urlaub unterhalten haben«. L. berichtet dem Gericht zudem, daß auch Matthias H. bei dem Gespräch anwesend war - ein entscheidender Zeuge zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Jens L.

Bei diesem Treffen legte Matthias H. auch die Satzung seiner »Leathernecks« vor. So vermischte sich - was unzulässig ist - die Zeugenvorbereitung durch die Staatsanwaltschaft mit Ermittlungstätigkeit.

Einem Antrag der Verteidigung, Böckenhauer deswegen für befangen zu erklären und von der Vernehmung des Sanitäters auszuschließen, wird dennoch nicht stattgegeben. Wie schon an den vergangenen Prozeßtagen ist der Gerichtssaal überfüllt. Jean-Daniel Makudiola, der als Nebenkläger im Verfahren auftritt, kann deswegen seinen persönlichen Dolmetscher nicht mitnehmen und weigert sich zunächst, dem Verfahren beizuwohnen. Der angolanische Flüchtling ist wie drei weitere ehemalige Bewohner der Hafenstraße als Nebenkläger am Prozeß beteiligt, da er die Verantwortlichen für den Brand verurteilt sehen will. Wie die Mehrzahl der betroffenen Flüchtlinge glaubt auch er nicht an die Täterschaft Eids.