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junge Welt, Montag, 12. August 1996, Nr. 187, Seite 4, inland

>> Rechtsakrobatik gegen Antirassisten

> Mit merkwürdigen Konstrukten geht die Lübecker Staatsanwaltschaft gegen ihre Kritiker vor

"Ihr hättet mal mit den anderen Arschlöchern verbrennen sollen, dann wäre die Welt um eine Plage befreit worden."

Der Brief an das Bündnis gegen Rassismus gehört eher zu den kleineren Angriffen, denen die AntirassistInnen in Lübeck ausgesetzt sind. Wesentlich mehr Probleme macht das örtliche Amtsgericht. Das nämlich hat vor drei Wochen neben zahlreichen Plakaten auch zwei Computer, CDs und Disketten beschlagnahmen lassen. »Arbeitsmaterial, das wir ständig brauchen«, erklärt Bündnis-Sprecher Christoph Kleine. Der Anwalt der Gruppe, Martin Klingner, hat jetzt von der Behörde gefordert, den Beschlagnahme-Beschluß aufzuheben und die Geräte wieder zurückzugeben.

Dem Bündnis gegen Rassismus wird vorgeworfen, auf einem Plakat zum Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim den Staatsanwalt Michael Böckenhauer durch den Vorwurf beleidigt zu haben, seine Behörde habe rassistisch ermittelt. »Möge die Staatsanwaltschaft sich hiermit politisch auseinandersetzen, statt ihren Kritikern einen Maulkorb zu verpassen«, reagiert Anwalt Klingner. Einen beleidigenden Inhalt könne er nicht erkennen. Besonders verblüffend aber sei der Hinweis des Amtsgerichtes, die Datenträger und Daten-Verarbeitungsgeräte seien darauf zu untersuchen, »ob sich weitere nicht veröffentlichte Texte darin befinden, die den Tatbestand der Beleidigung erfüllen könnten«. Ihm sei bislang kein Fall bekannt, in dem sich eine Person in ihrem Ehrgefühl verletzt fühle, »weil jemand auf seinem Heimcomputer Texte verfaßt«. Bisher sei doch noch davon auszugehen gewesen, daß zu einer Beleidigung deren Kundgabe gehöre, erklärt der Verteidiger und fragt lakonisch, ob denn schon entsprechende Strafanträge potentieller Beleidigungsopfer vorlägen. In der Maßnahme sehe er »einen Blankoscheck für wahllose polizeiliche Ermittlungen«.

Doch nicht nur bei den Verfolgungsbehörden weiß man den Vorwurf rassistischer Ermittlungen für sich zu nutzen. So kündigte die Lübecker CDU-Fraktion vergangene Woche an, den »Runden Tisch Brandanschlag auf unsere Synagoge« zu verlassen. Das Gremium war im letzten Jahr ins Leben gerufen worden, nachdem die Synagoge ein zweites Mal Ziel eines Anschlages geworden war. Mit solchen Leuten wie dem Bündnis gegen Rassismus wolle man sich nicht mehr an einen Tisch setzen, hieß es bei der Unionspartei zur Begründung ihres Ausstieges. Tatsächlich aber, so Kleine, »hat sich die CDU seit fast einem Jahr nicht mehr bei den Sitzungen blicken lassen«. Offenkundig habe die Partei nur einen billigen Vorwand gesucht, um ihr sowieso vorhandenes Desinteresse politisch begründen zu können.

Inzwischen wurde jetzt bekannt, daß in Lübeck am 2. August - in derselben Nacht, in der bislang unbekannte Täter versucht hatten, ein türkisches Restaurant in Brand zu setzen - an ein hauptsächlich von türkischen Jugendlichen besuchtes Zentrum rechtsradikale Parolen und Hakenkreuze gesprüht wurden.

Wolf-Dieter Vogel