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junge Welt, Montag, 8. Juli 1996, Nr. 157, Titelseite

> Lübecker Brandanschlag: Neue Recherchen bestätigen junge-Welt Berichte und erschüttern Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen.

Von Wolf-Dieter Vogel

>> Schwarzer Montag für Ermittler

Während die Lübecker Staatsanwaltschaft noch am Mittwoch sämtliche Vorwürfe der jungen Welt, die Behörde habe bei den Ermittlungen zum Brandanschlag auf das Flüchtlingswohnheim zahlreiche Spuren nicht weiter verfolgt, weit von sich gewiesen hatte, bricht die bisherige Version der Strafverfolger jetzt endgültig zusammen. »Kontakte des Zeugen Matthias H. zu einem der vier jungen Männer aus Grevesmühlen«, so die Behörde auf jW-Veröffentlichungen, »sind zur Zeit nicht belegbar«. Neueste Recherchen, unter anderem von Spiegel und Spiegel-TV, beweisen eher das Gegenteil.

Eine Freundin der Mecklenburger Jugendlichen gab am vergangenen Donnerstag der Polizei zu Protokoll, in ihrer Wohnung Aufzeichnungen Maik W.s - einer der vier zunächst Tatverdächtigen - gefunden zu haben, auf dem unter anderem die Namen des Hauptbelastungszeugen Jens L. sowie die seines Freundes Matthias H. gestanden hätten. Jens L. will in der Tatnacht von Safwan Eid, dem die Staatsanwaltschaft weiterhin die Verantwortung für den Brandanschlag am 18. Januar unterstellt, ein Geständnis gehört haben. Matthias H. hatte bei der Polizei angerufen, um diese von dem angeblichen Geständnis zu informieren.

Doch noch weitere Namen standen Recherchen des Spiegel zufolge in jenen Aufzeichnungen, die Freundin Kerstin B. jetzt der Polizei offenbarte. So auch die zweier mutmaßlicher Autoknacker, die im vergangenen Oktober versucht hatten, das Fahrzeug der Familie Eid in der Lübecker Hafenstraße zu klauen. Die beiden wurden damals von Safwan und Mohammed Eid gehindert und kurze Zeit später von der Polizei festgenommen. Ein entsprechendes Verfahren gegen die Autodiebe André B. und Mike E., beide aus Grevesmühlen, läuft noch. Möglichen Verbindungen der beiden zu den vier Tatverdächtigen sei die Staatsanwaltschaft bereits nachgegangen. »Da war nichts dran«, wußte Strafverfolger Michael Böckenhauer.

Ebensowenig offenbar an möglichen Kontakten, von denen die jW in den vergangenen Tagen berichtet hatte. Betreuer eines Heimes, in dem Maik W. im vergangenen Jahr gewohnt hat, hatten einen Zettel gefunden, auf dem der ausgeschriebene Name des Zeugen L. stand. Auf Fragen der Polizei hatte der Tatverdächtige zwei Personen angegeben, von denen eine nicht existiert. Die Lübecker Staatsanwaltschaft hat auch hier offensichtlich nicht weiter ermittelt.

Indessen wollen die Strafverfolger nach Informationen der "Kieler Nachrichten" Jens L. zu einigen Punkten seiner Aussage erneut polizeilich befragen. Ein entsprechender Fragenkatalog werde ihm an seinem Urlaubsort vorgelegt, heißt es in dem Blatt. Nach jW-Informationen ist L. zur Zeit mit seinem Freund H. gemeinsam im Urlaub.

Unterdessen hat auch das Lübecker Bündnis gegen Rassismus am Freitag einen weiteren Zeugen vorgestellt, der Verbindungen des Sanitäters Matthias H. zum Rechtsextremismus belegt. Nach deren Informationen wurde bei einer Durchsuchung des Spindes von H. auf der ehemaligen Wache des Malteser Hilfsdienstes in den Jahren 1988 oder 1989 nicht nur rechtsextreme Propaganda gefunden. So seien auch »eine Gaspistole, ein Gummiknüppel und Protokollpapiere über den Aufbau einer Wehrsportgruppe in Lübeck (Titel: "Verteidigungsabschnitt" oder "Verteidigungsfront Süd") zum Vorschein« gekommen. Matthias H. ist zum Zeitpunkt dieser Durchsuchung 16 oder 17 Jahre alt gewesen, und nicht, wie einige Zeitungen als Reaktion auf jW-Veröffentlichungen behauptet hatten, acht Jahre. Das Bündnis beruft sich auf Aussagen eines Zeugen, dessen Name die Gruppe jetzt an die Verteidigerin Safwan Eids, Gabriele Heinecke, weitergegeben hat.

»Die Verbindungen der Zeugen der Staatsanwaltschaft zum Rechtsextremismus müssen lückenlos aufgeklärt und nicht wider besseren Wissens geleugnet werden«, so Christoph Kleine, Sprecher der antirassistischen Initiative. Mindestens die Staatsanwälte Schultz und Böckenhauer müßten aus dem weiteren Verfahren ausgeschlossen werden, »da sie ihre Einseitigkeit und/oder Inkompetenz hinreichend bewiesen haben«, forderte das Bündnis gegen Rassismus in einer Presseerklärung.

»Absurd und ungeheuerlich«, reagierte Schleswig-Holsteins Generalstaatsanwalt Heribert Ostendorf noch am Samstag. Vorwürfe, nach denen sich Polizei und Justiz selbst ausländerfeindlich verhalten hätten, seien »eine Verunglimpfung der Dritten Gewalt und ein Stück Barbarei in der politischen Kultur«.

Zu Fragen, die die rechte Gesinnung des Zeugen Matthias H. betreffen, äußerte sich der oberste Strafverfolger auf Länderebene ausweichend. »Das wird in der Hauptverhandlung zu klären sein«, sagte er den Kieler Nachrichten. Auch Staatsanwalt Schultz blieb sich in den vergangenen Tagen treu. »Wir haben alle Spuren verfolgt und sind auch nachträglichen Hinweisen nachgegangen«, erklärte er am Freitag. Es gebe keinen Grund, die Ermittlungen gegen die Grevesmühlener Jugendlichen, die in der Brandnacht nahe des Wohnheimes gesehen und am Morgen kurzzeitig festgenommen wurden, wiederaufzunehmen. Auch Ostendorf weiß: »Der Verdacht hat sich nicht bestätigt.«

Warum aber bei drei der mecklenburgischen jungen Männer Brandspuren festgestellt wurden, kann sich Staatsanwalt Schultz auch nicht erklären. Die Aussagen der zunächst Tatverdächtigen hätten auch ihn »nicht in vollem Umfang überzeugt«. Statt die widersprüchlichen Angaben der drei aufzuklären, kritisiert Rechtsanwältin Heinecke, »erfindet die Staatsanwaltschaft dann dazu, daß es ja auch sein könnte, daß irgendwelche abgefackelten Autos die Sengspuren verursacht hätten. Es gibt aber kein abgefackeltes Auto in den Akten«.

Heineckes Mandant Safwan Eid und dessen Familie stehen unterdessen seit seiner Freilassung verstärkt unter Polizeischutz. Sie werden »in ihrem Interesse und mit ihrer Zustimmung« rund um die Uhr bewacht, sagte der Leiter der Polizeidirektion Schleswig-Holstein-Süd, Winfred Tabarelli. Dabei werde der Beschuldigte »nicht observiert«, so ein weiterer Sprecher der Behörde in den Kieler Nachrichten. Dafür fehle die gesetzliche Grundlage.