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junge Welt, Montag, 3. Juni 1996 · Nr. 127, Titelseite

>> Ankläger auf Schleuderkurs

> Lübeck: Mordvorwurf gegen Safwan Eid wurde fallengelassen.

Von Wolf-Dieter Vogel

Viereinhalb Monate nach dem Brand in einem Lübecker Flüchtlingsheim kommt die Staatsanwaltschaft mit ihrem Vorwurf, der libanesische Flüchtling Safwan Eid sei für das tödliche Feuer verantwortlich, immer mehr ins Schleudern. Erstmals mußte der Anklagevertreter Klaus-Dieter Schultz öffentlich eingestehen, man habe es mit einer »schwierigen Beweislage« zu tun. Nachdem mehrere Versuche von Verfolgungsbehörden und verschiedener Medien scheiterten, dem Libanesen ein Tatmotiv zu unterstellen, wurde jetzt der Mordvorwurf gegen Eid, der selbst in dem Asylbewerberheim in der Lübecker Hafenstraße gewohnt hatte, fallengelassen. Ein konkretes Motiv für den Brandanschlag, bei dem in der Nacht zum 18. Januar dieses Jahres zehn Menschen gestorben und 38 zum Teil schwer verletzt wurden, könne man dem 20jährigen nicht nachweisen.

Dennoch hält die Staatsanwaltschaft auch nach Abschluß der Ermittlungen in der vergangenen Woche an der Täterschaft Eids fest. Dem Libanesen soll nun wegen besonders schwerer Brandstiftung mit fahrlässig verursachter Tötung der Prozeß gemacht werden. Die Anklageschrift sei bereits dem zuständigen Oberlandesgericht Schleswig übermittelt worden.

Auch in einem weiteren Punkt der Ermittlungen muß die Staatsanwaltschaft erstmals Fehler eingestehen: Gegen Safwan Eid wird nun doch vor einer Jugendkammer verhandelt werden. Noch Mitte April hat die Behörde eine Haftbeschwerde der Verteidigung des Beschuldigten als »offensichtlich unbegründet« zurückgewiesen, in der diese gefordert hatte, das Verfahren an das Jugendgericht abzugeben.

Unter Berufung auf einen vom libanesischen Außenministerium beglaubigten und der deutschen Botschaft legalisierten Kinderausweis hatte die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke nachgewiesen, daß Safwan Eid erst 20, und nicht, wie von den Behörden behauptet, 21 Jahre alt ist. Demnach dürfe nicht nach dem Erwachsenenstrafrecht verhandelt werden. Dieses Dokument sei, davon zeigte sich die Lübecker Staatsanwaltschaft am 21. April noch überzeugt, »eine Fälschung«.

Mit gleicher Sicherheit bleibt sie allen Widersprüchen zum Trotz weiterhin bei ihrer Behauptung, Eid habe das Feuer gelegt. So seien bei den Aussagen des Brandschutzexperten Ernst Achilles »begründete Zweifel an dessen Unparteilichkeit angebracht«. Der Sachverständige hatte in einer Untersuchung des niedergebrannten Gebäudes die polizeiliche Interpretation vollkommen infrage gestellt, nach der das Feuer im ersten Obergeschoß ausgebrochen sein soll. Dort aber, so will die Staatsanwaltschaft glauben machen, soll Safwan Eid den Brand gelegt haben.

Allerdings, so relativiert Schultz jetzt die Vorwürfe, habe Eid nicht bewußt Menschen töten wollen. Dem Strafverfolger bleibt nichts anderes übrig, schließlich wurde das angebliche Tatmotiv »Streit mit einem Hausbewohner« durch gegenteilige Aussagen sämtlicher Zeugen und Zeuginnen ebenso ad absurdum geführt wie ein vom Boulevard-Blatt Stern ins Leben gerufene »Eifersuchtsdrama«.

Welches Motiv Safwan Eid aber gehabt haben sollte, gegenüber dem Rettungssanitäter Jens Leonhardt unmittelbar nach dem Brand ein Geständnis abzulegen, bleibt weiterhin das Geheimnis der Staatsanwaltschaft. Allein dieses angebliche Bekenntnis, getragen durch die widersprüchlichen Aussagen Leonhardts, bleibt, um gegen den Libanesen einen Prozeß anzustrengen.

Reichlich wenig, das weiß auch Oberstaatsanwalt Schultz und räumt mittlerweile ein, falls der Angeklagte freigesprochen werden sollte, sei das »für uns keine Niederlage«. Der Ankläger hatte auch jetzt wieder die Entscheidung verteidigt, die nach dem Brand festgenommenen Grevesmühlener Jugendlichen nach kurzer Zeit wieder freizulassen. Daß drei der vier jungen Männer Brandspuren im Gesicht gehabt hatten, seien alte Fakten.

Nicht neu dürfte der Staatsanwaltschaft auch der bisher ungeklärte Tod Sylvio Amoussous sein, um dessen Körper ein dünner Draht locker herumgewunden war. Durch das Feuer ist er nicht gestorben, bestätigt der Direktor des Rechtsmedizinischen Institutes der Uni Lübeck, Manfred Oehmichen. Die Leiche Amoussous wurde im Vorbau des Hauses, wo Verteidigung und Brandschutzexperte Achilles den Ausbruch des Feuers vermuten, gefunden.