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junge Welt, Freitag, 19. April 1996 · Nr. 92, Titelseite

> Neues Gutachten zum Lübeck-Brand erschüttert Version der Ermittler.

Von Wolf-D. Vogel

>> Schlechte Karten für den Staatsanwalt

Drei Monate nach dem Brand im Flüchtlingsheim in der Lübecker Neuen Hafenstraße hat die Version der Verfolgungsbehörden, nach der der Libanese Safwan Eid Urheber des tödlichen Feuers gewesen sein soll, endgültig ihre Grundlage verloren. Nachdem junge Welt bereits Ende März mit Bezug auf eine Expertise des Brandgutachters Ernst Achilles über Widersprüche bei den staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen der Brandursache berichtet hatte, veröffentlichte am Donnerstag auch das ARD

Magazin »Monitor« Filmaufnahmen aus dem Inneren des abgebrannten Gebäudes, mit denen die Feststellungen der Lübecker Behörde in wesentlichen Punkten widerlegt werden. Die Aufnahmen wurden während eines Ortstermins mit dem Frankfurter Brandexperten am 4. April angefertigt. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Bundes- und Landeskriminalamt hatten die Teilnahme an der von der Verteidigung anberaumten Besichtigung des Hauses verweigert. Lediglich ein Beamter der örtlichen Sonderkommission nahm teil.

Unterdessen hat die Verteidigerin des Libanesen, Gabriele Heinecke, am Donnerstag angekündigt, daß sich »Persönlichkeiten aus anderen Ländern zu einer Internationalen Untersuchungskommission zusammengefunden« hätten. Die Kommission, der sich bislang unter anderem verschiedene Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen aus dem europäischen Ausland angeschlossen haben, soll versuchen, »mit den Ermittlungsbehörden Kontakt aufzunehmen und an Ort und Stelle mit ihrer Tätigkeit zu beginnen«. Der Lübecker Bürgermeister Michael Bouteiller habe, so das Anwaltsbüro auf jW-Anfrage, bereits seine Zusage zu einem Treffen gegeben. Vom schleswig-holsteinischen Justizministerium erhofft sich die Kommission neben einem Gespräch die Erlaubnis, um Safwan Eid im Gefängnis zu besuchen.

Durch den Ortstermin stellte sich heraus, daß es keinerlei eindeutige Spuren für die von der Staatsanwaltschaft festgestellte Brandausbruchstelle im ersten Obergeschoß gibt. Im Gegenteil: Das Beweisstück, eine Spanplatte, in der Einbrennungen zu sehen gewesen sein sollen, ist »verschwunden«. Wenig verwunderlich, weisen doch auch sonst die Brandspuren im Haus nach Meinung von Achilles daraufhin, daß das Feuer »eindeutig im Eingangsbereich des Erdgeschosses ausgebrochen ist«. Damit wäre der dringende Tatverdacht gegen Safwan Eid nicht mehr aufrecht zu erhalten.

Auch an zahlreichen anderen Punkten wirft die staatliche Ermittlungsarbeit Fragen auf. So soll bei den Toiletten das Feuer bis zum Dach durchgebrannt sein. Beim Ortstermin hingegen waren diese völlig unversehrt. »Selbst das Klopapier hing noch«, war beim WDR zu erfahren.

Während die Behörden bereits zwei Tage nach dem Feuer einen Brandanschlag von außen ausgeschlossen hatten, da ein Einstieg nicht möglich gewesen sei, spricht auch hier jetzt vieles für das Gegenteil. Eines der Fenster, das in den hölzernen Vorbau des Gebäudes führte, konnte ohne Schwierigkeiten geöffnet werden. Daß die Bewohner und Bewohnerinnen dies bereits seit Monaten sagen, hat Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter bislang nicht interessiert.

Die Verfolgungsbehörden sind auch jetzt noch bemüht, keine Widersprüche zu der offiziellen Version der Brandursache und der Täterschaft von Eid zuzulassen. So weigerte sich Staatsanwalt Klaus-Dieter Schultz nicht nur, mit Monitor zu sprechen. Nach Veröffentlichung der Informationen des WDR

Magazins war er am Donnerstag nachmittag nicht mehr zu erreichen.

Offenbar gerät die Behörde zunehmend unter Druck. Ende März war an die Öffentlichkeit geraten, daß die vier jungen Männer aus Grevesmühlen, die nach der Tat festgenommen und bereits am nächsten Tag wieder freigelassen wurden, durch Feuereinwirkung versengte Haarenden, Wimpern und Augenbrauen hatten. Auch deren Alibi, nach dem sie sich während der Tatzeit an einem anderen Ort befunden haben sollen, bricht jetzt zusammen, da bekannt wurde, daß der Ausbruch des Feuers laut dem zweiten Haftbefehl Eids eine halbe Stunde früher als bisher angenommen vermutet wird.