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junge Welt, Donnerstag, 22. Februar 1996, Nr. 45, Seiten 6/7, antifa

>> Dürftige Indizien und ein Motiv, das keinen Sinn macht

> Während Safwan E. seit vier Wochen in Untersuchungshaft sitzt, spricht nichts für dessen Schuld am Brand des Flüchtlingsheims in der Lübecker Neuen Hafenstraße

Mehr als vier Wochen nach dem Brand des Asylbewerberheimes in der Lübecker Hafenstraße 54 bleiben die Ursachen des Feuers weiterhin im Verborgenen. Spätestens nach der am 23. Januar verfügten Nachrichtensperre übernahmen sämtliche VertreterInnen bürgerlicher Medien die von den Verfolgungsbehörden veröffentlichte Version, nach der der Libanese Safwan E. den Brand gelegt haben soll. Für diesen Vorwurf spricht bisher nichts - vielmehr deutet alles darauf hin, daß der 21jährige nicht der Täter ist.

Reimt man sich aus den wenigen Aussagen von Staatsanwaltschaft und Polizei zusammen, wie sich der Vorfall in der Nacht zum 18. Januar abgespielt haben soll, entsteht eine Geschichte, die wenig Sinn ergibt. Safwan E. legt im ersten Stock des Hauses - ausgerechnet dort, wo seine Eltern und Geschwister schlafen - ein Feuer. Obwohl sich der Brand unerwartet schnell ausbreitet, geht er im Dachgeschoß des Hauses zu Bett. Kurze Zeit später läßt sich der Libanese von einer Nachbarin wecken und flüchtet auf das Dach des Gebäudes. Von der Feuerwehr gerettet, kümmert er sich, wie MitbewohnerInnen bestätigen, um die gefährdeten Kinder und wird dabei verletzt. Eine perfide eingefädelte Entlastungskette - mögen JuristInnen bis hierher interpretieren. Um dann aber gegenüber einem wildfremden Mann auf der Fahrt ins Krankenhaus ein Geständnis abzulegen, wie die Behörden glauben machen wollen?

Die Tat eines Cholerikers oder eines »Geisteskranken«? »Wenn er das gemacht hätte, müßte er an der Grenze zur Debilität sein, und davon ist uns überhaupt nichts bekannt geworden«, erläutert Astrid Nielsen, Lehrerin einiger Kinder aus der Neuen Hafenstraße 54 der jW. Auch ein im Heim beschäftigter Sozialarbeiter kennt Safwan E. als »besonders besonnenen jungen Menschen«. Nach den Worten des Lübecker Kriminaldirektor Winfried Tabarelli aber soll es zwischen Safwan E. und dem Schwarzafrikaner Gustave S. heftige Auseinandersetzungen gegeben haben. Und nicht nur zwischen ihnen: »Wir wissen, daß es Streit zwischen ethnischen Gruppen gegeben hat«, schiebt Tabarelli nach. Thesen, die bislang durch nichts gestützt wird - im Gegenteil. Alle, die mit den Flüchtlingen zu tun hatten, bestätigen, daß die Atmosphäre ruhig und freundlich gewesen sei. »Wir sind gut mit Safwan ausgekommen«, zitiert dessen Anwalt Hans-Jürgen Wolter afrikanische MitbewohnerInnen. »Sie haben deutlich gemacht, daß sie ihn nicht für den Täter halten, und das würden sie wohl kaum tun, wenn es hier irgendwelche Konflikte gegeben hätte«, so Wolter in der jW. Warum sollten die HausbewohnerInnen Safwan E. decken - einen, mit dem sie angeblich im Streit gelegen haben sollen - einem Streit immerhin, der zum Tod ihren Angehörigen und FreundInnen geführt haben soll.

Das Tatmotiv »interne Auseinandersetzungen« bricht endgültig zusammen, nachdem Gustave S. im ZDF aussagt, er habe nie Streit mit Safwan E. gehabt, er habe ihn noch nicht einmal persönlich gekannt. Die Ermittlungsbehörden reagieren prompt: Nachrichtensperre. Übrig bleibt jene peinliche Behauptung des stern, der Libanese habe mit seinen Brüdern im Fernsehen ein Eifersuchtsdrama angesehen, bei dem es Tote gegeben habe. Da der 21jährige eine enttäuschte Liebe hinter sich habe, weiß der stern, habe er sich nach der TV-Sendung nicht mehr unter Kontrolle gehabt.

Kaum überzeugender wirkt die nach Worten von Rechtsanwalt Wolter »dünne Beweisdecke«. Die Verhaftung des Libanesen stützt sich auf Aussagen, die er einem Feuerwehrmann gegenüber auf der Fahrt ins Krankenhaus gemacht haben soll: »Wir waren es.« Safwan E. hingegen gibt an, er habe mit Blick auf fremdenfeindliche Deutsche »Sie waren es« gesagt und sich auf Informationen bezogen, die ihm sein Vater vermittelt habe. Dieser habe ihm berichtet, »daß er ein Knarren der Gartentür, dann einen Knall gehört habe, als ob etwas kaputtgegangen sei«, zitiert Wolter seinen Mandanten. Die Staatsanwaltschaft sieht das anders, sie hält die Aussagen des Feuerwehrmannes für »hundertprozentig glaubwürdig«. Daß dieser die Aussagen erst macht, nachdem staatliche Stellen 50 000 Mark für Hinweise ausgesetzt haben, die zur Ergreifung des Täters führen, spielt für die Behörde offenbar keine Rolle. »Er habe sich an seine Schweigepflicht gebunden gefühlt«, begründet der Zeuge seine späte Entscheidung. Nach Informationen der Hamburger Zeitung AK allerdings scheint unstrittig, daß er zuvor schon mit einem Kollegen über den Vorfall geprochen hatte.

Was aber über den erwähnten kurzen Satz hinaus im Rettungswagen gesprochen wird - darüber hüllt sich die Staatsanwaltschaft in Schweigen. Safwan E. soll »über Wissen verfügt haben, das nur ein Täter haben kann«. Er soll »Angaben zum Ort des Brandausbruchs« gemacht haben, Informationen, die ebenso Vermutungen sein können. Zumal sich der Libanese nach dem Brand in einer extremen physischen und psychischen Situation befunden hatte. Auch Verständigungsschwierigkeiten sind nicht ausgeschlossen. Safwan E. spricht schlecht deutsch.

Allein diese »Beweislast« genügt den Verfolgungsbehörden, um den 21jährigen seit über vier Wochen in Untersuchungshaft zu behalten. Bezeichnend, daß die Aussage eines deutschen Feuerwehrmannes mehr zählt als die sämtlicher Flüchtlinge, die bisher zu dem Fall Stellung genommen haben. Auch Safwan E. selbst weist entschieden zurück, den Brand gelegt zu haben.

Die Staatsanwaltschaft aber interessiert das alles nicht. Bereits zwei Wochen nach dem verheerenden Brand kann die Behörde stolz verkünden, die Möglichkeit eines Anschlags von außen werden nicht weiter verfolgt. Der Täter scheint gefunden, lediglich nach möglichen MittäterInnen von Safwan E. werde noch gesucht. Zwei Brandsachverständige des Bundeskriminalamtes hätten die Brandstelle untersucht und bestätigt, daß das Feuer im ersten Stock ausgebrochen sei. Da Haustür und sämtliche Fenster verschlossen und unversehrt gewesen seien, könne das Feuer nur im Haus selbst gelegt worden sein, können die Ermittler beruhigt schlußfolgern. Der Verdacht eines rassistischen Anschlags darf jeglichen Widersprüchen zum Trotz ad acta gelegt werden.

Die Frage, ob tatsächlich ausgeschlossen ist, daß Fremde ins Haus eindringen konnten, bleibt trotzdem offen. Ehemalige Bewohner, Diakonie-Mitarbeiter und früher im Haus Beschäftigte bezeugen, die Tür habe immer offen gestanden. Auch Lehrerin Astrid Nielsen bestätigt, man hätte ohne große Schwierigkeiten in das Gebäude eindringen können. Nach Informationen des Lübecker Bündnisses gegen Rassismus hatten nur Betreuer einen Schlüssel, so daß die Tür ohnehin immer offen stehen mußte. Gerade deshalb bleibt die Beweisführung der Sachverständigen fragwürdig. Diese hätten herausgefunden, das Schloß sei »umgeschlossen« gewesen. Möglicherweise aber war es »umgeschlossen«, damit die Tür nicht ins Schloß fallen konnte. Entgegen der Lübecker Polizei sprechen die Familie des Beschuldigen und weitere HausbewohnerInnen zudem davon, die Scheibe der Haustür sei seit Monaten kaputt gewesen, ebenso einige Fensterscheiben.

Widersprüche und Fragen, auf die die Verfolgungsbehörden spätestens nach Verhängung der Nachrichtensperre gegenüber der Öffentlichkeit keine Antworten mehr geben müssen. Sollte sich in einigen Monaten die Unschuld von Safwan E. herausstellen, werden andere Tatspuren kaum mehr verfolgbar sein.

Doch während sich die Behörden im »Fall Safwan E.« offenbar Zeit lassen, hatten sie es bei jenen drei Verdächtigen, die am Morgen nach dem Brand festgenommen wurden, eilig. Einen Tag später sind diese wieder auf freiem Fuß. Die Freilassung beruhe neben Einlassungen der drei auf »objektiven Beweiserhebungen«, erklärt Kriminaldirektor Tabarelli. Einzige Entlastungszeugen: eine Polizeistreife, die die Jugendlichen um 3 Uhr 20 an einer Tankstelle gesehen haben will. Zwanzig Minuten lang hätten die Beamten die drei verfolgt, bis sie - frühestens nach Ausbruch des Feuers um 3 Uhr 42 - zum Einsatz in der Hafenstraße abberufen worden seien. Die Grevesmühlener Jugendlichen, die angeblich zum Autodiebstahl unterwegs waren, scheint die polizeiliche Observation nicht gestört zu haben. Kaum sind sie ihre Verfolger los, fahren sie in ein abgelegenes Hafengelände, fernab der Durchgangsstraße, in die Nähe der Lübecker Neuen Hafenstraße.

Auch hier bleiben Fragen offen. Aber die Ermittler sind sich sicher, von einem rassistischen Anschlag könne keine Rede mehr sein. Aussagen betroffener Flüchtlinge interessieren sie offensichtlich wenig. Nicht erst seit dem 18. Januar 1996. Wiederholt seien Brandanschläge auf das Haus verübt worden, berichten die Bewohner. Die Lehrerin Astrid Nielsen weiß, daß die AsylbewerberInnen Gerätschaften wie Benzinkanister gefunden hätten, »die reingeworfen wurden, aber nicht gezündet hätten«. Zuletzt im Dezember vergangenen Jahres, bestätigt Hans-Jürgen Wolter. »Die Polizei bestreitet dies, weil ihr die Sache vielleicht nicht wichtig genug war, um aufzunehmen, daß dennoch nichts gebrannt hat«, sagte er der jungen Welt.

Wolf-Dieter Vogel