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Sonnabend/Sonntag, 20./21. Januar 1996 Nr. 17, Titelseite

> Hintergründe des Lübecker Brandes bislang ungeklärt.

Von Wolf-Dieter Vogel

>> Betroffenheit am Brandherd

Offensichtlich brauchte es zehn Tote, um eine längst überfällige Diskussion um die Verbesserung der Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Deutschland in Gang zu setzen. Mit außergewöhnlich scharfen Worten kritisierte der Lübecker Bürgermeister Michael Bouteiller (SPD) die Abschiebepolitik in der Bundesrepublik und rief dazu auf, illegale Flüchtlinge zu schützen. Unterdessen haben die Untersuchungen nach der Ursache des Großbrandes in der Hansestadt auch am Freitag keine eindeutigen Ergebnisse hervorgebracht. Die drei Männer aus dem nahegelegenen Grevesmühlen, die am Donnerstag als Tatverdächtige festgenommen worden waren, wurden am Freitag wieder freigelassen. Die Ermittlungen hätten ergeben, so der leitende Kriminaldirektor Winfried Tabarelli, »daß ein Tatverdacht gegen diese Personen nicht mehr besteht«. Außerdem gab er bekannt, daß es am Donnerstag noch eine vierte Festnahme gegeben habe, auch diese Person sei aber mittlerweile wieder auf freiem Fuß.

Es sei unverständlich und unakzeptabel, daß der Staat in schrecklicher Weise das Ausländerrecht mit Abschiebungen exekutiere, sagte Bürgermeister Bouteiller dem Radio Bremen. Er wolle diesen Staat nicht und viele andere Menschen wollten ihn auch nicht. Gerade von Lübeck aus müsse das Gegenteil aufgebaut werden, und dazu bedürfe es zivilen Ungehorsam. Mit seiner Forderung, »gesonderte und abgesonderte Asylbewerberheime« aufzulösen und Flüchtlinge dezentral unterzubringen, weiß sich Bouteiller nicht allein. »Menschen, die in die Bundesrepublik geflohen seien, müßten voll integriert werden, das heißt, in unseren Wohnbereichen und Häusern leben«, sagte ein Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen. Neben der Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge »pro asyl« fordern vor allem unabhängige antirassistische Gruppen seit Jahren ein Ende der »Getthoisierung von Flüchtlingen«. Die Unterkünfte dienten der schärferer Kontrolle und der Verfestigung von vorhandenen Vorurteilen, so das AusländerInnen Referat des AStA der Freien Universität Berlin am Freitag. Sie müßten abgeschafft werden, zudem müsse beim Unterhalt anstelle von Sach- wieder zu Bargeldleistungen zurückgekehrt werden.

Betroffenheitsrituale wurden hingegen bereits am Donnerstag in Bonner Regierungskreisen zelebriert. Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU), der erst vergangene Woche die zu große Zahl von Flüchtlingen monierte, kündigte »entschiedene Maßnahmen« an. Bundespräsident Roman Herzog setzte sich für mehr »öffentliche Sicherheit« ein. Offenbar ungeachtet der Lübecker Ereignisse plädierte die Berliner Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen dafür, der Senat solle eine »humane Rückführung« der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina sicherstellen.

Indessen bleiben viele Fragen über die Hintergründe des Lübecker Brandes bislang unbeantwortet. Am Freitag war entgegen vorhergehender Aussagen eines Feuerwehrmannes nur noch von einem Brandherd die Rede, obwohl die Experten wegen der Einsturzgefahr des Gebäudes gar nicht bis zur vermuteten Ausbruchstelle im ersten Stock vordringen konnten. Am Donnerstagabend sprach der zuständige Lübecker Staatsanwalt Michael Böckenhauer davon, das Feuer sei an mehreren Stellen gleichzeitig ausgebrochen. Zur Freilassung der Verdächtigten erklärte Tabarelli, die Entscheidung beruhe nicht nur auf Einlassungen der drei, sondern auch auf »objektive Beweiserhebungen«. Die drei hätten kurz vor Ausbruch des Brandes an einer weit entfernt gelegenen Tankstelle getankt. Die Fahrt bis zu dem Haus in der Hafenstraße hätten sie in den verbleibenden Minuten unmöglich schaffen können. Das Fahrzeug der Männer sei kurz nach Verlassen von einer Polizeistreife beobachtet worden. Am Donnerstag gab die Polizei an, die drei in unmittelbarer Nähe des Brandortes kontrolliert zu haben.

Allzuschnell waren die Behörden in den vergangenen Jahren bereit, von Unfällen zu reden. Ganz erfreut konnte beispielsweise Stuttgarts Oberbürgermeister Rommel am 16.März 1994 verkünden, die Ermittlungen nach den Ursachen eines Hausbrand hätten »keine Anzeichen auf einen fremdenfeindlichen Anschlag« ergeben. Bei dem Feuer hatten sieben ausländische Menschen ihr Leben verloren. Ein Jahr später gestand ein 25jähriger, den Brand gelegt zu haben. Als Motiv gab er Ausländerhaß an. Die große Empörung und Betroffenheit von PolitikerInnen, aber auch von Linken, blieb aus.

(Siehe auch Interviews auf den Seiten 2/3)