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junge Welt, Sonnabend/Sonntag, 18./19. Januar 1997, Nr. 15, Seite 6, inland Das Kreuz mit Lübeck

(Bildtext)

Am Freitag wurden an der Eingangstür der Lübecker Kirche, in der am Abend ein Gedenkgottesdienst für die Opfer des Brandanschlags vom 18. Januar 1996 stattfinden sollte, Hakenkreuzschmierereien entdeckt. Zum Jahrestag des Anschlages wurden in der Stadt zahlreiche Gebäude mit rechtsextremen Symbolen beschmiert. Etwa 400 Jugendliche demonstrierten am Nachmittag in der Hansestadt »Gegen Biedermänner und Brandstifter - für das Bleiberecht der Flüchtlinge«.

(AP/jW)


junge Welt, Sonnabend/Sonntag, 18./19. Januar 1997,

k o m m e n t a r

>> Rechtfinden für Deutschland

> Ein Jahr nach dem Lübecker Brandanschlag suchen Justiz und Presse immer noch nach dem Alibi für die Nation.

Von Wolf-Dieter Vogel

Liegt es an der großen Zahl von Opfern, die dazu zwingt, ausgerechnet dem Brandanschlag auf eine Lübecker Flüchtlingsunterkunft, der sich am heutigen Sonnabend zum ersten Mal jährt, besonderes Augenmerk zu schenken? Zehn Menschen starben in den Flammen - weniger, als sich 1996 in deutschen Abschiebeknästen das Leben nahmen. Dennoch ist der Lübecker Brand von besonderer Bedeutung, denn keiner der unzähligen anderen Angriffe des vergangenen Jahres trägt mehr dazu bei, den nationalistischen Diskurs weiter zu etablieren, kein Ereignis bringt die rassistische Realität deutlicher in ihrem gesamten Umfang zum Ausdruck.

Eine Staatsanwaltschaft, die alles tut, um einen möglichen rechtsradikalen Hintergrund der Tat zu verwischen. Eine Asylbehörde, die nicht davor zurückschreckt, Flüchtlingen das Bleiberecht zu verweigern, die ihre Angehörigen verlieren und selbst nur knapp dem Tod entgehen. Zahlreiche Journalisten und Journalistinnen, deren Hauptinteresse darin besteht, den angeklagten Safwan Eid schon mal als Täter zu enttarnen, ohne einen tatsächlich stichhaltigen Beweis gegen den ehemaligen Hausbewohner erbringen zu können. Und ein großer Teil der Bevölkerung, dessen kollektives Aufatmen kaum zu überhören ist, als die vier tatverdächtigen Männer aus Grevesmühlen freigelassen werden: »Und wer entschuldigt sich jetzt bei uns«

die Frage eines Lübecker Passanten korrespondiert mit den aggressiven Aufforderung von FAZ bis taz, nach Lübeck gelte es für die Deutschen, einen unverarbeiteten Schuldkomplex endlich zu überwinden.

Das scheint zu klappen: Die Anwältin Gabriele Heinecke, die öffentlich für ihren Mandanten eintritt und von Rassismus spricht, findet selbst bei Kollegen der liberalen Presse keine Gnade. Im vermeintlichen Interesse Safwan Eids kritisiert "Die Zeit" die Hamburger Verteidigerin, sie habe mit ihrer »Kampagne an Glaubwürdigkeit« verloren. Zum richtigen Verständnis: »Kampagne« meint den Versuch, einer vom Tag der Verhaftung Safwan Eids an beginnenden Vorverurteilung entgegenzuwirken, indem über die Unwahrheiten und Verleumdungen gesprochen wird.

Vielleicht hätte man Gabriele Heinecke zumindest verziehen, daß sie im Prozeß »ins Mikrofon bellt« (taz) und »eiskalt« agiert, wäre sie denn Anwalt, nicht Anwältin. So aber wird Skepsis über die einseitigen Ermittlungen zur »Verschwörungstheorie«.

Im Zentrum der liberalen Kritik steht die Prozeßstrategie der Verteidigerinnen. Das verwundert wenig, schließlich legen Gabi Heinecke und Barbara Klawitter im Lübecker Landgericht offen, was vorher gern verdrängt worden wäre: Der Vorwurf, Safwan Eid sei für die Tat verantwortlich, ist haltlos. Der Vorsitzende Richter Rolf Wilcken muß nach Wochen einräumen, man sei bislang im Prozeß kaum einen Schritt vorangekommen. Wie zu Beginn des Verfahrens steht gegen den Libanesen ausschließlich die widerspruchsvolle Aussage des Rettungssanitäters Jens Leonhardt, er habe von Safwan Eid ein Geständnis gehört. Alle Versuche, weitere Beweise herbeizuschaffen, enden in kläglichen medialen Inszenierungen, deren prozessuale Relevanz gleich null sein dürfte.

Anders als die Hinweise, die einen rechtsradikalen Hintergrund des Anschlages nahelegen. Seien es die auf einem Tonband mitgeschnittenen letzten Worte Frau Makodilas, die davon spricht, daß »Nazis das Haus attackieren«. Seien es Spuren, die auf einen Einbruch unmittelbar vor Entstehung des Feuers hinweisen. Sei es, daß ausgerechnet in der Nähe des Briefkastens, durch den Gegenstände oder Flüssigkeiten ins Innere des Hauses hätten geworfen werden können, starke Brandspuren festgestellt werden. Warum aber sollte eine Staatsanwaltschaft an derlei Hinweisen, wie sie im Prozeß bekannt werden, Interesse zeigen - eine Staatsanwaltschaft, die bislang alles vermieden hat, um den Tatverdacht gegen vier durchschnittlich rechtsradikale Deutsche zu erhärten? Schließlich können die Ankläger bis heute nicht einmal erklären, woher die Männer sich in der Tatnacht die festgestellten Brandspuren zugezogen haben.

Statt dessen geht die Staatsanwaltschaft mit außergewöhnlichem Eifer solchen »Hinweisen« nach: Ein früherer Bewohner der Hafenstraße 52, seit langem in Castrop-Rauxel lebend, hat eine Postkarte geschickt und eingeräumt, daß Safwan Eid der Täter sein könne. Nicht mehr, aber Grund genug für die Ankläger, von sämtlichen Bekannten der Eids Speichelproben nehmen zu lassen - nur eine der Diskriminierungen, denen die Familie und deren Freundeskreis seit der Verhaftung Safwans ausgesetzt ist.

Juristisch scheint die Anklage so gut wie erledigt. Kaum ein Beobachter glaubt allen Ernstes daran, daß der Libanese verurteilt werden kann. Eher heute als morgen müßte er freigesprochen werden. Und dann? Bestehen tatsächlich Chancen, ausgerechnet diese Staatsanwaltschaft dazu zu zwingen, Ermittlungen in eine andere Richtung wieder aufzunehmen? Das scheint fraglich. Dennoch könnte die Thematisierung des Komplexes Grevesmühlen vor Gericht zumindest für Aufregung sorgen. Würden doch all die Ungereimtheiten, die unterlassenen Ermittlungen gegen sowie die Schutzmaßnahmen für vier Deutsche noch mal ans Licht der Öffentlichkeit kommen.

Bislang wird die »Wahrheit von Lübeck« in ihrer Inszenierung für die deutsche Öffentlichkeit weitgehend unwidersprochen hingenommen. Kein Staatsanwalt muß abdanken, keinem Innenminister droht die Kündigung. Keine Ausländerbehörde wird angegriffen. Nicht die deutschen Zustände stehen auf der Anklagebank, verteidigen muß sich, wer es wagt, rassistisches Vorgehen der Behörden zu kritisieren und wer vom nationalen Konsens spricht. Oberwasser haben eindeutig jene, die das Signal des Brandanschlages richtig zu deuten wissen: Als Fortsetzung und Konsequenz des sogenannten Asylkompromisses, als günstige Gelegenheit, definitiv klarzustellen, daß Ausländer hier nicht nur nicht erwünscht sind, sondern nötigenfalls jedes Mittel legitimiert wird, sie zu vertreiben.

Schließlich wissen die Verteidiger der Nation besser als die Linke, daß jeder Entlastungsversuch die Vorbereitung für die nächste Gewalttat darstellt. Daß unter solchen Verhältnissen selbst der Hoffnung auf einen Prozeß gegen Rechtsradikale und damit der Anerkennung der Autorität deutscher Gerichte entscheidende Bedeutung zugemessen werden muß, spricht vor allem gegen die Linke: Gegen eine mundtote liberale Linke, die ihre humanitären Werte zugunsten des Standortes an den Nagel gehängt hat, aber auch gegen eine radikale und militante, die in Organisations- und Handlungsunfähigkeit sowie internen Streitereien verhaftet bleibt.

Mit einem Freispruch, der im wesentlichen einigen wenigen antifaschistischen Gruppen und der Verteidigung zu verdanken sein wird, verliert Deutschland somit ausgerechnet vor einem hauseigenen Gericht sein Alibi. Das wäre, betrachtet man die aktuellen Kräfteverhältnisse und die Ausgangssituation, dennoch ein Erfolg. Schließlich hätte man angesichts hiesiger Justizroutine davon ausgehen müssen, daß Safwan Eid umstandslos verurteilt worden wäre, hätte es diesen energischen Einsatz nicht gegeben. Dennoch läuft die radikale Linke einmal mehr Gefahr, zum Feigenblatt des bürgerlichen Rechtsstaates zu werden. »Gerechtigkeit« und die Überwindung rassistischer Strukturen bleiben innerhalb der Logik warenproduzierender Gesellschaften eine Fiktion.