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junge Welt, Dienstag, 3. September 1996, Nr. 206, Seite 3, ansichten

K O M M E N T A R

>> Was tun?

Grevesmühlen: Es war das Verdienst der kleinen Demonstration vom Sonnabend, fast alle »brennenden Fragen der Bewegung« (Lenins Untertitel zu »Was tun?«) bearbeitet zu haben und so - ganz im Sinne des Russen - die Grundlagen für einen neuen linken Anlauf zu schaffen:

1. In welcher Gesellschaft leben wir? Grevesmühlen erinnert an Arthur Millers »Hexenjagd« oder an Faßbinders »Katzelmacher«. Das kleinbürgerlich-dörfliche Milieu schützt vier Tatverdächtige des Lübecker Brandanschlages, die zahlreichen Beteiligten der Rostocker Pogromnächte von 1992. Es ist genau die Mischung aus aktiven Tätern (fünf Prozent), wohlwollenden Gaffern und desinteressierten Wegsehern (95 Prozent), wie sie auch von der sog. Reichskristallnacht bekannt ist. In diesem Sinne ist der These von der Kontinuität der Volksgemeinschaft zuzustimmen. Allerdings gibt es in den Großstädten nach wie vor ein dissidentes Potential. Nur: Solange die dissidenten Großstädter von der Gleichschaltung und dem völkischen Exorzismus auf dem Land nichts wissen wollen, wird der Marsch in die »eindimensionale Gesellschaft« weitergehen.

2. Wo steht der Feind? Selbstverständlich entsteht die Volksgemeinschaft nicht von selbst, sondern erst durch die Kumpanei der Polizei mit den Nazis. Würde der Staat gegen rechts durchgreifen, würden sich die 95 Prozent Mitläufer neu positionieren - nach diesem Schema funktionierte der DDR-Antifaschismus, immerhin. Bei aller Kritik an der BRD-Staatsgewalt läßt sich aber nicht übersehen, daß die aktuelle rechte Offensive in Mecklenburg-Vorpommern - im Unterschied zur Anti-Asyl-Kampagne 1992/93 - spontan entstand, ihre Stichworte nicht aus Bonn oder Schwerin erhielt. Die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung hat ihre sozialen Unterschiede zurückgestellt und ist bereit, den »Standort Deutschland« militant zu verteidigen.

3. Wer ist das revolutionäre (bescheidener: das antifaschistische) Subjekt? Die PDS? Mit Sicherheit nicht. Sie hat sich nicht nur in Grevesmühlen, sondern auch in Wurzen und Hoyerswerda nachprüfbar opportunistisch gegenüber der Faschisierung verhalten, weil sie einen Gutteil ihrer Wählerstimmen aus dem rechten Milieu bekommt. Das Proletariat? Vielleicht irgendwann. Auf absehbare Zeit gilt: Angesichts der deutschen Zustände ist jede linke Orientierung auf Bevölkerungsmehrheiten oder Massenpolitik vielleicht irgendwann ein Plädoyer für das Anschleimen an den Zeitgeist. Statt dessen käme es auf den Aufbau einer buntscheckigen Sperrminorität an, die den Stammtisch-Faschismus (nicht nur Staat & Kapital) exemplarisch attackiert.

Die Demonstration vom Wochenende hat die Nazi-Idylle in MeckPomm aufgeschreckt: Die Rechten beschuldigen sich gegenseitig - und die paar Aufrechten im Landkreis wissen jetzt, wer mit ihren Informationen seriöser arbeitet als die Polizei. Alles spricht dafür, diesen Effekt durch eine weitere Demonstration noch zu verstärken.

Jürgen Elsässer