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junge Welt, Sonnabend/Sonntag, 20./21. Januar 1996, Nr. 17, Seiten 2/3, ansichten

>> Lübeck: Welche Konsequenzen sollten aus der Katastrophe gezogen werden?

> Gespräch mit Kerstin Müller, Fraktionssprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag

F: Die Grünen bezeichnen die Lübecker Katastrophe - im Unterschied zu den anderen Parteien - als Anschlag. Warum?

Die Bundestagsfraktion hat sich da etwas zurückhaltender geäußert, die Ursachen der Brandkatastrophe sind schließlich noch nicht aufgeklärt. Das eigentlich Schlimme ist aber doch, daß jeder davon ausgeht, es könnte ein rechtsradikaler Anschlag gewesen sein. Deswegen müssen politische Konsequenzen gezogen werden, ganz unabhängig von der weiteren polizeilichen Ermittlungsarbeit.

F: Welche?

Die Asylgesetzgebung darf nicht so bleiben. Seit der Änderung des Asylrechts durch die Bundesregierung ist der Rassismus nicht zurückgegangen, die Gleichung »Weniger Asylbewerber = weniger Rassismus« ist absurd, sie konnte nicht aufgehen. Das Rechtsstaatsprinzip ist in der Asylpolitik nahezu aufgehoben, stattdessen wird eine gnadenlose Abschottung praktiziert. Im Konkreten müßten wenigstens die Kommunen in die Lage versetzt werden, die Flüchtlinge human unterzubringen. Das angezündete Heim in Lübeck liegt in einer menschenleeren Gegend am Hafen, kein Wunder, daß hier etwas passiert ist.

F: Die Staatsanwaltschaft hat die festgenommenen Verdächtigen freigelassen, obwohl der Tatverdacht nicht letztendlich ausgeräumt werden konnte. Ist das nicht verrückt?

Wir hatten heute früh ein Gespräch mit Staatsanwaltschaft und Polizeiführung, und sie haben uns glaubhaft versichert, daß der Anfangsverdacht gegen die drei Verhafteten sich nicht bestätigt hat. Nach deutschem Recht müssen sie demzufolge freigelassen werden. Wir dürfen auch nicht in Hysterie verfallen und jetzt der Polizei unterstellen, sie habe keinen ernsthaften Ermittlungswillen. Außerdem ist es für mich etwas komisch, wenn jetzt alle auf die Inhaftierung und Aburteilung eines oder mehrerer Schuldigen starren. Dabei wird ausgeblendet, daß rechtsextremistische Anschläge gesellschaftliche Ursachen haben.

F: Der Bürgermeister von Lübeck, Michael Bouteiller (SPD), hat zu zivilem Ungehorsam aufgerufen: Illegale Asylbewerber sollten aufgenommen und versteckt werden. Wird Ihre Partei das durch einen Aufruf unterstützen?

Ich bin in jedem Fall dafür. Wir haben bisher schon die Kirchen unterstützt, die Flüchtlingen vor drohender Abschiebung Unterschlupf gewährt haben. Solange die Asylgesetzgebung so bleibt, wie sie ist - fast ohne jede Spur von Rechtsstaatlichkeit - ist ziviler Ungehorsam der einzige Ausweg.

Interview: Jürgen Elsässer