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Fri Sep  4 00:08:33 1998
 

Datum: 27.06.1997
Ressort: Blickpunkt
Autor: Bo Adam

 
Wir sind doch hier nicht in Holland
Nach dem Ende des Lübecker Brandprozesses droht den Bewohnern des Hauses Hafenstraße 52 die Abschiebung

Vergnügt stürmt Nora in die kahle Neubauwohnung.
Ihre drei Dutzend Zöpfchen tänzeln auf dem Kopf, während sie vom Tag im Kindergarten erzählt.

Kurz schaut der große Bruder durch die Tür, bevor er zum Box-Training geht.Die Mutter nickt ihm zu, dann schaltet sie ihre Lieblings-Vorabendserie ein.Alltag in Lübeck.Eine Familienidylle.

Nicht ganz: Zu Weihnachten schenkte Nora ihrer Mutter ein selbstgemaltes Bild. Es zeigt eine Frau, die ein Kind aus dem Fenster wirft. Das Kind ist Nora, die Frau ist die eigene Mutter."Sie kommt von dem Schock nicht los", sagt Marie Agonglovi, "immer wieder fragt sie mich, warum ich das getan habe?".

Marie Agonglovi hatte nicht allzu viele Möglichkeiten, ihre Kinder zu retten, damals in der Brandnacht des 18.Januar 1996.Kaum schrie jemand laut "Feuer", da hüllte bereits dicker Qualm die Räume des Hauses Hafenstraße 52 ein. Wer nicht sprang, verbrannte. Wer sprang, starb, als er auf dem Pflaster aufschlug. Oder brach sich die Knochen. Als wäre es gestern, erinnert sich Marie Agonglovi an die entscheidenden Minuten: "Ich öffnete die Tür zum Flur, im Nu war das Zimmer voller Rauch."Plötzlich sah sie ihre kleine Tochter Nora in dem Raum nicht mehr, sie schrie nach ihr. Gemeinsam stolperten sie schließlich zum Fenster. Marie Agonglovi hatte vergleichsweise Glück. Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Und unten warteten bereits Hausbewohner, um die Kinder und sie aufzufangen. Nora ist deshalb nichts passiert. Rein äußerlich gesehen.

Ein neues Leben? Nach dem Brandanschlag erhielten die Überlebenden eigene Wohnungen in Lübeck. Möbel wurden gespendet. Marie Agonglovi hat ein neues Familienalbum eingerichtet. Mit Fotos aus dem letzten Jahr. Andere besitzt sie nicht. Für sie hat die Floskel "ein neues Leben beginnen" einen ganz konkreten Inhalt. Aber immerhin kann sie ein neues Leben beginnen. Sie lernt Deutsch.

Als einzige Überlebende aus der Hafenstraße hat die Togolesin mit ihren Kindern ein Bleiberecht als politischer Flüchtling. Die anderen Opfer der Brandkatastrophe werden von den Behörden lediglich in irgendeiner Form geduldet. Wie zum Beispiel Sylvere Atty. Der junge Westafrikaner mußte ebenfalls aus dem Fenster springen, erlitt Beinbrüche und verletzte sich die Wirbelsäule. Noch heute trägt er, wie er sagt, "Eisenstangen" in seinem Körper. Irgendwann sollen sie wieder herausoperiert werden. Beim Brand verlor Sylvere Atty seinen Cousin Sylvio Amoussou."Seitdem ist Sylvere Atty psychisch fertig", sagt Bacar Gadji, der Vorsitzende der Afrikanischen Gemeinschaft in Lübeck.

Noch schlimmer als Sylvere Atty ergeht es Jean-Daniel Makodila aus Zaire, der Frau und Kinder verlor. Zu Beginn des Brandprozesses nahm Jean-Daniel Makodila noch an den Verhandlungen teil. Eines Tages brach er röchelnd zusammen. Er hielt die Beschreibungen des Brandes nicht mehr aus. Seitdem meidet er das Gericht. Er lebt allein in einem riesigen anonymen Hochhauskomplex.

Pastor Iver Rinsche vom Diakonischen Werk Lübeck, der sich von deutscher Seite um die Flüchtlinge sorgt, hat bittere Worte übrig für die Behandlung der Hafenstraßenbewohner."Was nützt es, sie dezentral unterzubringen, neben deutschen Nachbarn? Wie sollen die Opfer vergessen, wie sollen sie sich integrieren, wenn sie alle paar Monate ihre vorläufige Aufenthaltsgenehmigung bei der Ausländerbehörde erneuern müssen?" fragt er. Keine "Präzedenzfälle" Solange der Prozeß um den Brandanschlag dauert, sind die Überlebenden wenigstens vor sofortiger Abschiebung geschützt. Bis zum Abschluß der Beweisaufnahme mußten sie als Zeugen zur Verfügung stehen.

Doch jetzt, nach dem angekündigten Freispruch für den Hausbewohner Safwan Eid, der am nächsten Montag erfolgen wird, naht ihre letzte Stunde in Deutschland. Im August läuft die Duldung aus. Es sei denn, die Bundes- und Landespolitiker in Bonn und Kiel haben ein Einsehen. Pastor Rinsche wagt nicht mehr, an christliche Nächstenliebe zu glauben."Wir sind ja hier nicht in Holland", sagt er wütend. Dort, in denNiederlanden, erhielten alle Überlebenden nach dem Absturz eines Flugzeuges in ein von Ausländern bewohntes Hochhaus unbürokratisch eine Aufenthaltsgenehmigung. Egal, welchen Status sie vorher hatten. Eine humanitäre Geste nach dem Inferno. Iver Rinsche: "Aber hier hat sich Innenminister Kanther offenkundig festgelegt: Es dürfen keine Präzedenzfälle geschaffen werden." Die Brandkatastrophe in der Hafenstraße als Präzedenzfall?

An Lübecker Stammtischen wird der ungeheuerliche Gedanke zu Ende gesponnen."Na klar, die Asylbewerber haben das Haus doch selbst angezündet, damit sie was Besseres bekommen", behauptet ein Biertrinker, der bei Alis Imbiß im Stadtteil Lübeck-Buntekuh eingekehrt ist. Sein Nachbar nickt. Die Umstehenden schweigen. Sie schweigen auch, als der Wortführer kein Erbarmen zeigt: Die Überlebenden der Hafenstraße gehörten abgeschoben, sagt er, egal, was sie an Schrecklichem erlebt hätten. Es seien nun einmal zu viele Ausländer in Deutschland. "Sollte es eine gesetzliche Regelung für die Flüchtlinge geben, wäre es zu akzeptieren", sagt Lübecks CDU-Vorsitzender Thorsten Geißler kühl. Und wenn nicht? Dann nicht! "Wir leben nun mal in einem Rechtsstaat." Lübecks Bürgermeister Michael Bouteiller hofft auf eine Regelung."Das Ausland schaut doch zu, wie wir mit diesen Menschen umgehen", sagt er, "wenn die Politiker es wirklich wollen, finden sie einen Ausweg."

Wie der Ausweg aussehen soll, kann Bouteiller auch noch nicht sagen. Er selbst hat keine Befugnisse. Wenig Unterschriften Der sozialdemokratische Bürgermeister wurde bereits vom sozialdemokratischen Innenminister des Landes Schleswig-Holstein mit einer Disziplinarstrafe belegt, weil er im vergangenen Jahr einigen Flüchtlingen auf eigene Faust Reisedokumente ausstellte, damit sie ihre toten Angehörigen in der Heimat begraben und danach zurückkehren konnten."Das Grundgesetz verbietet menschenunwürdiges Verhalten", sagt Bouteiller.

Wieviel Unterstützung er in seiner Stadt für sein Engagement findet, weiß er selber nicht. Von Lübecks rund 220 000 Einwohnern unterschrieben bisher nur 3 000 einen Aufruf, in dem das Bleiberecht für die nicht einmal 40 Opfer gefordert wird."Was läuft in diesem Land bloß schief?" fragt sich Michael Bouteiller laut und repetiert zunächst Zahlen: 15 Prozent Arbeitslose in Lübeck, 20 000 Menschen, die von Sozialhilfe leben, 45 Prozent Singlehaushalte. Die Gesellschaft, die menschlichen Beziehungen atomisieren sich.

Versteckt in einem Lübecker Vorort wohnt die Familie Eid. Vielköpfig drängeln sich die Familienmitglieder am kleinen Abendbrottisch. Wie so oft dreht sich das Gespräch um den Prozeß.Und um die Zeit danach. Auch die Eids sind von Abschiebung bedroht."Die deutschen Behörden werden sich nicht trauen, uns hinauszuwerfen", ist Familienoberhaupt Marwan Eid überzeugt.
Warum nicht?"Sie müssen uns schließlich dankbar sein", sagt er sarkastisch, "die Anklage gegen Safwan Eid hat doch von den wahren Brandstiftern abgelenkt."Safwan Eid übersetzt geduldig ins Deutsche, was der Vater sagt.
Was er nach dem Freispruch selbst machen wird, weiß er noch nicht.
Fast ein halbes Jahr in Untersuchungshaft und neun Monate Prozeß haben aus dem schüchternen jungen Mann einen nachdenklichen Erwachsenen gemacht."Ich will mich entscheiden, wenn alles vorbei ist", sagt Safwan Eid.
Aber vielleicht ist alles noch nicht so schnell vorbei.
Staatsanwalt Michael Böckenhauer deutet an, er wolle in die Revision gehen.
Das würde womöglich bedeuten, daß der Hafenstraßenbrand-Prozeß neu aufgerollt wird.
Ironie der Geschichte: Eid und die anderen Opfer des Brandanschlages könnten vorerst weiter im Land bleiben.
Denn sie müßten der deutschen Justiz zur Verfügung stehen.