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Datum: 24.10.1996, Berliner Zeitung
Ressort: Reporter
Autor:Bo Adam

Richter Wilckens größter FallRichter Wilcken
Der Lübecker Brandprozeß ist längst zum Politikum geworden - kein einfaches Verhandeln für den Vorsitzenden

Ein paar Minuten vor 9 Uhr öffnet sich unauffällig eine Tür hinter dem Richtertisch, und ein Mann mit müdem Gesicht blinzelt mißmutig in den Raum. Dann schlurft der Mann heraus, spricht ein paar Worte mit der Protokollführerin und trottet wieder zurück hinter die Tür. Der Auftritt erinnert an den eines Familienvaters, der am Wochenende viel zu früh aus dem Bett gescheucht wurde. So beginnen die Tage im großen Saal des Lübecker Landgerichts. Kurz darauf hat der Vorsitzende Richter Rolf Wilcken seine Erscheinung ein wenig geändert. Der 52jährige trägt jetzt die schwarze Robe über Hemd und Jeans, als er gemeinsam mit seinen beiden Richterkollegen wieder den Saal betritt. Die Anwesenden erheben sich kurz, wie es das Ritual verlangt. In das Stühleknarren hinein nuschelt Wilcken seine Eröffnungsformel: "Verhandlung fortgesetzt. Anwesend sind " Kurz schweift sein Blick über die Stuhlreihen der Verteidigung, der Staatsanwälte und der Nebenkläger. Auch als Ruhe einkehrt, ist der Vorsitzende im Saal kaum zu verstehen. Mürrisch schiebt er das vor ihm aufgestellte Mikrophon hin und her, wenn er spricht. So als wolle er auf diese Weise den Zuschauern und Journalisten zu verstehen geben, daß er von ihrer Anwesenheit nichts, rein gar nichts hält.

Hohe Haftstrafe droht Dabei ist das öffentliche Interesse an diesem Fall nur allzu berechtigt. Angeklagt ist der Libanese Safwan Eid. Er soll, so vertritt es die Staatsanwaltschaft, in der Nacht zum 18.Januar 1996 das Ausländerheim in der Lübecker Hafenstraße 52 angezündet haben. Bei der Katastrophe kamen zehn Menschen ums Leben. 38 der rund 50 Einwohner wurden verletzt, einige schwer. Es ist der schlimmste und folgenreichste Brand der letzten Jahre in einem deutschen Asylbewerberheim. Sollte Safwan Eid schuldiggesprochen werden, drohen ihm zehn Jahre Haft, vielleicht sogar lebenslänglich.

Doch nicht nur die Verteidigung hat ihre Zweifel, ob hier der Richtige angeklagt ist. Von der TAZ bis zur FAZ hagelte es bereits Kritik an den Ermittlungen des Staatsanwalts Böckenhauer. Die Indizien gegen Safwan Eid scheinen dünn. Dazu kommt die Zurückhaltung der Anklagevertreter gegenüber vier verdächtigen Jugendlichen aus der mecklenburgischen Stadt Grevesmühlen, die zumindest Kontakte ins rechtsradikale Milieu haben. Sie waren am Morgen nach der Brandnacht verhaftet worden, wurden aber wieder freigelassen, obwohl drei von ihnen frische Brandspuren im Gesicht trugen. Längst ist der Prozeß zu einem Politikum geworden. Die einen glauben an die Unschuld von Safwan Eid und an die Schuld der Grevesmühlener. Für den Angeklagten bildeten sie ein Unterstützerkomitee. Von Zeit zu Zeit demonstrieren sie vor dem Gerichtsgebäude mit Transparenten: "Schluß mit der rassistischen Justiz", fordern sie.

Die anderen agieren anonym vom rechten Rand der Gesellschaft aus. Es gab Drohbriefe und einen mysteriösen Einbruch in die Anwaltsräume der Verteidigerin Gabriele Heinecke zu Prozeßbeginn. Die Dritten hoffen leise auf eine Bestätigung ihres Weltbildes. Wie jener Rentner, der kaum einen Prozeßtag versäumt, weil er überzeugt ist, daß "die Ausländer meist selber schuld" sind. Zwischen all dem sitzt Rolf Wilcken und versucht, das jetzige Verfahren so wie jedes andere zu handhaben. Doch diesmal ist es einfach anders. Wilcken steht im Rampenlicht wie nie zuvor. Ein paar Fehler - und die Vorwürfe werden auch auf ihn niederprasseln. Daß er diesen Prozeß leitet, ist reiner Zufall. Als die Verteidigung ein Dokument vorlegte, wonach Safwan Eid im Januar nur 20 Jahre alt war, wurde das Verfahren der Lübecker Jugendkammer übertragen und damit Richter Wilcken. Seine erste Aktion war, den Angeklagten auf freien Fuß zu setzen, weil die Anklageschrift der Staatsanwälte seiner Meinung nach in vielen Punkten nicht überzeugend war. Die zweite war, dennoch das Verfahren gegen Safwan Eid zu eröffnen.

Ein Skandal Für Rolf Wilcken ist dieser Prozeß sein bislang bei weitem größter Fall. Anfang der 90er Jahre kam er zum Lübecker Gericht. Davor hatte er in Schleswig Zivilstreitigkeiten geschlichtet. In Lübeck richtete er über Messerstecher und Amokfahrer. Mehrfach mußten sich Skinhead-Gruppen für Schlägereien und Überfälle auf Deutsche und Ausländer vor ihm verantworten. Sie kamen meist glimpflich davon. Zum Skandal geriet Wilckens mildes Urteil gegen einen Familienvater, der sich an einem zehnjährigen Mädchen sexuell vergangen hatte, dann aber Reue zeigte: Zwei Jahre auf Bewährung. Die Entscheidung löste einen Sturm der Entrüstung in den Leserbriefspalten der Lokalpresse aus. Das Urteil wurde vom Bundesgerichtshof kassiert, die Strafe schließlich - durch einen anderen Richter - verdoppelt. Ein anderes Urteil - wegen Körperverletzung - geriet nach Auffassung der Bundesrichter zu hart."Seitdem ist Wilcken noch scheuer als zuvor", sagt ein langjähriger Lübecker Prozeßbeobachter. In der Tat, nicht einmal sein Geburtsdatum gibt Rolf Wilcken den Medien preis, erst recht nicht wichtigere Details aus seinem Leben. Die Kollegen am Landgericht schweigen solidarisch. Strafverteidiger, die früher mit ihm zu tun hatten, sind sich unschlüssig: "Wenn er hinlangt, tut er es gründlich", sagt einer von ihnen, der "nicht gerne zu ihm" geht. Zu ungewiß sei, was dabei herauskomme."Immerhin gehört Wilcken zu keiner der alteingesessenen Lübecker Cliquen", sagt ein anderer. Er sei ein Außenseiter, ein Eigenbrötler - und damit ziemlich unabhängig. Der Mann, der in seiner Freizeit Haflinger züchte, engagiere sich politisch nicht: "Irgendwie ist er eine Sphinx."Eine Sphinx? Bisweilen agiert Rolf Wilcken eher wie Kleists Dorfrichter Adam. Er beschimpft die Zuschauer, wenn sie ihm zu laut sind: "Machen Sie sich draußen wichtig!"Und er droht, jeden, "egal welcher Nationalität oder Rasse", hinauszuwerfen, der die Verhandlung stört."Rasse!" empört sich ein Anhänger von Safwan Eid, "er hat , Rasse` gesagt." Journalisten, die die schlechte Akustik im Landgericht bemängeln, schleudert Rolf Wilcken entgegen: "Bin ich hier der Haustechniker?"Zeugen fragt er locker: "Schwören Sie mit oder ohne Gott?"Der Verteidigung verspricht er: "Wenn Ihre Ausführungen zu lang werden, werde ich Sie unterbrechen."Und als ein Nebenklagevertreter eine Nachfrage hat, ruft er unwirsch dazwischen: "Das hat der Zeuge doch bereits alles erzählt."Anträge der Staatsanwälte wie der Verteidigung fegt er vom Tisch, wenn sie seiner Meinung nach auf juristische Geplänkel hinauslaufen."In Lübeck gilt die deutsche Strafprozeßordnung nur bedingt", kommentiert ein beteiligter Jurist das Agieren des Richters.

Die richtigen Fragen Die meiste Zeit sitzt Rolf Wilcken schweigend in seinem Sessel. Er macht sich kaum Notizen, spielt mit seiner Brille, faltet die Hände vor dem Gesicht, blinzelt in die Runde, schaut wie abwesend über das Holzmodell des Brandhauses hinweg, das zwischen Richtertisch und Zeugenstand aufgestellt ist. Doch der Eindruck, er sei unbeteiligt, täuscht. Wilcken kennt die Akten genau. Und plötzlich stellt er wieder hartnäckig exakt die Fragen, die in diesem Prozeß zu stellen sind: Wo hat es wann gebrannt? Zuerst im Erdgeschoß oder zuerst im 1.Stock des Hauses? Und wenn, wo dort? Etwa an mehreren Stellen gleichzeitig? Können Flammen die Steintreppe in das Erdgeschoß "herunterlaufen"? Von den Antworten auf diese Fragen hängt schließlich ab, wie wahrscheinlich ein Anschlag von außen oder aber eine Brandstiftung von innen sind. Rolf Wilcken versucht dort nachzubohren, wo die Staatsanwälte es nicht taten; oft stellt er dieselben Fragen wie die Verteidiger Safwan Eids. Wilcken zeigt sich dabei geduldig, denn er weiß, daß nach über einem halben Jahr das Gedächtnis mancher Zeugen nachläßt. Einige widersprechen sich oder dem, was sie früher bei der Polizei zu Protokoll gaben. Der Richter läßt nebenbei auch die Alibis der Grevesmühlener Jugendlichen überprüfen, obwohl das formal gesehen mit dem jetzigen Prozeß nichts zu tun hat. Doch es dient der Wahrheitsfindung. Sicher scheint zu sein, daß zumindest ein Jugendlicher gelogen haben muß, als er der Polizei die angebliche Herkunft seiner Brandspuren erklärte. An die 50 Menschen wurden bereits im großen Saal des Lübecker Landgerichts zu den Ereignissen in der Januar-Brandnacht gehört. Bis weit in den November hinein reicht die vorläufige Liste für die Vorladung weiterer Zeugen. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Auch die wichtigen Expertisen der Brandgutachter stehen noch aus. Den Vorwurf, in diesem politisch sensiblen Prozeß nicht gründlich gewesen zu sein, möchte sich Rolf Wilcken offenkundig nicht einhandeln. Er hat sich auf ein langes Verfahren eingestellt.

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