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Berlin 31. August 05
„Ich weiss noch was, dreht sie mal auf den Bauch dafür.“

umgang mit repression und traumatisierungen
Seit Genua 2002 ist die traumatisierende Wirkung von erlebter und beobachteter Polizeigewalt, von lebensbedrohlich erfahrenen Situationen und von Demütigungen nach Festnahmen in der radikalen Linken ein Thema geworden. Eine Sensibilisierung für die eigenen Erfahrungen und in der Unterstützung von Betroffenen findet allmählich statt. So wurde z.B. durch das Dissent-Netzwerk in der G8-Mobilisierung 2005 nach Schottland/Gleneagles Traumatisierung zum ständig begleitenden Thema der Vorbereitungen gemacht - vergleichbar mit der Bereitstellung von Rechtshilfe und der Information zum Verhalten nach Festnahmen. Möglicherweise traumatisierend wirkende Erfahrungen gehören auf die eine oder andere Art immer wieder zum Leben von politischen AktivistInnen, da wir uns mit politischen Konfrontationen auch möglichen Gewalterlebnissen aussetzen.

Und doch: Für Betroffene ist es immer noch schwer, die Wirkungen traumatisierender Erfahrungen anzuerkennen, sie in den politischen Zusammenhängen als solche zu benennen und entsprechende Unterstützung zu erhalten. Da sind die Zweifel: „anderen ist schon Schlimmeres passiert“, „ich bin zu wehleidig und will Mitleid einheimschen“, „ich habe mich vielleicht falsch verhalten und was Dummes getan“ oder „das muss ich wegstecken, weil es doch klar ist, dass von den Bullen nichts anderes zu erwarten ist“ etc. Solche Zweifel werden durch die nicht ausreichende Sensibilisierung verstärkt und verschlechtern die Bedingungen für eine gute Verarbeitung der traumatisierenden Erlebnisse. Es ist wichtig, die aussergewöhnlichen persönlichen Reaktionen auf die erlebte Gewalt anzuerkennen als etwas Normales/Angemessenes auf eine Situation, die absolut nicht normal ist. Und diese Reaktionen können verschieden sein und folgendes einschliessen: innere Unruhe, Schlafstörungen, Gereiztheit, Kummer, Rückzug, Konzentrationsschwierigkeiten, immer wieder an die Gewaltsituation denken zu müssen, durcheinander sein, die Geschichte immer wieder oder auch garnicht mehr erzählen zu wollen, Alpträume, Wiederauslösung der Angst durch bestimmte Reize etc. In so einer Lage kannst du zwangsläufig nicht „funktionieren“ wie sonst und nicht die gleichen Aufgaben im Beruf, Ausbildung, Politik, Familie, Freundeskreis wahrnehmen. Das ist manchmal nicht einfach sich einzugestehen und kann uns bei wichtigen Projekten und in Verantwortungsbereichen zurückwerfen und blockieren.

Aktuell haben wir die Erfahrung gemacht, dass so ein traumatisierendes Erlebnis auch dort eintreten kann, wo wir überhaupt nicht damit rechnen. Am 31.08.05 hatte die NPD einen Aufmarsch in Neukölln angemeldet (aus Anlass des SPD-Parteitags). Zahlreiche Gegenkundgebungen wurden in Neukölln angemeldet und Stadtteilinitiativen entstanden aus Protest gegen die Präsenz faschistischer und rassistischer Propaganda durch die NPD in Neukölln. Dem Aufruf einer solchen Initiative folgend trafen sich ca. 50 antifaschistisch Motivierte zum gemeinsamen öffentlichen Frühstück und machten sich gegen 1/2 11 Uhr auf den Weg Richtung Zentrum des Geschehens (und angemeldeter Kundgebungsorte). Mit Parolen und einem, später zwei Transparenten zeigten sie antifaschistische Präsenz in Neuköllner Straßen - bis sie kurz vor einem Kundgebungsort (der WASG) am S-Bahnhof Neukölln auf der Karl-Marx-Straße durch die Polizei gestoppt wurden. Nach kurzem Gespräch begaben sich die inzwischen ca. 100 Personen auf den Gehweg bzw. bewegten sich in verschiedene Richtungen, u.a. zur U-Bahn, auseinander. In dieser äußerst harmlos anmutenden Situation wurden unerwartet 21 Personen auf dem Gehweg durch die Polizei festgehalten. Und damit begann ein Tag voller Willkür, überzogenen Maßnahmen und (in einigen Fällen) massiver Gewalt im Polizeigewahrsam für diese 21 und eine weitere Person, die zu Boden geworfen und in Handschellen festgenommen wurde, nachdem ihr ein Zettel mit den Namen der Eingekesselten zur Weitergabe an den EA überreicht worden war. Hier einige Stichpunkte: Nicht eingehaltene Zusagen (nach der Personalienfeststellung könnten sich alle zu den angemeldeten Kundgebungsorten begeben), keine oder falsche Informatioen (z.B. zum Grund der Gewahrsamnahme oder bezüglich der - nicht erfolgten - Versorgung mit Essen), Leibesvisitationen mit Ausziehen bis auf die Unterhose, Einsperren in Einzelzellen - nicht nur ohne persönliche Gegenstände, ohne Haargummi oder Schnürsenkel bzw. Schuhe, sondern in mindestens einem Fall darüber hinaus in ausgehändigten Kleidungsstücken -, Verbot zu telefonieren, Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung (ED) bei sechs der Festgenommenen, obwohl von allen die Personaldaten per Ausweis vorlagen.

Die ED (Fingerabdrücke, Fotos, Körpergröße) wurde gegen den Widerspruch der Betroffenen durchgeführt, auch da, wo diese Maßnahme zu keinen neuen Daten führte, da Fingerabdrücke und Fotos bereits vorher erstellt worden waren. Die Maßnahme war Schikane und wurde als Raum zur Ausübung massiver Gewalt ausgenutzt. Eine Gruppe von 6-7 Männern in Zivil wartete bereits auf eine Person und probierte in einer unnötig (bezogen auf die Abnahme von Fingerabdrücken) in die Länge gezogenen Prozedur nacheinander diverse, vermutlich bei speziellen Schulungen vermittelte Techniken aus, die Schmerzen erzeugen ohne viel sichtbare Spuren zu hinterlassen und die eine extreme Bedrohungslage schaffen, u.a. durch massiven Druck auf den Kopf und andere empfindliche Körperstellen und durch die Erzeugung von Erstickungsangst durch Pressen des Gesichts gegen den Boden und zwischen Knie sowie durch das Zuhalten der Nase. Über Schmerzen und Körperschädigungen (wie unkontrollierbar gefühllose und verkrampfte Hände aufgrund von Nervenschäden) wurde gelacht, auf Hilferufe nicht reagiert, mit Drohungen „gespielt“. Die Person in Polizeigewahrsam wurde zum Objekt der Erprobung von Foltertechniken wie sich auch in der Aufforderung eines der Agierenden zeigt: „Ich weiss noch was, dreht sie mal auf den Bauch dafür.“ Ihr wurde auf viele Weisen vermittelt, dass sie dort ohnmächtig ist zu kontrollieren oder auch nur einzuschätzen, was mit ihrem Körper gemacht wird oder wie lange diese Quälereien andauern werden.

Traumatisierungen treffen zunächst immer die/den Einzelnen. Je nach vorherigen Gewalt-/Repressionserfahrungen und der guten oder fehlenden Verarbeitung und vielen anderen individuellen Lebenserfahrungen wird die Wirkung und der Umgang damit sehr verschieden sein. Dem Umfeld der Betroffenen und den politischen Bewegungen kommt jedoch immer eine Verantwortung bei der Bewältigung solcher Ereignisse zu. Für viele politische AktivistInnen häufen sich im Laufe der Jahre die Erfahrungen von Repression und Gewalt, und jedes neue Erlebnis ruft die Erinnerungen wach, was die Wirkung des aktuell Erfahrenen verstärken kann. Ob physische oder psychische Folgen von Gewalt und Bedrohungen - beides braucht einen Gesundungsprozess. Sich Zeit zu nehmen, um eine belastendende Erfahrung zu verarbeiten, und andere dabei zu unterstützen sollte als politische Handlung verstanden werden. Es gibt kein objektives Maß für das, was uns aus der Bahn reisst. Und es geht nicht, im Umgang mit einer Gewalterfahrung von sich auf andere zu schließen. In jedem Fall ist es wichtig, damit nicht allein zu sein.

Oft ist es so, daß nicht direkt Betroffene, die von Repressions- und Gewaltereignissen in ihrem Umfeld hören, vermeiden, diese zu nahe an sich heran zu lassen, was guten Gesprächen im Wege steht. Die Angst, eigene traumatische Erfahrungen könnten bei der Auseinandersetzung mit Repression hoch kommen, steht häufig hinter dieser Abwehrhaltung. Solche unterschwelligen Mechanismen können wir uns bewußt machen. Neben den politischen Einschätzungen und Gegenmobilisierungen wie z.B. die Antifa-Gala am 16. September ist es für alle Betroffenen wichtig, ihre Erfahrungen in einem solidarischen Rahmen austauschen und bearbeiten zu können.




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