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Wed Dec  4 17:37:58 1996
 

Der Tod von Michael Newrzella



Der Tod des in Bad Kleinen erschossenen GSG 9-Angehörigen Polizeikommissar Michael Newrzella wurde von offizieller Seite sehr schnell und umstandslos Wolfgang Grams angelastet. Trotzdem wurden schon wenige Tage nach Bad Kleinen Vermutungen laut, er sei durch Querschläger aus Polizeiwaffen getötet worden. Das gründete darauf, daß Newrzella sehr schwere innere Zerreißungen erlitten hatte, wie sie auch Querschläger oder die von der GSG 9 verwendete Action-Munition verursachen. Dazu kam, daß Michael Newrzella auffallend schnell beerdigt wurde, womit auch eine Nachobduktion praktisch ausgeschlossen wurde. 1 Der Verdacht, daß auch hier etwas vertuscht werden soll, drängte sich auf. Überdies war das Bemühen der staatlichen Stellen unübersehbar, nicht auch noch für einen toten Polizisten geradestehen zu müssen. Stattdessen wurde versucht, mit dem Hinweis auf seinen Tod die kritischen Stimmen zu den Todesumständen von Wolfgang Grams zum Verstummen zu bringen. Aller Verdacht wurde später mit dem Züricher Gutachten beiseite gewischt, das die aus dem Körper Newrzellas herausoperierten Kugeln alle der Waffe von Wolfgang Grams zuordnete. Widerspruchsfrei belegt ist das aber nicht - wie auch einiges Anderes stutzig macht.
Newrzella wurde dreimal getroffen. Eine Kugel streifte ihn horizontal und schräg von der Seite kommend an der linken Gesäßpartie. Ob sie von vorne oder von hinten kam, wurde nicht untersucht. Eine Kugel wurde in seinem linken Unterschenkel gefunden, der Schußkanal beginnt auf der rechten Seite. Diese Verletzung korrespondiert mit einem horizontalen Durchschuß im rechten Oberschenkel in einer Höhe von 65 cm. Wahrscheinlich wurde Newrzella im Laufen getroffen, die Kugel durchschoß erst den rechten Oberschenkel und blieb dann im vom Laufen angehobenen linken Unterschenkel stecken. Die dritte und tödliche Kugel traf ihn von vorne oben in die Brust. Die beiden Kugeln, die später aus seinem Körper entnommen wurden, trafen ihn aus unterschiedlichen Richtungen: von der Seite und von vorne - und in unterschiedlichen Höhen: horizontal in 65 cm Höhe und von oben in 135 cm Höhe.
Der von oben kommende Brustschuß wird in der offiziellen Version der Ereignisse damit erklärt, daß Wolfgang Grams sich am Ende der Treppe umgedreht und die Treppe hinunter auf den ihn verfolgenden Newrzella geschossen habe. Newrzella sei sofort auf der Treppe zusammengebrochen. Diese Version war nicht haltbar, da die Treppe keinerlei Blutspuren aufwies, auf dem Bahnsteig vor der Treppe jedoch, wo Newrzella gelegen hatte, eine große Blutlache gefunden wurde. Dieser Widerspruch brachte das BKA zeitweilig in Verlegenheit.2 Die offizielle Version wurde dann dahingehend modifiziert, daß Newrzella, da er in vollem Lauf war, leicht vornübergebeugt von der Kugel getroffen worden sei, als er Wolfgang Grams schon fast erreicht gehabt habe. Dann hätten bei ihm allerdings die für einen Nahschuß typischen Schmauchspuren zu finden sein müssen - aber es wurde nicht nach ihnen gesucht.
Die beiden anderen Schußverletzungen an Beinen und Gesäß kann diese Version ebenfalls nicht erklären. Wolfgang Grams hätte absurde Verrenkungen ausführen müssen, um Newrzella einmal von vorne oben, gleich darauf seitlich in Gesäßhöhe und dann von der Seite etwas über Kniehöhe zu treffen. Es ist auch nicht vorstellbar, daß Wolfgang Grams noch weiter auf den schon tödlich verletzt vor ihm Liegenden geschossen hat. Er hätte nicht einmal die Zeit dazu gehabt. Es hat auch weder ein GSG 9-Beamter noch ein ziviler Zeuge etwas derartiges ausgesagt. Es gibt also keine vernünftige Erklärung dafür, daß alle Schußverletzungen aus einer Waffe stammen sollen. Bezeichnenderweise wird zu dem Schuß in die Beine, der mit beiden Versionen nicht in Einklang zu bringen ist, von offizieller Seite nichts gesagt.
Darüberhinaus ist es aber in keinem Fall richtig, daß Wolfgang Grams vom Ende der Treppe aus auf seine Verfolger geschossen habe. Das ergibt sich sowohl aus der Lage seiner Patronenhülsen als auch aus den Zeugenaussagen. Er hat erst vom Bahnsteig seitlich der Treppe aus geschossen. Damit ist aber auch die zweite Version des BKA widerlegt, da sie von einem Nahschuß ausgeht, Newrzella aber direkt vor der Treppe zusammengebrochen ist.

Die Züricher Gutachter haben dann beide aus dem Körper Newrzellas entnommenen Kugeln anhand individueller Spuren der Waffe von Wolfgang Grams zugeordnet. Das schien trotz aller Widersprüche im behaupteten Ablauf ein eindeutiger Beweis dafür zu sein, daß er Newrzella erschossen hat. Allerdings ist nicht sicher, daß es sich bei den in Zürich untersuchten Kugeln tatsächlich um die Kugeln handelt, die im Körper Newrzellas gefunden wurden. Das Rostocker Obduktionsgutachten beschreibt diese Kugeln nur grob. Ihm sind keine Fotos beigefügt. Ebenfalls findet sich in den sonst sehr penibel geführten Unterlagen kein Hinweis auf die Übergabe der Kugeln an das LKA Nordrhein-Westfalen, das sie dann an die Züricher Gutachter weiterleitete. Im Zusammenhang mit den Widersprüchen im offiziell "rekonstruierten" Tatablauf weckt das den Verdacht, daß die Kugeln aus Newrzellas Körper gegen andere ausgetauscht worden sein könnten.
Damit gäbe es auch eine einfache und überzeugende Erklärung dafür, warum auf der Treppe zu Bahnsteig 3/4 so ungewöhnlich viel Geschoßsplitter aus Wolfgang Grams' Waffe gefunden wurden. Rechnet man die zwei Kugeln dazu, die angeblich Newrzellas Körper entnommen wurden, dann liegt die Zahl der Geschoßsplitter im Bereich des Möglichen. Die Rekonstruktion der Geschoßteile zu drei Kugeln wurde vom WD Zürich vorgenommen. Sie wurde nicht fotografisch dokumentiert und von keinem anderen Gutachter überprüft. Ihr ist mit Mißtrauen zu begegnen.


Blick vom Treppenaufgang zu Bahnsteig 3/4 auf das Bahnhofsgebäude. Im Obergeschoß befindet sich eine Privatwohnung.

In der Folge stellt sich die Frage, woher der Schuß kam, der Newrzella getötet hat. Da Newrzella an erster Stelle lief, kann es sich nicht um einen Querschläger aus den Waffen seines Zugriffs-SETs gehandelt haben. Das neben Bahnsteig 3/4 liegende Bahnhofsgebäude bietet im 1. Obergeschoß Verstecke für Heckenschützen. Die dort Wohnenden mußten von den Schweriner Ermittlern erst darüber belehrt werden, daß es ihre Pflicht ist, als Zeugen auszusagen. In ihrer Vernehmung gaben sie dann, ohne daß sie danach gefragt worden wären, an, daß sie ihre Wohnung nicht zur Verfügung gestellt haben. 3
Denkbar wäre also, daß Newrzella in die Falle ging, die Wolfgang Grams galt - daß er ihm "im Eifer des Gefechts" zu nah auf den Fersen war und seinen Kollegen in die Schußbahn lief. Das wäre auch eine Erklärung für den Aufwand, mit dem alle Polizeibeamte - und also auch GSG 9 Nr. 4 - vom Bahnsteig 3/4 wegerklärt wurde. Wenn man bedenkt, welche politische Katastrophe es für die Polizei und ihre Dienstherren bedeuten würde, wenn sich herausgestellt hätte, daß die einzige wirkliche "Panne" in Bad Kleinen, der Tod eines Elite-Polizisten, auch auf ihre Kosten geht, versteht man, warum bei einer "sehr professionell vorbereiteten Aktion" (BKA-Präsident Zachert) der Vertuschungsapparat im Nachhinein derart ins Schleudern kam und sich bis auf die Knochen blamierte und bloßstellte.




  1. "Erstaunlich findet der Kripobeamte (von der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer PolizistInnen, d. V.) auch, mit welcher Eile der erschossene GSG 9 Beamte beerdigt wurde. (...) Es verwundert, daß man sich bei ihm der Beweislage so sicher ist, daß man ihn so schnell beerdigen konnte." Die Woche, 8.7.93
    "Ebensowenig wußte er (BKA-Präsident Zachert auf einer Pressekonferenz am 5.7.93 zur Vorstellung des BKA-Berichts, d. Verf.) vorerst eine Antwort darauf, wie der Beamte, der nach früheren Angaben noch auf der Bahnsteigtreppe von oben tödlich getroffen wurde, dann noch auf den Bahnsteig gelangte." Bild am Sonntag, 4.7.93
  2. taz 7.7.93
  3. Eine weitere Merkwürdigkeit ist die Präzision der Treffer, die Newrzella erhielt und die den Zonen entspricht, auf die Scharfschützen trainiert werden: in die Beine zwecksBewegungsunfähigkeit und in den zentralen Brustbereich.