nadir start
 
initiativ periodika Archiv adressbuch kampagnen suche aktuell
Online seit:
Wed Dec  4 17:37:44 1996
 

»Die letzte Version ist immer die gültige«

(Innenminister Kanther)

Hans Branscheidt



Man kann den mit der Untersuchung des Ereignisses von Bad Kleinen beauftragten Beamten, Polizisten und Staatsanwälten, liest man ihre endlos fortgeschrieben Geschichten dazu, irgendwann in ungeduldiger Empörung nachsagen, sie seien in einer mutwilligen Fahrlässigkeit mit den Dingen verfahren, die am Ende einfach kriminell ist. Es sind dies aber keine ordinären Kriminellen sondern Politiker, die sich nach Kräften mühten, einer Hauptaufgabe heutiger Politik zu entsprechen: die Bedingungen der Erkenntnis primärer Wirklichkeit außer Kraft zu setzen.

Keine Hungerrevolte auf der Welt, die nicht im Sinne der Behauptung von der Irrationalität der Betroffenen interpretiert werden müßte. Keine mafiotische Struktur in armen Ländern, Ergebnis der weltbankgeleiteten Verelendung und der damit verbundenen Sinnlosigkeit demokratischer lnfrastrukturen, die nicht als bloß kriminelles Phänomen erkennbar werden soll. Kein globaler Konflikt, der nicht aufwendig ethnisiert und tribalisiert werden müßte, damit man ihn verkennt.

Und insofern sind Politiker und ihre Agenturen wirklich mühsam und belastet unentwegt damit beschäftigt, Ursachen und Wirkungen gegeneinander austauschen zu müssen, also auch Tatsachen zu entwerten.
Das befördert nicht mehr nur die schlichte Lüge, um die es sich dabei sicher handelt, sondern meint harte Totalarbeit im Sinne politischer Hauptaufgabe.

Derart gerät die Sache auch, was Bad Kleinen betrifft, zu einem routinierten Arbeitsgespräch, wenn im Innenausschuß des Bundestages der Abgeordnete Lüder (FDP) laut-verzweifelt darüber klagt, daß die »Positionierung der Leiche (des Wolfgang Grams)« von Bericht zu Bericht ständig wechselt. Worauf der Angeordnete Gerster (CDU) ganz und gar nicht zynisch, sondern nur arbeitsbewußt erwidert: »Die Gleise (auf dem Bahnhof) haben sich verschoben«.
Damit haben sich und werden sich Untersuchungsausschüsse beschäftigen, die solchen Gleisverschiebungen keinen physikalischen Glauben schenken. Mich interessiert das weniger: Wolfgang Grams ist ermordet worden! Ob am Tatort selber und verursacht durch die dort Tätigen und die herrschenden Umstände und Bedingungen, oder im Rahmen des schon vorher angelegten Kalküls durch Dienste und Polizeien, die sich endlich selber aus ihrer eigenen spitzelgeleiteten Aktion einer operativ-politischen Maßnahme gegen die RAF auf finale Weise »befreien« wollten. Am Ende steht allemal der moralische Imperativ des Kanzlers und seiner Rede vor der GSG 9, die meint: »Wenn ihr schießt, dann schieße ich«.

Die Geschichte ist also nicht am Ende. Und die wahre Genesis beginnt immer am Schluß, der den Hölderlin-Satz eröffnet: »So viel Anfang war nie«. Das gilt für Wolfgang Grams - und keine Trauerrede, nichts von Nachruf.

Die Bezeichnung dessen, was Wolfang Grams bewegte, besteht inhaltlich im zutreffenden Verhältnis zur primären Wirklichkeit, nicht in erster Linie in seinen empirischen Taten. In der überhaupt nicht isolierten Übereinstimmung mit den Fragen aller anderen Menschen seiner Zeit: Wie kann ich würdig leben? Wofür lohnt es sich, einzutreten? Was ist Moral, was Recht? Welches Gemeinwesen führt zum Glück oder Unglück? Was bedeutet Mündigkeit und Entmündigung? Was ist Autonomie? Wie läßt sich dem Individuum, das innerlich so zerstört ist, die Treue halten?
Diese Fragen und Aufgaben sind nicht veraltet. Sie sind nicht gelöst. Sie harren noch der Lösung und müssen weiter bearbeitet werden - und liegen angeschossen auf dem richtigen Gleis. Sie haben nur große Mühe mit der gigantisch-totalitären Maschinerie ihrer Entwertung und Umdeklarierung, in der das Unwahre auch ganz förmlich zur Wahrheit werden soll.
Möglich wird Lösung dann, wenn das Ungelöste im Zusammenhang begriffen wird, wenn in geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhängen ein Begriff von ihnen entworfen wird, der die ganze Trostlosigkeit, aber auch die Hoffnung auf Veränderung beinhaltet. Für Wolfgang Grams war das Unabgegoltene ein Geltungsanspruch an die Gegenwart. »Nie war so viel Anfang«. Oder Friedrich Engels in seiner lauteren, der triftigsten aller Begründungen menschlich-politischer Tat: »Wir reklamieren den Inhalt der Geschichte!« Er meinte damit die Kommunisten.

Wolfgang Grams hat diesen Satz gehört und auch verstanden.