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Sun Sep 10 22:32:54 1995
 

Rundbrief 6

den 01.08.95 In der Reihe der 'Elwe'-Prozesse wurde am 19. Juni, nach insgesamt sechs Verhandlungstagen vor der VI. Strafkammer des LG-Kassel, ein Urteil gegen Zamir L. gefällt: 4 Jahre und 6 Monate Haft wegen Geiselnahme in einem minderschweren Fall.
Seit Ende April mußte sich Zamir gegen diesen Vorwurf wehren, nachdem ein weiterer Anklagepunkt, nämlich einem deutschen Gefangenen Kleidungsstücke gestohlen und diesen dabei mit einem Messer bedroht zu haben, schließlich fallengelassen wurde. Dennoch spielte dieser Punkt für den Staatsanwalt und vor allem den vorsitzenden Richter Damm eine wichtige Rolle, da sie so ihre Konstruktion vom 'Algerier mit dem Messer' als maßgeblichen Beleg für die 'aggressive Haltung des Beklagten, die auch die Geiselnahme impliziere' in den Prozeß einführen konnten. Die Zamir belastenden Aussagen zu diesem Punkt konnten nicht von Entlastungszeugen widerlegt werden. Einige verweigerten vor Gericht die Aussage bzw. konnten die Angaben von Zamir nicht bestätigten, da sie nicht im gesamten Zeitraum mit ihm zusammen waren. Der größte Teil der von der Verteidigung benannten Entlastungszeugen waren allerdings mittlerweile abgeschoben. Diese zu laden lehnte das Gericht mit folgender Begründung ab:
  1. die algerischen Behörden werden ohnehin nicht mit den deutschen Behörden zusammenarbeiten und so sei der Aufenthaltsort der Zeugen nicht ermittelbar.
  2. Sollte dieser ermittelbar sein, so würden die Zeugen evtl. die Aussage verweigern oder aus Solidarität ohnehin keine wahrheitsgemäßen Angaben machen.
  3. Sollten sie jedoch wahrheitsgemäß aussagen, würden sie zur Wahrheitsfindung ohnehin nur wenig beitragen, weil in dem Durcheinander nur Bruchstücke wahrgenommen worden seien und somit keine Aussagen zum gesamten infrage kommenden Zeitraum gemacht werden können.
      Was den Vorwurf der Geiselnahme betrifft, sahen die in der Verhandlung eingeführten 'Beweise' recht dürftig aus: Diese bestanden jeweils aus den Protokollen der polizeilichen Vernehmungen von weiteren Beschuldigten der 'Elwe'-Revolte, die wegen ihrer eigenen Verfahren nicht vor Gericht aussagten. Im ersten der Prozesse, hatte einer von ihnen angegeben, daß seine Aussagen bei der Polizei aus Angst und unter dem Eindruck der Mißhandlungen in der JVA-Wehlheiden gemacht worden sind, es liegt nahe dies auch für die anderen anzunehmen, da ihre Vernehmungen ebenfalls nach den Mißhandlungen stattgefunden haben. Desweiteren mußte das Protokoll der Angaben eines türk. Häftlings aus der 'Elwe' wieder zurückgezogen werden, da es sich offensichtlich um Falschaussagen handelte, was sich schon im Prozeß gegen Mohammed B. erwiesen hatte. Die ehemalige Geisel sagte vor Gericht diesmal nicht aus, es wurden die Protokolle seiner Ermittlungsaussagen verlesen, in denen Zamir nicht auftauchte.
      Dennoch glaubt das Gericht sich aus diesen Aussagen ein sicheres Bild vom Verhalten Zamirs während der Revolte gemacht zu haben, dahingehend, daß er zwar keine herausragende Rolle gespielt aber die Revolte in ihren Inhalten und Zielen unterstützt und mitgetragen habe. Da ihm bekannt war, daß eine Geisel genommen wurde hat er sich durch 'Nicht-Distanzierung' daran 'gemeinschaftlich' beteiligt. Als 'minderschwer' wird dieser Fall angesehen, da keine direkte Beteiligung an der Geiselnahme bewiesen wurde, das Strafmaß so hoch angesetzt weil es eine Beteiligung an den Plünderungen gegeben haben soll, außerdem soll so "die Straftat in ihrem gesamten Ausmaß" nicht aus den Augen verloren werden. Auch diesmal ging Richter Damm über das vom Staatsanwalt geforderte Strafmaß hinaus (die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert), was nach den bisherigen Prozessen vor dieser Kammer (Mohamed M. & Adel M.) zu erwarten war. Schon am ersten Verhandlungstag hatte der Richter den Verteidiger belehrt, daß er sich seine Verhandlungsführung in bezug auf Anträge überlegen sollte, welche Auswirkungen die für seinen Mandanten haben, "es müssen nicht alle Rechte des Angeklagten ausgeschöpft werden". Ein Befangenheitsantrag u.a. dazu, wurde später abgelehnt, da dieser formal zu spät (zweiter Prozeßtag, nach Feststellung der Personalien) gestellt wurde.
      Die Verteidigung legte Rechtsmittel ein. Mit Ende dieses Prozesses tritt eine längere Pause in den 'Elwe'-Prozessen ein. Ab dem 11.09.95 wird es mit einem Sammelprozeß gegen neun Angeklagte gleichzeitig vor der I. Strafkammer des LG-Kassel weitergehen. Unter den Angeklagten sind einige die von der Justiz als Haupttäter angesehen werden. Damit die Verhandlungen nicht wie bisher vor fast leeren Sälen stattfinden, möchten wir Euch auffordern zu diesem und allen weiteren Terminen (13. 18. 20. 25. & 27.09) um 9.00 h zum Landgericht in Kassel, Frankfurter Str. zu kommen.
      'Elwe'-Prozeßbeobachtungsgruppe
      PS: wegen der Neufassung unseres Verteilers hatten wir Euch gebeten, Euch bei uns rückzumelden. Die das bisher nicht getan haben mögen das bitte tun, nach diesem Rundbrief werden wir nur noch solche berücksichtigen von denen wir gehört haben.

      'Elwe'-Prozeßbeobachtungsgruppe
      c/o AStA der Gh-Kassel
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      34127 Kassel
      Fax: 0561/84247
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