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6. Perspektiven einer neuen Klassenorientierung

Genau ein solches Eingreifen halte ich für nötig und möglich. Nur mit Klassenorientierung bleibt die Option auf eine sozialistische Alternative als einer offenen Lebens- und Gesellschaftsformation, die sich durch gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln und durch die ausschließliche Produktion und Reproduktion zur Befriedigung basisdemokratisch ermittelter gesellschaftlicher Bedürfnisse auszeichnet, belanglose Utopie. Wie soll das geschehen?

Strategisch. Ich schlage vor, die altbekannte Suche nach besonders avantgardistischen Fraktionen des neuen Klassensubjekts aufzugeben und die neuen Möglichkeiten aus der Konstitution des neuen Proletariats in ihrer ganzen Vielfalt zum Ausgangspunkt unseres Nachdenkens und Handelns zu machen. Wir brauchen also eine offene Struktur des Klassenantagonismus von unten, für alle, die ihre Arbeits- und Lebenskraft hergeben müssen, um leben zu können, unabhängig davon, ob sie entlohnt, auf Werkvertragsbasis honoriert, für Arbeitsmärkte zur Verfügung gehalten, zu nicht entlohnter Arbeit gezwungen oder patriarchalisch im informellen Sektor geknechtet werden. Das, meine ich, ist an jedem Widerstandspunkt des Globus möglich, da bei allen quantitativen Unterschieden grundsätzlich gleichartige strukturelle ökonomische Bedingungen vorliegen und zu jedem anderen Widerstandspunkt vermittelt werden können. Die Homogenisierung ist also strukturell bedingt, zugleich aber auch eine Vorwegnahme. Genau hier liegt die Aufgabe der Linken.

Es geht also nicht darum, ein neues Primat des Agrarsozialismus zu postulieren; es geht nicht darum, ausschließlich eine neue Kampagne der Prekären und Jobber in Gang zu bringen; es geht nicht darum, das sozialistische Heil allein von den aus der Arbeitslosigkeit entlassenen selbständigen Arbeiterinnen und Arbeitern zu erwarten, auch nicht von den Gruppenarbeitern, sondern wir brauchen eine offene Synthese der jeweils unterschiedlich gewichteten Kommunikationsweisen und Kampfformen am Ort. Dafür sind, immer noch strategisch gedacht, Strukturen nötig. Ich votiere für eine internationale Vernetzung der lokalen Widerstandspunkte im Sinne einer internationalen Assoziation durch erste politische Initiativen: Gegeninformation, Analyse, konkrete Hilfeaktionen.

Ich plädiere zweitens dafür, die lokalen Konfrontationspunkte mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber dem Ziel der Synthese aller möglichen Teilbewegungen zur Durchsetzung einer moralischen Ökonomie des Existenzwerts zu assoziieren: Recht auf Boden und Wohnung, politischer Lohn, Recht auf soziale Reproduktion. Diese neue moralische Ökonomie wäre zu realisieren durch die soziale Aneignung und kommunale Selbstverwaltung von Boden und Wohnen. Sie wäre im Kampf in und gegen die lokalen Arbeitsmärkte zu realisieren durch einen neuen »social-movement unionism« [auf sozialen Bewegungen basierende Gewerkschaftspolitik] gegen flexibilisierte Arbeitsverhältnisse, durch den Kampf für einen politischen Lohn in den Basiskomitees der Netzwerkunternehmen. Das Recht auf soziale Reproduktion wäre in kommunaler Selbstorganisation anzugehen, als Rückeroberung selbstbestimmter sozialer Reproduktionsgarantien. Die sozialstaatlichen Transferruinen sollten bei gleichzeitiger kommunaler Aneignung der ungeheuer angehäuften Privatvermögen reorganisiert und in Selbstverwaltung übernommen werden.

Ich halte es also strategisch für möglich, einen solchen Zusammenschluß in politisch-wirtschaftlich homogenisierten Assoziationen von Gegenmacht in Gang zu bringen, und zwar im Rahmen einer internationalen Vernetzung.

Die taktischen Aspekte, wie diese Perspektive anzugehen wäre, sehe ich einmal darin, daß auf dieser strategischen Basis in die bevorstehenden oder schon stattfindenden Kämpfe gegen den sozialen Generalangriff einzugreifen wäre; daß wir von hier aus aber auch an die Seite derer treten, die vom Populismus der Deregulierungsexperten am stärksten ausgegrenzt werden: Ausländer, chronisch Kranke usw.

Ich bin mir bewußt: Derartiges kann vielleicht noch gedacht, aber angesichts der Krise der Linken und der realen Kräfteverhältnisse nur noch mit Mühe und Anstrengung vorgeschlagen werden. Trotzdem bin ich vorsichtig optimistisch. Was beispielsweise seit einigen Wochen in Italien passiert, haben bis vor wenigen Wochen die meisten für unmöglich gehalten. Ich glaube also, daß ein soziales Beben, auch in den Metropolen, zu spüren ist und daß wir dieses soziale Beben wahrnehmen, uns darauf einrichten sollten. Wenn in die aktuellen Basisinitiativen bewußte Handlungsfähigkeit hineinkommt, dann werden ihre Militanten sich bald als Teil einer neuen emanzipatorischen Massenbewegung wiederfinden. Vielleicht. Ich hoffe es.

(Der Text ist das von Karl Heinz Roth durchgesehene und leicht ergänzte Transkript seines Referats. Die Anmerkungen in eckigen Klammern stammen von der Zürcher Redaktion »Vorwärts«, welche Roths Referat bearbeitete und zuerst veröffentlichte.)



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