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Gerade wir als Deutsche

Ein widerlicher, schleimig herankriechender Euphemismus für nationale Gesinnung, für nationalhymnische Gefühle, für kollektiven Wahn. Die nationalsozialistische Vergangenheit wird in dieser Formel zum kuriosen Argument dafür, daß die Deutschen gegenüber den Juden und gegenüber den Rest der Welt eine besondere Verantwortung hätten. Die Verantwortung besteht darin, die Juden und den Rest der Welt davon abzuhalten, das gleiche zu tun wie die Deutschen im Zweiten Weltkrieg, nämlich die Juden auszurotten und den Rest der Welt zu erobern. Weil das aber niemand tut und auch niemand in Sicht ist, der die Mittel und Möglichkeiten dazu hätte, gehen die Deutschen mit ihrer Verantwortung hausieren, d.h. sie müssen zunächst sich und andere davon überzeugen, daß alle möglichen Konflikte auf der Welt, ob Bürgerkrieg, Pogrome oder Stammesfehden, schon so schlimm sind wie das, was sie selbst angerichtet haben.

Dies war der Fall, als 1982 die israelische Armee im Libanon einmarschierte. Sofort meldete sich die Mahn- und Warngesellschaft aus »historischer Verantwortung der Deutschen gegenüber den Juden« zu Wort, um gegen die Vernichtung des palästinensischen Volkes zu protestieren. Und auch die Grünen kannten plötzlich keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, und waren der »Meinung, daß wir Deutschen eine besondere Verantwortung haben, wenn es darum geht, Praktiken einer Ausrottungspolitik verhindern zu helfen.«

Als ehemalige Täter fühlten sie sich verpflichtet, »Israel mit Lob und Tadel als Bewährungshelfer moralisch beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde« (Wolfgang Pohrt). Wolfgang Pohrt schrieb auch, daß die Deutschen mit ihrem Verantwortungsfimmel einem strafrechtlich verurteilten Kinderschänder glichen, der sich besonders qualifiziert für einen Job im Kindergarten fühlt. Noch heute vergeht keine Reise eines deutschen Staatsmannes nach Israel, ohne daß diese Qualifikation als guter Wille dokumentiert werden würde. Die FAZ (vom 7.12.94) versah einen Artikel über eine Kranzniederlegung in der Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel: »Herzog hebt besondere Verantwortung gegenüber Israel hervor.«

Weil zwei angezettelte Weltkriege nicht gut in die Biographie des selbsternannten Weltfriedensrichters passen, nahm man am Bild des Täters eine Retusche vor, die ihn in ein argloses Opfer verwandelte: »Gerade unser besonderes Verhältnis zum Volk der Juden sollte uns veranlassen, hart mit dieser Politik ins Gericht zu gehen. Denn unser Volk hat die Folgen rassistischer Gewaltpolitik am eigenen Leib erfahren«, schallte es aus ethisch besonders engagierten Kirchenkreisen.

Wilhelm Reich schrieb in Massenpsychologie des Faschismus, daß Hitler der Ausbruch einer Geisteskrankheit erspart geblieben wäre, weil seine Wahnvorstellungen auf massenhafte Resonanz stießen. Individuelle und kollektive pathische Projektion gingen auch während des Golfkriegs konform. »Dabei ist nichts so verständlich wie die Friedenssehnsucht gerade der Deutschen, ist sie doch das logische Ergebnis eines schweren nationalen Traumas«, welches darin besteht, daß die Verbrechen »von den Nazis im Namen der Deutschen begangen wurden«, schrieb Oskar Lafontaine, ohne daß ihn jemand deshalb schräg angeguckt hätte. Was daraus folgt, machte Lafontaine deutlich, als sich Marcel Ophüls darüber beschwerte, daß auf dem nach seinem Vater benannten Fimfestival in Saarbrücken der Film »Beruf Neonazi« von dem etwas dämlichen Winfried Bonengel gezeigt werden sollte. Es wäre »höchste Zeit«, meinte Lafontaine, »daß die alten Opfer des Nazismus und ihre Familien aufhörten, sich ständig zu beklagen.«

Besondere Verantwortung verspürten einige besonders gute Deutsche wieder anläßlich des Kriegs in Bosnien. Diesmal war die Friedenssehnsucht bereits so stark, daß sie am liebsten gleich mitgeballert hätten. »Auschwitz verpflichtet uns auch, Handlungen ernst zu nehmen, die Angehörige von Volksgruppen ermorden, um den Rest durch Terror in die Flucht zu schlagen«, schraubt Freimut Duve das Verantwortungsniveau hoch und das Neutralitätsgebot herunter. Man weiß zwar nicht so genau, warum Auschitz notwendig ist, um »Handlungen ernst zu nehmen«, aber man ahnt, dahinter steckt ein großer Moralist, und der sagt uns: Gerade wir als Deutsche, die wir Fachmann in Fragen des Genozids sind, müssen es schließlich genau wissen: Hier muß sofort und hart durchgegriffen werden. Wehret den Anfängen! Denn: »Wer der Ausrottung eines anderen Volkes tatenlos zusieht, verwirkt seine Rechte« (Peter Glotz). Eva Quistorp fällt gleich das passende Beispiel ein: »Warum wurde Auschwitz nicht rechtzeitig befreit?« Horkheimer hatte also doch nicht übertrieben, als er über die Wandlungen des Schuldbekenntnisses der Deutschen schrieb, die Nazis, das waren in Wirklichkeit die Amerikaner.

Aber das alles reicht noch nicht, wenn Christian Semler in der taz (vom 17.9.94) sich selbst die rein rhetorische Frage stellt, »ob Deutschland nicht gerade wegen seiner mörderischen Vergangenheit eine besondere Verantwortung für die Verteidigung der Menschenrechte weltweit (und daher auch in Jugoslawien) zu übernehmen hat«. Wie Václav Havel würde Semler gerne die »Verantwortung für das Weltgeschehen« übernehmen und an den Hebeln der Macht sitzen, weil er dem Irrglauben anhängt, Schriftsteller und Intellektuelle wären die besseren Menschen.

Von der »unverschämten Lüge« des »Wir haben nichts gewußt« der Nachkriegszeit hat sich das »Wir« in das Kollektiv gerettet, das über den Massenmord bestens Bescheid weiß. Was die Deutschen daraus gelernt haben: So glimpflich wie sie selbst wollen die Deutschen die neuen Kriegsverbrecher, vorzugsweise die Amerikaner, seit einigen Jahren auch die Serben, nicht davonkommen lassen. Das nationale Identität stiftende »Wir« lechzt bereits wieder nach der Macht, um der Kriegshetze Taten folgen zu lassen.

Aus den Verbrechen der Nazis läßt sich jedoch keine besondere Verantwortung herausdestillieren. Das auftrumpfende »Gerade wir als Deutsche« ist eine handfeste Drohung, egal ob es Frieden ohne Waffen oder mit Waffen schaffen will. Wenn sich aus der Vergangenheit etwas ableiten ließe, dann höchstens: Gerade wir als Deutsche sind besonders verpflichtet, die Klappe zu halten.



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