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Voherige Seite 23 Im Namen welcher Gegenwart? - Über dieses Dokument, Download Nächste Seite

24 Die Hoffnung



Renato, wir sind am Ende unseres Gesprächs angelangt. Eines schönen Tages wirst du endgültig aus dem Knast rauskommen und dich einer weiteren jener »Diskontinuitäten« stellen, die du für dein Leben als charakteristisch bezeichnest. Was werden an dem Morgen, an dem du die Freiheit wiedererlangst, deine ersten Wünsche sein?

Vor allem zu laufen. Lange zu laufen, ohne auf Tore und Zäune zu treffen. Das meine ich nicht metaphorisch. Ich möchte mich tatsächlich als Nomade auf eine Reise ohne Ziel begeben.

Eine Reise, deren erste Etappe der Besuch bei Margherita sein wird. Ich habe sie seit ihrem Tod nicht besuchen können. Ich verspüre den dringenden Wunsch, mich dort hinzusetzen, auf den Boden, und ein wenig in der Stille zu verweilen.

Danach sehe ich noch keine genauen Orte, an die ich mich begeben könnte. Ich weiß nicht, wo mein Platz sein wird. Also werde ich frei sein und durch Wälder und Täler streifen.



Aber irgendwann wirst du doch stehenbleiben?

Sicherlich. Bewegung wird der Weg sein, einen Punkt zu finden. Wieder zu Atem zu kommen und mit Raum und Menschen wieder einen Kontakt herstellen zu können.

Dann möchte ich einen Ort suchen, um mir ein Haus zu bauen. Ich möchte es mit meinen eigenen Händen bauen, aus Stein und Holz, nach all den Jahren zwischen Stahl und Beton in den Knästen.

Neben dem Haus hoffe ich, einen anderen meiner großen Träume verwirklichen zu können: ein Kind zu haben.

Ein Wunsch, der in diesen Jahren um so stärker gewachsen ist, wie seine Verwirklichung außerhalb jeglicher Möglichkeit lag.

In den bisher achtzehn im Knast verbrachten Jahren hatte ich vielfältige und umfassende zwischenmenschliche Beziehungen. Ich hatte auch viele Brieffreundinnen, die mir mit ihren Liebesbriefen Gesellschaft leisteten. Natürlich nicht auf eine Art, daß es durch die Wände einer Zelle möglich wäre, etwa mit einer Frau eine tiefergehende Beziehung aufzubauen, um später zusammen einmal ein Kind zu haben.

Im Gefängnis überwiegt die Phantasie, die der Tod eines wirklichen Verlangens ist. Mir ist es gelungen, den langen Jahren meiner Inhaftierung nicht zu erlauben, mein Verlangen abzutöten.

Aber eine Beziehung muß, um real zu sein, auch einen Körper haben. Und im Knast gibt es den Körper nicht. Heute kann ich mit meinem Wunsch, ein Kind zu haben, nicht die Gestalt einer bestimmten Frau verbinden. Ich glaube nicht, daß die schriftliche Zuneigung, die im Knast erlebt wird, automatisch auf konkrete Beziehungen verlängerbar ist, wenn sie der Prüfung einer Zusammenkunft in Freiheit unterworfen wird.

Ich weiß, daß sich jede meiner zwischenmenschlichen Beziehungen an dem Tag, an dem ich rauskommen werde, neu herstellen wird. Die Gestalten der Vorstellung werden sich mit unvorhersehbarem Ausgang in reale Körper verwandeln.

Es wird für mich der Tag einer neuen Wahrheit sein. Die endlich auch fruchtbar und nicht mehr nur steril sein kann.



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