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13 Ausbruch aus dem Gefängnis von Casale Monferrato

Ehefrau, 29.85k



Um dich zu befreien, haben die von deiner Ehefrau angeführten Brigadisten am 18. Februar 1975 das Gefängnis von Casale Monferrato militärisch erobert. Es war eine der aufsehenerregendsten Stadtguerilla-Aktionen in Italien. Obendrein wurde kein einziger Schuß abgegeben. Wie ist jener spektakuläre Ausbruch geplant und organisiert worden?

Nach einigen Wochen in Casale gelang es mir, einen Kontakt zu den Genossen draußen herzustellen ...



Auf welche Weise?

Das kann ich nicht sagen, denn es lief über Leute, die nie geschnappt wurden. Jedenfalls funktionierte die Verständigung gut.

Von draußen schrieben sie mir, daß sie mich befreien wollten, und baten mich, die verschiedenen Möglichkeiten zu sondieren. Der Knast war von innen sehr gut gegen klassische Ausbrüche gesichert: dicke Mauern, Gitter, die man nicht durchsägen konnte, Mehrfachschlösser, Alarmanlagen. Ein Angriff von außen schien leichter: nur drei Gittertüren, um bis zu den Zellen zu gelangen, und kaum Rundgänge bewaffneter Wachposten. Ich übermittelte Margherita diese Beobachtungen und ergänzte, daß die beste Uhrzeit für einen Überraschungsangriff zwischen zwölf und dreizehn Uhr sei, wenn ich mich an der frischen Luft außerhalb der Zelle befand.

Die Strategische Leitung diskutierte lange darüber, ob es angemessen sei, sich in eine dermaßen riskante militärische Operation zu stürzen. Einige Genossen, darunter Fabrizio Pelli13.1, waren dagegen. Sie hielten es für günstiger, die Organisation auf traditionelle Weise über die Fabrik und die sozialen Bewegungen in den Stadtteilen zu konsolidieren. Moretti zögerte. Margherita, die von einem gut Teil der Kolonne aus Mailand und Venetien unterstützt wurde, setzte sich schließlich durch.

Die Aktion wurde beschlossen. Über ein verschlüsseltes Telegramm teilten sie mir den festgelegten Tag mit: »Das Paket mit den Ersatzhemden wird dich morgen erreichen ...« Aber sie hatten meine Botschaft falsch gelesen. Statt um 13 Uhr anzugreifen, kamen sie um 16 Uhr. Das war der ungünstigste Zeitpunkt, der Zeitpunkt des Wachwechsels, als die Wachen also verdoppelt waren und die Häftlinge zur Kontrolle in den Zellen eingesperrt blieben. Dieses Mal stand mir allerdings das Glück zur Seite.

Ein Häftling rannte keuchend den Gang entlang und rief laut, daß unten im Rundgang bewaffnete Männer stünden. Der Kontrollgang in meinem Trakt war gerade zu Ende, und der Schließer hatte gerade meine Zelle wieder aufgeschlossen. Auf die Rufe reagierten die Wachen wie versteinert. Anscheinend fürchteten sie ein Feuergefecht und hatten überhaupt keine Lust, ihr Leben zu riskieren. Mein Herz raste vor Aufregung. Es war soweit, mit einiger Verspätung, aber es war soweit ...



Hattest du Angst?

In solchen Augenblicken gibt es keinen Platz für Angst. Der Körper wird voll Adrenalin gepumpt, und die Aufregung überwindet alles andere.

Nach sechs Monaten Knast befand ich mich in einer akzeptablen physischen Verfassung. Ich handelte sofort, flog die zwanzig Meter Flur entlang, stürzte die Treppen herunter und fand mich vor der verschlossenen Gittertür wieder. Auf der anderen Seite sah ich Margherita mit einer wunderschönen Perücke und fünf oder sechs Genossen in Blaumännern als SIP13.2-Arbeiter getarnt. Sie hatten Maschinenpistolen unterm Arm und Handgranaten in der Hand. Margherita befahl einem Schließer, die Tür zu öffnen. Der Mann zitterte und schaffte es nicht, den Schlüssel ins Schloß zu stecken. Sie reichten mir eine Pistole durchs Gitter für den Fall, daß hinter mir jemand kommen sollte. Endlich öffnete sich die Gittertür, und ich stürzte hinaus. Außerhalb des Gebäudes waren verschiedene Genossen in Grüppchen postiert. Sie hatten die Telefonkabel durchtrennt und die Straße unter Kontrolle. Drei Autos standen abfahrbereit. Ich sprang in das nächstbeste, und wir verteilten uns in alle Richtungen.

Die Operation ist perfekt abgelaufen, ohne jegliche Zwischenfälle. Kein einziger Schuß mußte abgegeben werden.



Wieviele Brigadisten nahmen an dieser Aktion teil?

Ungefähr zwanzig, und es wurden etwa fünfzehn gestohlene Autos benutzt. Es war eine umfangreiche Planung. Ich erinnere mich, daß die Gruppe, die mich auf der Flucht leitete, allein sechs Wagenwechsel vornahm. Jede Stelle, an der wir ein Auto wechselten, war von bewaffneten Genossen gesichert. Am Ende des Tages erreichten wir mit Margherita und einem anderen Genossen das zuvor festgelegte Versteck, ein Haus am Meer in Alassio. Dort löste sich endlich die Spannung, und ich konnte meiner Freude und Rührung freien Lauf lassen.



Bonnie and Clyde, Margherita und Renato, das Szenario für einen Roman ...

Ich möchte aber, daß eine Sache klar ist: Die Aktion kann sicherlich auch unter einem persönlichen und romantischen Gesichtspunkt betrachtet werden, aber in ihrem Kern war es eine politische Aktion, bei der es um eines der grundlegendsten Prinzipien des bewaffneten Kampfes ging: die Befreiung der Gefangenen. Mein Fall ist nicht der einzige gewesen. Auch Ulrike Meinhof hat den Genossen Andreas Baader befreit. Außerdem sah der von Margherita und den BR ausgearbeitete Plan nicht nur den Überfall auf das Gefängnis von Casale vor, sondern auch die Befreiung von Franceschini aus dem alten Knast von Cuneo. Das hätte am vorhergehenden Abend in traditioneller Weise geschehen sollen. Nach dem Zersägen der Gitterstäbe hätte er ein Auto mit drei wartenden Genossen vorgefunden. Leider schlug ein Häftling Alarm, als er schon fast draußen war, wodurch der arme Franceschini im schönsten Moment noch erwischt wurde.



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