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10 Der Tod von Calabresi

Berge, 26.10k



Im Mai 1972, genau in den Tagen, in denen ihr aus Mailand geflüchtet seid, wurde der Kommissar Luigi Calabresi ermordet. Ein aufsehenerregendes Ereignis, das du kurz angesprochen hast. Ein Mord, der dem künftigen Weg der subversiven Gewalt einiges vorwegnehmen sollte. Ihr mußtet als Gruppe, die sich auf dem Weg zum bewaffneten Kampf und der Klandestinität befand, an dem Geschehen sicher interessiert sein. Welche Ermittlungen habt ihr durchgeführt, und was habt ihr in Erfahrung bringen können?

Als der Calabresi-Mord geschah, waren wir auf der Flucht. Uns stand das Wasser bis zum Hals. Die Meldung hat uns völlig überrascht. In den Kreisen, in denen wir verkehrten, hatte es keine Hinweise darauf gegeben, daß so etwas vorbereitet würde. Es handelte sich um eine radikale Aktion, die uns große Sorgen bereitete. Sie konnte schwerwiegende und unvorhersehbare Folgen haben. Wie stark würde die Repression gegen die Bewegung und die Gruppen der radikalen Linken sein? War es eine isolierte Tat oder erst der Auftakt zu weiteren Geschichten dieser Art? Diese Fragen beschäftigten uns sehr. Wir waren jedoch gleich davon überzeugt, daß es sich um eine Aktion uns sehr nahestehender Kreise handelte. Eine Rache-Aktion, die offensichtlich die gesamte angespannte Stimmung in sich aufgenommen hatte, die in den Demonstrationen auf der Straße und in den Pressekampagnen gegen Calabresi, dem »Mörder« von Pinnelli, zum Ausdruck gekommen war. »Calabresi du Faschist, bist der erste auf der List'«; »Henker Calabresi«; »Calabresi, du wirst geselbstmordet werden«. In jenen Tagen zogen Zehntausende von Jugendlichen aus der Bewegung, von Lotta Continua, von Potere Operaio und von den anderen außerparlamentarischen Grüppchen durch die Straßen Mailands und forderten den Kopf des Kommissars. Auch hatten alle Zeitungen der radikalen Linken, »Lotta Continua« vorneweg, harte Attacken gegen Calabresi veröffentlicht, der zum Symbol der Polizeigewalt gemacht wurde ...



Habt ihr versucht herauszufinden, wer hinter dem Mord steckte?

Nicht sofort, denn wir waren noch zu sehr mit unserer Flucht und unserer neuen Situation beschäftigt. Aber etwa vier Monate später, als wir wieder in Mailand waren, haben wir alle Hebel in Bewegung gesetzt, um zu erfahren, wer für die Aktion verantwortlich war. Wir mußten unbedingt wissen, ob parallel zu unserer Gruppe noch eine weitere bewaffnete Formation im Entstehen war, von der wir nichts wußten. Eine Gruppe, die zudem den bewaffneten Kampf in radikal anderer Weise als wir zu vertreten schien. Sie startete sofort mit einer Operation auf höchstem Niveau und bekannte sich nicht dazu.

Nachforschungen waren sehr schwierig. Wir versuchten in den Kreisen um Lotta Continua, Potere Operaio, den verschiedenen marxistisch-leninistischen und anarchistischen Grüppchen, an Informationen zu gelangen. Wir hörten mehr oder weniger immer das gleiche: »Es ist eine Aktion, die aus dem Inneren der Gruppen und der Bewegung kommt.« Uns wurde gesagt: »Wir wissen, um wen es sich handelt ... Aber da sich niemand dazu bekannt hat, ist es besser zu schweigen ...« Die Antworten waren vage Ausflüchte.



Habt ihr euch damit zufriedengegeben und ihnen geglaubt?

Teilweise schon. Das, was uns am meisten interessierte, hatten wir herausgefunden. Parallel zu den Roten Brigaden wurde keine weitere feste Gruppe für den bewaffneten Kampf aufgebaut. Die Tötung Calabresis war eine Rache-Aktion gewesen, für die die damalige allgemeine Mobilisierung verantwortlich war.

Man muß aber auch daran erinnern, daß 1972 die halbe außerparlamentarische Linke in Mailand Waffen besaß und sich durch Überfälle finanzierte. Nicht nur wir von den BR. Die Ordnungsdienste von Lotta Continua oder Potere Operaio verfügten auch über bewaffnete Aktivisten, die sich in der Illegalität bewegten. Von den Banküberfällen zur Exekution des »Henkers« Calabresi überzugehen, konnte von irgendeinem jener extremen Flügel beschlossen worden sein.



Hatten die Roten Brigaden in diesen Jahren direkte Verbindungen zu den Ordnungsdiensten der außerparlamentarischen Gruppen?

Nein, keine organisatorischen oder operativen Beziehungen. Aber an der Basis bestand auf jeden Fall eine Freundschaft zwischen den Genossen, die in den Fabriken und Stadtteilen Seite an Seite arbeiteten.

In der Frage des Ordnungsdienstes kam es bei einem Treffen jedoch zur Auseinandersetzung mit Lotta Continua. 1971, als wir gerade unsere Aktionen gegen die Chefs von Pirelli und Sit-Siemens aufgenommen hatten, näherten sich uns viele Genossen von Lotta Continua - die damals die aktivste Gruppe in den Mailänder Fabriken war -, einige traten sogar in unsere Organisation ein. Eine Umschichtung, die den Leitern dieser außerparlamentarischen Formation große Sorgen bereitete. So sehr, daß uns irgendwann die Anfrage für ein Gespräch erreichte, um die Entwicklung unserer Beziehungen zu regeln. Ich traf mich mit zweien ihrer Leiter, Giorgio Pietrostefani, Verantwortlicher des Ordnungsdienstes, und Ettore Camuffo, ein Genosse aus Trient, den ich zu Studienzeiten kennengelernt hatte. Sie wollten die Möglichkeit einer »Fusion« sondieren. Oder besser gesagt: Die Bereitschaft uns in ihrer Gruppe aufzulösen.

Im wesentlichen meinten sie, Lotta Continua sei eine auf nationaler Ebene verankerte politische Organisation, während die BR nur ein Grüppchen ohne weitere Chance zur Entwicklung sei. »Kommt zu uns und und macht das, was ihr am besten könnt: organisiert unseren Ordnungsdienst.« Es handelte sich praktisch um den Vorschlag, der »bewaffnete Arm« von Lotta Continua zu werden. Mir war nicht danach, gleich zu reagieren, und ich entgegnete, daß ich die Sache mit meinen Genossen diskutieren würde.

Wir versammelten uns und waren uns sofort einig, dem, was uns wie eine Beleidigung erschien, eine scharfe Antwort entgegenzusetzen. Wir beschlossen, daß Franceschini, »der Mega«, auf das nächste Treffen gehen sollte, da er wesentlich polemischer und aggressiver auftreten konnte als ich. Die von Lotta Continua wiederholten ihren Vorschlag und fügten hinzu, daß einige von uns - sie nannten meinen Namen - auch in die politische Leitung aufgenommen würden. Sie drohten, daß, falls wir der Aufforderung nicht folgten, sie uns entschlossen zurückdrängen würden. Ihrer Einschätzung nach war es nicht mehr möglich, »das ganze Chaos zu akzeptieren«, das wir in den Fabriken »anrichteten«.

Wie Franceschini berichtete, mündete die Diskussion in heftigen verbalen, leicht handgreiflichen Auseinandersetzungen. Entrüstet und stinksauer brüllte er, daß die BR von niemandem der Laufbursche sei und daß wir so kämpfen würden, wie wir es für richtig hielten.

Von diesem Zeitpunkt an gab es mit den Leitern von Lotta Continua keinen Dialog mehr. Aber die Beziehungen zu ihren Basisaktivisten in den Fabriken blieben ausgezeichnet, und es traten weiterhin einige zu uns über.



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