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8 Bewaffneter Kampf

kämpferisch I, 28.42k



Nach dem Treffen von Pecorile sollten sich deine Vorahnungen schnell bewahrheiten. In Mailand war alles in Veränderung begriffen: »Sinistra Proletaria« löste sich auf, es bildete sich die erste Kolonne der Roten Brigaden, und die ersten Anschläge wurden durchgeführt. Aber ihr wart immer noch nicht völlig in der Illegalität, habt noch an öffentlichen Versammlungen teilgenommen und die Wohnungen auf eure Namen angemietet. Wann seid ihr zu einer komplett klandestin operierenden Gruppe geworden?

Etwa ein Jahr später. Die Entscheidung, in die Illegalität zu gehen, wurde allerdings nicht freiwillig getroffen. Es war der zwangsläufige Ausweg, um der immer enger werdenden Schlinge der Polizei zu entkommen. Wir gingen in den Untergrund, weil wir kurz davor standen, praktisch alle festgenommen zu werden.

Die Monate vor diesem Schwenk waren voller Ereignisse und Aktionen. Die bewaffnete Propaganda in den Fabriken, unsere immer größere Präsenz bei den sozialen Auseinandersetzungen in den proletarischen Stadtteilen Mailands, der Bruch mit dem »Super-Clan« und unsere erste Entführungs-Aktion.

Ich schlief damals kaum und war von einem rasenden Aktivismus ergriffen. Dabei machten die Aktionen des »bewaffneten Kampfes«, Autos von Fabriken-Kapos anzuzünden und ähnliche Aktionen, nur einen kleinen Teil meiner Beschäftigungen aus.



Du hast schon mehrfach von den proletarischen Stadtteilen Mailands gesprochen. Welche meinst du, und wie stark wart ihr dort verankert?

Die Stadtviertel, in denen Sinistra Proletaria und später die Roten Brigaden die stärkste Anbindung hatten, waren: Lorenteggio, ein großes proletarisches Quartier in der Mailänder Altstadt, in dem um die hunderttausend Leute lebten; Quarto Oggiaro, ein reines Schlafviertel ohne Dienstleistungen, das sich um acht Uhr abends in eine trostlose Wüste verwandelte; Giambellino, wo Margherita und ich eine Weile lebten.

In diesen Stadtteilen entwickelten sich Bewegungen, die weit über unsere Hoffnungen hinausgingen. Unsere Vorschläge wurden begeistert aufgenommen, und viele wollten mit uns zusammenarbeiten. In Quarto Oggiaro waren die faschistischen Banden um die dortige Sektion des MSI sehr stark. Sie kontrollierten ganze Straßenzüge im Viertel. Jugendliche, die sich ihnen widersetzten, konnten sich öffentlich nicht mehr blicken lassen. Sie griffen die Genossen an und knüppelten sie nieder, einigen ritzten sie sogar mit dem Messer Hakenkreuze in die Stirn.

Eines Tages sprengten die Schlägertrupps das Auto des Sekretärs der PCI-Sektion. Wir machten rasch die Verantwortlichen aus und sprengten dann unsererseits ein Auto von einem von ihnen, einem gewissen Artoni. Die Explosion war im ganzen Stadtteil zu hören. Wir benutzten damals Plastiksprengstoff, aber nur dieses eine Mal. Wir beschlossen daraufhin, künftig keine Sprengstoffattentate mehr zu verüben. Es war für uns ein niederträchtiges Mittel, Symbol eines wahllosen Terrorismus, der Massakerpolitik von Faschisten und Staat mit denen wir in keinen Zusammenhang gebracht werden wollten.

Die Aktionen gegen die Faschisten stießen auf große Zustimmung und zogen Hunderte von Sympathisanten zu unserem Grüppchen. Es folgten die Kämpfe um die besetzten Häuser, wo wir oft in der ersten Reihe standen und weiteren Zulauf erhielten. Die ersten Roten Brigaden in diesen Stadtvierteln agierten sicherlich nicht verdeckt oder besonders klandestin. Wir kannten Tausende von Leuten, die genau wußten, was wir propagierten und machten, und die uns bei entsprechender Gelegenheit auch aufsuchten, wenn sie Probleme hatten.

Am 25. April 1971 und 19728.1 hißten wir auf den Dächern der Mietskasernen in Lorenteggio und Giambellino mindestens zweihundert Fahnen der BR: Ein gelber Stern im Kreis auf rotem Untergrund. Fahnen, die Mütter, Schwestern, Tanten und Großmütter der Genossen aus dem Viertel genäht hatten. Die Zeitungen berichteten darüber, ohne es jedoch zu begreifen oder begreifen zu wollen. Ich erinnere mich noch an die ratlosen Gesichter der Reporter und Polizisten: »Was bedeuten diese Fahnen? Sie sind nicht von der PCI und auch nicht von den Gewerkschaften, von woher kommen sie?«



Im Lorenteggio wehten also die Fahnen der BR, und in den Arbeiterstadtteilen breitete sich euer Ruhm aus. Wie seid ihr mit dem Zulauf umgegangen?

Wir wurden größer, aber es war uns damals nicht so wichtig, die BR in eine weitverzweigte Gruppe mit einer viel größeren Ausdehnung zu verwandeln. Wir zielten auf eine Organisierung der revolutionären Macht »von unten«. Wir wollten, daß sich in den Fabriken und Stadtteilen Avantgardegruppen bildeten, die in der Lage sein sollten, selbsttätig zu operieren. Wir waren damals alles andere als Zentralisten und verfügten auch über hervorragende Beziehungen zu Aktivisten von Potere Operaio, Lotta Continua und anderen kleineren Gruppen.

Eine Handvoll Genossen trennte sich von uns, um das zu bilden, was wir dann den »Super-Clan« nannten, also ein Grüppchen aus Super-Klandestinen. Sie waren mit unserer »offenen« Art, die Dinge anzugehen, nicht einverstanden. Eine nebensächliche Angelegenheit, die aber noch zu zahlreichen Spekulationen führen sollte.



Was war der Auslöser für die Abspaltung des »Super-Clans«?

Alles begann mit einem Machtkonflikt auf dem Treffen von Pecorile. Corrado Simioni war mit der Absicht dort aufgekreuzt, sich eine hegemoniale Position innerhalb der im Sterben liegenden Sinistra Proletaria zu erobern. Er hielt einen besonders harten Redebeitrag und forderte, daß der Ordnungsdienst weiter militarisiert werden müsse. Sein Vorhaben schlug fehl, aber er gab auch später in Mailand nicht auf. Ohne jemanden von uns zu unterrichten, schlug er den Verantwortlichen des Ordnungsdienstes und den Roten Tanten illegale Aktionen und Anschläge vor. Aktionen, die aber für eine Organisation, die noch in eine breite und praktisch für alle offene Bewegung integriert war, undenkbar waren. Unter anderem schlug er Margherita vor, einen Koffer voll Sprengstoff am Eingang des US-Konsulats in Mailand abzustellen.

Margherita, Franceschini und ich waren uns einig, daß seine Vorgehensweise unüberlegt und riskant war. Wir beschlossen, ihn und die Genossen, die ihm am nächsten standen, Duccio Berio und Vanni Molinaris, zu isolieren. Wir hielten sie aus der Diskussion über die Entstehung der Roten Brigaden heraus und informierten sie nicht über unsere erste Aktion gegen das Auto von Pellegrini. Als wir unser Bekennerschreiben verteilten, kam Simioni zu mir und fragte mich: »Seid ihr das gewesen? Warum habt ihr davon nichts gesagt?« Meine Antwort war hart: »Ich möchte diese Dinge nicht mehr mit dir diskutieren, unsere Ansichten sind zu unterschiedlich.«

Er wußte, daß der Bruch endgültig war, und im Widerspruch zu dem, was er noch kurze Zeit vorher unserem Ordnungsdienst vorgepredigt hatte, ermahnte er mich. Er sagte, daß wir schnell identifiziert würden, da man nicht mit illegalen Aktionen beginnen könne, ohne zuvor eine abgeschottete und gegliederte Organisation aufgebaut zu haben.



Was machte Simioni nach diesem Bruch?

Ich habe ihn danach nicht mehr gesehen. Er sammelte mit Berio und Molinaris ein Grüppchen von etwa einem Dutzend Genossen um sich, darunter Prospero Gallinari und Françoise Tuscher, die Enkelin des berühmten Abbé Pierre. Sie trennten sich von der Bewegung, da diese ihre Meinung nach mittlerweile nichts weiter als ein Haufen streunender Hunde war. Allerdings hielten uns gemeinsame Freunde über ihre internen Diskussionen auf dem laufenden. Auch waren wir mit ihrem Projekt vertraut. Sie wollten eine geschlossene und sichere, extrem klandestine Struktur aufbauen, die in einem zweiten Moment als bewaffnete Gruppe in Aktion treten sollte. Und zwar zu einem Zeitpunkt, von dem sie glaubten, daß wir, desorganisiert, wie wir nach der chaotischen Übergangssituation waren, alle auf einmal festgenommen worden wären.

In Wirklichkeit hielten sie ein Jahr lang nichts anderes als familiäre Schwätzchen und lösten sich dann auf. Auch weil die Roten Brigaden in der Zwischenzeit wuchsen und sie in immer bedenklicherer Weise isoliert blieben.



Simioni hat die Dinge in einem Interview mit dem Journalisten Sandro Acciari anders erzählt: »An der Entscheidung für den bewaffneten Kampf brachen wir mit der Gruppe von Curcio. Ausgehend von einer gemeinsamen Analyse kamen wir zu zwei entgegengesetzten Schlüssen: Das Militarisierungskonzept der Macht brachte Curcio dazu, eine Militarisierung des Klassenkampfes zu propagieren ... Wir allerdings haben sogar den politischen Kampf aufgegeben, da wir dachten, die einzige Hoffnung bestünde in der Überwindung der Gewalt.« Wie lautet die Wahrheit?

Ganz unabhängig von ihren ursprünglichen Absichten blieb es dabei, daß die von »Super-Clan« nicht den Weg des bewaffneten Kampfes einschlugen. Das ist alles, was zählt. Abgesehen davon scheint es mir mehr als verständlich, daß Simioni angesichts der Verdächtigungen, die gegenüber ihm und seiner Schule geäußert wurden, dem Journalisten ein derartiges Märchen erzählt hat.



Warum sind Simioni, Berio und Molinaris nach Paris gezogen?

In Italien war ihre Situation unhaltbar geworden. Einige ihrer Genossen, wie Gallinari, hatten sich uns angenähert. Soviel ich weiß, fiel die Wahl auf Paris aus praktischen Gründen. Die Tuscher hatte in Frankreich viele Bekannte. Es fiel ihr also nicht schwer, dort eine große Wohnung und das notwendige Geld aufzutreiben, um die Sprachschule Hypérion zu eröffnen.



Einige Staatsanwälte haben vermutet, daß gerade die Hypérion eine multinationale subversive Zentrale verbarg. Und Bettino Craxi hat mehrmals von einem »großen Alten« des Terrorismus geredet, wobei er zu verstehen gab, daß er Simioni meinte, der von Paris aus die geheimen Fäden zöge. Steckt in diesem Szenario etwas Wahres?

Ich glaube, daß das alles frei erfunden ist. Wir hatten alle Beziehungen zum »Super-Clan« abgebrochen, noch bevor die Roten Brigaden entstanden waren. Im Knast habe ich die Gelegenheit gehabt, lange mit Molinaris zu sprechen, den sie nach der Entführung von Moro verhaftet hatten. Er meinte, daß alle gegen sie geäußerten Verdächtigungen auf dem sorglosen Geschwätz aus der Zeit von Sinistra Proletaria beruhen.

Was Craxi betrifft: Er hat sich Simioni in der Rolle des »großen Alten« aus dem einfachen Grund vorgestellt, daß er ihn aus den Zeiten, in denen sie gemeinsam in der Mailänder PSI aktiv gewesen waren, gut kannte und ihn zu Recht als intelligente Person von machiavellistischer Skrupellosigkeit einschätzte. Da der sozialistische Generalsekretär sicherlich einfach davon ausging, daß im Untergrund wenig intelligente Leute zu finden seien, schien es ihm logisch, daß eine Person wie Simioni wahrscheinlich eine Position als Superanführer inne haben müßte. Letztendlich handelte es sich um Hirngespinste und bloße Annahmen.



In dem Interview, das ich schon zitiert habe, hat Simioni auch Folgendes gesagt: »Der bewaffnete Kampf in Italien war zu Ende, als sie Curcio verhafteten. Danach war alles anders: Die militaristischen Technokraten triumphierten ... Curcio war ein Politiker, während Moretti es nie gewesen ist. Er war nur ein Technokrat, ein erschreckend ungehobelter Mann, der den Fanatismus immer über die Überlegung gestellt hat.« Für dich sicherlich ein schmeichelhaftes Urteil, vernichtend aber für deinen Nachfolger. Was sagst du dazu?

Nein, das stimmt so nicht. Moretti und ich haben zwar in den BR zwei verschiedene politische Linien vertreten. Das bedeutet aber nicht, daß Moretti kein politischer Kopf gewesen wäre.

Mit dem Tod von Margherita, mit meiner und Franceschinis Verhaftung kam es jedoch in den Roten Brigaden plötzlich zu einem Ungleichgewicht zwischen den beiden Seiten, die sich bis dahin gut ergänzten. Es stimmt, daß Moretti technokratische Ansichten hatte, aber deswegen ist er noch lange kein »ungehobelter Klotz«. Moretti ist ein großer Kenner klassischer Vokalmusik ...



Wie kam Moretti in die BR?

Er war in dem Basiskomitee, das die ersten Kämpfe bei Sit-Siemens geführt hatte. Wir kannten uns bereits aus der Zeit von Sinistra Proletaria. Eines Tages im Frühjahr 1971, kurz nachdem wir mit unseren »symbolischen Aktionen« begonnen hatten, begegneten Margherita, Franceschini und ich Moretti an den Toren von Siemens. Damals liefen wir noch seelenruhig durch die Gegend und gingen vor die Fabriktore. Er erzählte uns, daß die Sachen, die wir machten und vertraten, die Anschläge auf die Autos der Bosse und unsere politischen Ansichten, in seinem Umfeld eine gewisse Resonanz finden würden, und er bat uns darum, unsere Aktionen aus der Nähe verfolgen zu können. So kam er schrittweise in die Organisation hinein, und er war es auch, der wenig später die Entführung des Ingenieurs Idalgo Macchiarini vorschlug.

Nach Moretti stießen der Reihe nach Maurizio Ferrari, Arbeiter in der »Rußabteilung« von Pirelli, und Alfredo Bonavita zu uns, ein Spezial-Schweißer, der eigens aus Taranto angereist kam, wo er bei Italsider arbeitete, um Kontakt mit uns aufzunehmen.



Und wie verhielt es sich mit der Szene aus den Arbeitervierteln Mailands?

Die wichtigste Person war hier für uns von Anfang an Pierino Morlacchi. Er kannte wirklich alle und war eine absolute Größe in Lorenteggio. In Quarto Oggiaro waren es Arialdo Lintrami, Arbeiter bei Breda, und Valerio De Ponti, ein sechzehnjähriger Junge, der Margherita sehr mochte. Es gab noch einen weiteren Genossen aus dem Stadtteil, der eine wichtige Rolle bei der Entstehung der BR spielte. Ihn kann ich nicht nennen, da er 1974 aus persönlichen Gründen die Gruppe verließ und niemals identifiziert wurde.



Fahndete die Polizei bereits nach den ersten Aktionen und den ersten Flugblättern, unter denen der Name BR stand, nach euch?

Ja, sie wußte auch mehr oder weniger wer wir waren. Aber es gelang ihr nicht, uns etwas nachzuweisen. Die Polizei hatte vor der Macchiarini-Entführung die kleine Wohnung, in der ich mit Margherita lebte, einige Male durchsucht. Sie suchten nach Flugblättern und der Matritzenmaschine, aber die waren woanders. Für unsere ersten Flugblätter benutzten wir eine alte Matritzenmaschine von Sinistra Proletaria, die wir in einem Keller bei Barona versteckt hatten, den die Ermittler nie fanden.



Eure erste Entführung war die des Ingenieurs Macchiarini am 3. März 1972. Warum hattet ihr euch für diese Eskalation im Rahmen einer subversiven Strategie entschlossen?

Wir konnten nicht damit fortfahren, alte Autos und Pirelli-Reifen abzufackeln. Wir beabsichtigten, eine Aktion im Stil der Tupamaros durchzuführen. Eine symbolische Strafaktion gegen eine besonders verhaßte Person. Von dem Entführten sollte ein Foto gemacht werden, das millionenfach gedruckt unsere Botschaft verbreitet hätte.

Macchiarini war Leiter einer Niederlassung von Sit-Siemens und verantwortlich für Betriebsumstrukturierungen. Er war der Alptraum der Arbeiter, die bei internen Demonstrationszügen schon mehrmals erfolglos versucht hatten, gegen ihn vorzugehen und ihm den Prozeß zu machen. Bevor wir diese Aktion ausführten, diskutierten wir wie üblich jede Einzelheit. Wir wollten ihn gefangennehmen und ihm die Fragen stellen, die den Arbeitern am Herzen lagen.

Das Bild der auf den Gefangenen gerichteten Pistole war für den Erfolg dieser Entführungsaktion sehr wichtig gewesen. Die Waffe auf dem Polaroid-Foto machte zum ersten Mal eine Aktion des bewaffneten Kampfes im Italien der '70er sichtbar. Tatsächlich war diese Waffe ein altes verrostetes Ding, mit dem man wahrscheinlich nicht einmal schießen konnte. Aber die Pistole als tatsächliche Waffe war nicht relevant. Was zählte, war die übertragene Botschaft, die über alle Medien verbreitet werden konnte: Der Kampf ist bewaffnet.



Ab wann waren die BR wirklich eine bewaffnete Organisation? Wann habt ihr euch Schußwaffen besorgt? Und wie?

Gleich nach dem Massaker von der Piazza Fontana zirkulierten in der Bewegung einige Pistolen. Wir haben aber den Waffen zunächst nicht viel Bedeutung beigemessen. Auch weil wir nicht im Untergrund lebten, sondern in Wohnungen, in denen sehr viele Leute ein und aus gingen. Es wäre unmöglich gewesen, sie zu verstecken.

Die Bewaffnung der ersten BR stellte jedenfalls eine eher skurrile, romantische Angelegenheit dar. Die Pistolen und einige vereinzelte Mab-Maschinengewehre waren Überbleibsel aus dem Krieg. Partisanen-Genossen hatten sie aufgehoben und uns in teilweise bewegenden Zeremonien übergeben. Ich habe melancholische Erinnerungen an diese mittlerweile verschwundenen alten Kommunisten, die in ihren Erwartungen einst bitter enttäuscht worden waren. »Wir vertrauen auf euch«, sagten sie. »Unsere Hoffnung ist, daß ihr die Geschichte erfolgreich fortsetzen könnt, an der wir gescheitert sind.« Ihre Waffen zu bekommen, mit denen sie dreißig Jahre zuvor gegen die Faschisten gekämpft hatten, war für uns eine ungeheure Bestätigung.

Einer von ihnen, ein Fünfundsechzigjähriger, der als Partisan in den Bergen um Novara gekämpft hatte, rührte mich besonders. Er drückte mir seine uralte Pistole aus dem Spanienkrieg in die Hand und sagte: »Schau, ich habe sie lange Jahre aufgehoben, sie funktioniert noch einwandfrei. Paß aber auf ...« Er wollte unbedingt an einer Aktion teilnehmen. Nur mit viel Mühe und Überredung konnte ich ihn davon abbringen.



Kehren wir zu Macchiarini zurück. War es schwer, ihn zu entführen?

Wir hatten die Aktion lange vorbereitet. Wir mußten jemanden mitten in der Stadt einsacken und so schnell wie möglich an einen sicheren Ort transportieren. Wir studierten dazu verschiedene Techniken. Die Erfahrung aus einem vorher in Mailand verübten Überfall war uns dabei von großer Hilfe ...



Ein Überfall, an dem du beteiligt warst?

Ja, es war einer unserer ersten Überfälle zur Eigenfinanzierung. Margherita, Franceschini und viele andere Genossen waren daran beteiligt. Wir wollten auch Erfahrungen sammeln, wie man sich eine Person inmitten einer Menge schnappt, ohne Aufsehen zu erregen. Wir wählten einen Geldboten einer Bank, der zu Fuß eine der zentralen Straßen Mailands entlanglief.

Die Operation verlief so erfolgreich, daß sie uns Probleme bereitete. Wir waren völlig unerfahren und ziemlich ängstlich und hatten eine viel zu große Gruppe in Aktion. Einige Pirelli-Arbeiter standen auf dem Gehweg und an den Kreuzungen herum, einer wartete im Wagen, um uns im Bedarfsfall rauszuholen. Zusammen mit einem anderen Genossen sollte ich den Geldboten abpassen und ihm seine Tasche abnehmen.

In den Tagen zuvor hatten wir den Bewegungsablauf unseres Mannes genau studiert. Als wir ihn an jenem Morgen herauskommen sahen, näherte ich mich von rechts, der andere von links. Wir hakten uns fest ein. Ich sagte zu ihm ganz sachlich: »Schau, du bleibst jetzt ganz ruhig und gibst uns die Tasche, die du unter deinem Arm trägst. Wir sind bewaffnet.« »Ja, ja, um Gottes Willen, nicht schießen«, flüsterte er und gab uns sofort die Tasche. Wir liefen einige Schritte mit ihm weiter. »Jetzt gehen wir dorthin, und du wirst weder telefonieren noch irgend etwas anderes tun, bis wir verschwunden sind ... Hinter dir stehen ein paar bewaffnete Freunde, die auf dich aufpassen werden.« »Ist gut, ist gut ...«

Daraufhin haben wir uns davongemacht. Die Tasche enthielt etwa fünfundzwanzig Millionen Lire, die wir bei mir zu Hause lagerten. Dann gingen wir zum Piazzale Lodi, wo sich alle beteiligten Genossen treffen sollten. Wir warteten eine Stunde, zwei Stunden. Niemand kam. Wir waren tiefbesorgt, womöglich war etwas Schlimmes passiert, nachdem wir abgehauen waren. Schließlich tauchte einer von Pirelli auf und erzählte uns, was passiert war: Wir waren derart diskret vorgegangen, und der Geldbote war nach dem Überfall so vorsichtig gewesen, daß niemand etwas bemerkt hatte. Nicht einmal unsere Genossen, die dort postiert waren und trotz der schon längst durchgeführten Aktion noch lange dort herumstanden. Diese Aktion war sehr aufschlußreich für uns gewesen. Den Ingenieur Macchiarini haben wir uns dann einfach am Fabrikausgang unter all den vielen Arbeitern geschnappt. Zwei Genossen sind zu ihm hingegangen: »Keinen Mucks, wir sind bewaffnet! Folgen Sie uns, und steigen Sie in den Transporter.« Wir hatten einen Kleintransporter Fiat 850. Er gehorchte, und alles lief glatt. Wir hielten ihn einige Stunden im Transporter fest und tourten mit ihm die ganze Zeit durch Mailand. Ohne gewalttätig zu werden, erklärten wir ihm, daß wir ihn nur gefangengenommen hätten, um uns über einige Besonderheiten des Unternehmens und der bei Siemens durchgeführten Umstrukturierungen informieren zu lassen. Er war ziemlich eingeschüchtert und beantwortete unsere Fragen bereitwillig. Bevor wir die Waffe auf ihn richteten, um das Foto zu knipsen, versicherten wir ihm, daß es sich hierbei nur um eine »symbolische« Geste handelte und er nichts zu befürchten hätte. Er erschrak zunächst fürchterlich, verstand aber dann, daß wir ihm die Wahrheit erzählten.

Das Foto von Macchiarini mit der auf seinen Kopf zielenden Pistole und dem umgehängten Schild ist dann überall auf den Titelseiten erschienen. Auf dem Schild stand unter dem Stern und dem Schriftzug ''Rote Brigaden'' »Schlag zu und verschwinde. Nichts bleibt ungestraft. Treffe einen, erziehe hundert. Alle Macht dem bewaffneten Volk.« Importlosungen, die in Italien bald gebräuchlich sein sollten.

Einige Tage nach der Entführung und dem Tod Feltrinellis wurden die Ermittlungen verstärkt, und wir hatten die Polizei am Hals. Wir mußten schleunigst verschwinden, um einer Verhaftung zu entgehen. Ab diesem Zeitpunkt bewegten wir uns im Untergrund.



Wie konnte euch die Polizei so schnell ausfindig machen?

Sie beschattete Giorgio Semeria8.2 und konnte sich teilweise auf die Aussagen von Marco Pisetta stützen.

Semeria kam vom Collettivo Politico Metropolitano, ein Genosse, der, als wir die BR gründeten, noch seinen Militärdienst absolvierte. Als er entlassen wurde, wollte er sofort mit uns zusammenarbeiten. Die Polizei hatte ihn offensichtlich bereits unter Observierung. Wir schlugen ihm vor, einen Laden in der Via Boiardo zu mieten, den wir als geheimen Stützpunkt nutzen wollten. Der sollte so hergerichtet sein, daß wir einen Entführten darin verstecken konnten. Bei den Bau- und Instandsetzungsarbeiten wurde Semeria von Pisetta unterstützt, den, wie ich schon erzählt habe, die Polizei wegen der Anschläge von Trento suchte und der mich gebeten hatte, ihm auf der Flucht zu helfen.

Eines Tages erschien die Polizei im Laden, traf aber nur Pisetta in seinen Maurerklamotten vor. Die Ermittler erkannten ihn, und da schwere Vorwürfe gegen ihn erhoben wurden, konnten sie ihn erpressen und zur Zusammenarbeit überreden. Er wußte aber nicht viel und erzählte auch nicht alles, was er wußte. Kaum wurde er wieder entlassen, rief er uns an und sagte: »Schaut, ich mußte reden. Ich habe folgende Dinge erzählt, aber darüber hinaus habe ich geschwiegen. Die Sache tut mir leid, haltet mich nicht für einen Spitzel, aber ihr habt mir ganz schön was eingebrockt. Ich will nicht wegen euch in den Knast ...« Seit jenem Augenblick war er verschwunden.

Die Informationen, die Pisetta preisgab, genügten der Polizei jedoch, um unsere Wohnungen zu identifizieren und sich dort auf die Lauer zu legen. Aber die Polizei war immer etwas zu früh oder etwas zu spät dran. Mal war es eine Nachbarin, mal ein Freund aus der Gegend. Jedesmal konnte uns jemand rechtzeitig vor der Polizei warnen. Auf diese Weise schlüpften wir durch die Maschen ihres ausgelegten Netzes. Nur Semeria wurde verhaftet.

Wir hatten Glück gehabt und wußten, daß wir sofort verschwinden mußten. Margherita, Franceschini, Moretti, Morlacchi, ich und andere Genossen der Gruppe - damals bestanden die BR aus etwa einem Dutzend aktiver Mitglieder, mit einem Umfeld von einigen hundert Sympathisanten - flohen aus unseren Wohnungen und ließen unsere Autos, Kleider, alle unsere Sachen zurück. Wir flohen praktisch ohne eine einzige Lira aus Mailand.

Die Sicherheitskräfte waren in jenem Mai '72 nur eine Haaresbreite davon entfernt gewesen, uns alle zu schnappen. Hätten sie das geschafft, wären Entstehung und Ende der Roten Brigaden zusammengefallen. So aber blieb die Gefährdung vorübergehend, und wir konnten uns zu einer bewaffneten Gruppe entwickeln, die ab diesem Zeitpunkt nun wirklich klandestin operierte.



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