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Online seit:
Tue Oct  7 23:10:45 1997
 

Regierungserklärung

... Aber ich wiederhole auch: Mit Gesetzgebung allein schaffen wir den Terrorismus nicht aus der Welt. Wir müssen ihm jeden geistigen Nährboden entziehen. Dazu ist es nötig, unseren Bürgern, zumal den jüngeren, die Einmaligkeit des liberalen Rechtsstaates in unserer nationalen Geschichte stärker erlebbar, stärker bewußt zu machen, als das bisher geschehen ist. Was die faschistische NS-Diktatur tatsächlich an gewaltsamer Vernichtung angerichtet hat und was sie anrichten wollte, muß jenen Menschen deutlich gemacht werden, jenen jungen Menschen, denen von Terroristen gesagt wird, man kämpfe gegen einen angeblich faschistischen Staat, während tatsächlich diese Menschen gleichzeitig dieselben Methoden benutzen wie viele Faschisten auf der Welt.
Die Intellektuellen in unserer Gesellschaft sollten den politisch Verantwortlichen im Prozeß der Aufklärung solcher junger Deutscher helfen, die noch ein unklares Urteil über Terroristen, über deren Motive und über deren scheinbare Rechtfertigung haben. Ich richte diesen Aufruf zumal an jene Universitätslehrer, Wissenschaftler, Philosophen, Schriftsteller, auf deren Stimme die junge Generation damals, in der zweiten Hälfte der 60er Jahre in der APO-Zeit, so sehr gehört hat. Jene bedeutenden und einflußreichen Intellektuellen, die am Anfang viele junge Menschen mit ihren Vorstellungen beeindruckt haben und die sich dabei doch keinen Augenblick lang die Möglichkeit solcher schrecklichen Verbrechen vorgestellt haben, sollten ihre besondere Verpflichtung und Chance erkennen.
Diese Aufklärung gelingt allerdings nicht mit den Mitteln der Einschüchterung, sondern kann nur gelingen durch argumentative Wahrhaftigkeit. Es geht ja nicht darum, das freie Denken einzuschränken, sondern darum, denen, die bisher kein klares Urteil haben, die Trennungslinie zum Terrorismus zu verdeutlichen und ihren Willen zur Verantwortung zu schärfen.
Die Identifikation mit unserem freiheitlichen Rechtsstaat kann freilich nur gelingen, wenn wir dessen Grundsätze in der staatlichen Wirklichkeit auch tatsächlich bewahren. Dazu muß gerade der jungen Generation gesagt werden, daß wir uns nicht von der Brutalität eines in Wahrheit doch verlorenen Haufens verleiten lassen wollen, uns zu jener Parole des Obrigkeitsstaates zurückzuflüchten, die da gebot, Ruhe sei die erste Bürgerpflicht, sondern das Recht auf Widerspruch, das Recht auf abweichende Meinung, das Recht auf deren Äußerung darf auch unter dem Eindruck verbrecherischer Anschläge gegen unsere liberale Ordnung nicht deformiert werden.
Wir haben unseren Staat nach den Erfahrungen der ersten deutschen Republik, der Weimarer Republik, auf ein Grundgesetz gebaut und mit Gesetzen ausgestattet, die uns erlauben, die demokratische und soziale, die rechtsstaatliche freiheitliche Grundordnung, die Grundwerte, auf die es uns ankommt, wehrhaft und offensiv zu verteidigen. Jene anderen aber, die unseren Staat, die die Bürger und die Diener dieses Staates und die Gemeinschaft insgesamt mit schwerster Gewalttat bekämpfen, können nicht auf einen Staat rechnen, der sie als verlorene Söhne behandelt.
Wo nach ruhigem Abwägen durch Politiker, durch Juristen, durch Fachleute der inneren Sicherheit die Instrumente nicht wirksam genug erscheinen, dort sollen sie verbessert und ergänzt werden. Wir müssen aber der Versuchung widerstehen, ein Geflecht von Gesetzen herzustellen, hinter dem eines Tages die Freiheit unsichtbar wird. Wer einer falschen und verhängnisvollen Solidarisierung mit Desperados von großer krimineller Energie entgegenwirken will und wer die Täter von der Gemeinschaft total isolieren will, darf dabei nicht riskieren, daß die Freiheit der Person zu einem Ausstellungsstück wird, das nicht mehr berührt, sondern nur noch in der Vitrine besichtigt werden kann.
Wir haben in Wahrheit zwei Aufgaben zu leisten. Zum ersten: den Terrorismus ohne Wenn und ohne Aber und ohne jede sentimentale Verklärung der Tätermotive zu verfolgen, bis er aufgehört haben wird, ein Problem zu sein. Aber die andere Aufgabe muß es sein, die Meinungsfreiheit kämpferisch und entschlossen zu verteidigen und über jeden Zweifel klarzumachen, daß Kritik an den vielerlei Obrigkeiten nicht nur statthaft ist, sondern daß sie für jeden demokratischen Staat prinzipiell erwünscht ist ...

(Quelle: Nr. 6, S.1444ff)


aus: Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland (BRD) - Rote Armee Fraktion (RAF), GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte, 1. Auflage Köln Oktober 1987

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