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Sun Jan 19 15:14:56 1997
 

Info 4 zum Prozess gegen Birgit Hogefeld

Inhalt:
Prozessbericht 7. Februar bis 9. Maerz
Prozesserklaerung  zu Pimental und zu Gegenueberstellungen im Prozess
Briefwechsel zwischen Goettinger Frauen und Birgit Hogefeld
Zur Diskussion gestellt: Zur ersten Prozesserklaerung von Birgit


Prozessbericht 7. Februar bis 9. Maerz 1995

Der Komplex Tietmeyer wurde am 9.2. mit der Ladung von Tietmeyer als
Zeugen abgeschlossen. Tietmeyer war 1988 Staatssekretaer im
Finanzministerium und ist inzwischen Bundesbankpraesident. Deutlich
wurde, wie bewusst und selbstverstaendlich solchen Kreisen die Gefahren
ihres Geschaefts sind, aber auch, wie unangetastet von Zweifeln sie sich
bewegen, wie sicher sie sich legitimiert sehen - legitimiert dadurch,
auf der richtigen Seite, auf der Seite der Macht zu stehen. Die Arroganz
der Macht ist die treffende Umschreibung von Tietmeyers Auftreten im
Prozess. Obwohl sein Erscheinen zu erhoehten Sicherheitsvorkehrungen
fuehrte, ist es ProzessbesucherInnen gelungen, fuer einige  Sekunden ein
kleines Transparent mit der Aufschrift IWF - Moerdertreff im Prozesssaal
zu entrollen. Der Apparat zeigte sich hier erstaunlich schwerfaellig
(fehlte vielleicht die sitzungspolizeiliche Anweisung von
Schieferstein?) - erst in der darauffolgenden Woche kam es zu
Personalienkontrollen bei 3 ProzessbesucherInnen, denen wohl - dies ging
aus Andeutungen der Beamten hervor - die Transparentaktion zugeordnet
werden sollte. Am 9.3. wurden diese 3 sowie eine weitere
Prozessbesucherin waehrend des Prozesses im Vorraum festgenommen. Dieser
Einsatz war offensichtlich vorbereitet und lief mit dem Kalkuel, dass es
sonst niemand mitkriegen sollte. Die 4 wurden voneinander getrennt ins
Polizeipraesidium verschleppt, wo sie mehrere Stunden festgehalten und
ED-misshandelt wurden. Dass hier auf Anweisung von Schieferstein gehandelt
wurde, liess sich aus den Bewegungen einzelner Polizeibeamter schliessen.
Vorgeworfen wird ihnen õ 90 (Verunglimpfung des Staates und seiner
Symbole), was sich vermutlich auf einen Aufkleber bezieht, der bereits
des oefteren im Prozessgebaeude geklebt war (Hessenloewe in Richt errobe,
der mit seinen Pranken auf dem Grundgesetz steht und ein Urteil wie
einen Knueppel schwingt). Warum diese Festnahmen am 9.3. erfolgten, wird
im weiteren Verlauf deutlich (s.u.).

Am 2.3. und 9.3.1995 ging es um den Anschlag der RAF auf den
US-Luftwaffenstuetzpunkt Airbase in Frankfurt vom August 1985. Es wurden
mehrere Polizisten vernommen, die die Erklaerung der RAF und den  Ausweis
des getoeteten US-Soldaten Pimental zur kriminaltechnischen Untersuchung
und Auswertung erhalten hatten. Ausserdem wurde der damalige Leiter der
amerikanischen Kripo befragt, der auch fuer die Einlasskontrolle an der
Air Base zustaendig war. Da diese alle Schieferstein und Hemberger nichts
gegen Birgit Verwertbares liefern konnten, wurden sie bald entlassen.
Danach  sollte einer der Zeugen auftreten, der die Frau identifizieren
sollte, die am Abend vor dem Anschlag im Western Saloon in Wiesbaden in
der Dotzheimer Strasse mit dem Soldaten P gesehen worden war und mit
diesem die Kneipe verlassen hatte, um ihn - so die Vermutung der
Anklaeger - in den Hinterhalt zu locken. Unmittelbar nach dem Anschlag
wurden dem Zeugen  Bilder von Frauen, die das BKA bei der RAF vermutet,
vorgelegt. Sie konnten keine Person identifizieren. 1993, also acht
Jahre nach den ersten Befragungen, wurden den Zeugen erneut Bilder von
Birgit vorgelegt, wohl in der Hoffnung, dass durch die Medienshow um die
Ereignisse von Bad Kleinen das Gesicht von Birgit auch den  Zeugen
haeufiger begegnet sei und sich so vielleicht in die Vergangenheit
projizieren lasse. Danach wurde den Zeugen der schon erwaehnte
manipulierte Film gezeigt, der mit Birgit und fuenf Polizistinnen
versteckt gedreht wurde. Der Zeuge Kalkar, der heute geladen war, hatte
nach dieser Filmvorfuehrung gesagt, dass eine Vergleichsperson eine
gewisse €hnlichkeit mit der Begleiterin von Pimental haette. BAW und
Gericht bestanden jetzt darauf, dass sich der Zeuge in der
Hauptverhandlung nach der Befragung noch einmal umschauen solle, ob
nicht jetzt doch eine €hnlichkeit bei Birgit mit der gesuchten Frau vom
Western Saloon festzustellen sei. Die Verteidigung machte vergeblich auf
das Unzulaessige und Manipulative dieses Vorgehens aufmerksam. Sie wiesen
hin auf die Suggestivwirkung und die mangelnde Beweiskraft einer solchen
Gegenueberstellung und, dass schon zahlreiche Oberlandesgerichte diese
Vorgehensweisen in vergleichbaren Faellen zurueckgewiesen haetten.
Hemberger meinte, er wisse das alles, aber dennoch sollte wie vorgesehen
verfahren werden. Das Gericht lehnte den Antrag der Verteidigung, die
Befragung von Kalkar zurueckzustellen und auch die Gegenueberstellung
nicht durchzufuehren, ab. Daraufhin gab Birgit eine Erklaerung zu ihrem
bevorstehenden Verhalten bei der Gegenueberstellung ab, die wir weiter
unten vollstaendig abdrucken. Sie kuendigte an, sich bei dem Versuch der
Gegenueberstellung vom Gerichtsraum abzuwenden und mit dem Gesicht zur
Wand Platz zu nehmen. Das Gericht liess den Zeugen ohne Kommentar zu
Birgits Erklaerung hereinkommen und fast ausschliesslich Schieferstein
befragte ihn, waehrend Richter Klein  seine Haekchen machte. Der Zeuge
beruft sich bei allen Fragen auf seine Aussagen, die er vor 10 Jahren zu
Protokoll gegeben hat, jetzt koenne er sich an nichts mehr erinnern,
weder an Gesichter noch an Vorgaenge in der Western Saloon-Kneipe vor 10
Jahren. Nebenklaeger Dollmann macht zum Schluss der Befragung den
Vorschlag, Birgit mit Gewalt umzudrehen, damit der Zeuge sie ansehen
kann. Das wurde vom Gericht abgelehnt, da der Gesichtsausdruck der
Angeklagten dann nicht mehr natuerlich wirke. Von dieser Haltung rueckte
Schieferstein, nachdem ihm wohl von der Bundesanwaltschaft der Kopf
gewaschen worden war, am naechsten Verhandlungstag nach der Befragung des
Zeugen Esquisito wieder ab. Esquisito war der Verkaeufer des Passat, der
beim Anschlag der RAF auf die Air Base benutzt wurde. Auch ihm wurden
einige Tage nach dem Anschlag Bilder vom BKA vorgelegt. Der Zeuge
erkannte eindeutig Sigrid Sternebeck als Kaeuferin des Passat wieder. Das
BKA war damals gluecklich ueber eine so klare Aussage. Als sich spaeter
herausstellte, dass Sigrid Sternebeck 1985 schon lange in der DDR weilte,
gab's lange Gesichter. Wer meint, dass damit die Sache erledigt sei,
verkennt den politischen und kriminalistischen Korruptions- und
Manipulationswillen des BKA und derer, die das benutzen, um zu dem
politisch erwuenschten Urteil zu kommen. Obwohl es klar war, dass die
Erinnerung des Zeugen, der nicht in der Lage war, schon kurz nach dem
Verkauf die Kaeuferin zu identifizieren, erst recht nicht mit
fortlaufender Zeit praeziser werden koennte, machte das BKA mehrere neue
Anlaeufe: 1990, also fuenf Jahre nach dem Verkauf des Passat, macht sich
das BKA wieder mit Lichtbildern - diesmal ohne Sigrid Sternebeck - auf,
um zu einem neuen Ergebnis zu kommen. 1993, nach der Verhaftung von
Birgit Hogefeld, wurde nochmals nachgesetzt, diesmal mit dem klaren
Ziel, dass Birgit Hogefeld die erwuenschte Person sei, wie der Zeuge es
selbst nannte, die er zu identifizieren habe. Mit 80%iger Sicherheit
meinte er schliesslich, es koennte Birgit Hegefeld gewesen sein. Einige
Tage spaeter wurde ihm der schon mehrfach erwaehnte Videofilm von
Preungesheim vorgefuehrt, diesmal identifizierte er eine
Vergleichsperson, also eine Polizistin, als Kaeuferin. Die Dokumentation
der polizeilichen Zeugenbefragungen und Lichtbilder-Identifizierungen
aus frueheren Jahren ist in den Akten stets unvollstaendig. Dies
erschwert, die Sicherheit, mit der Zeuginnen und Zeugen zu frueheren
Zeitpunkten zu Identifizierungen kamen, abzuschaetzen und zu bewerten.
Deswegen draengen die Anwaelte schon seit Wochen auf Vervollstaendigung der
Akten, u.a. um alle den  Zeuginnen und Zeugen jeweils vorgelegten
Lichtbildmappen. Das alles ficht die Bundesanwaltschaft und das Gericht
nicht an. Sie lassen bisher auch nicht die Polizisten vor Gericht
erscheinen, die diese Zeugenfuehrungen in die jeweils gewuenschte Richtung
vorgenommen haben. Denn dann wuerde die Schieberei in aller
Oeffentlichkeit noch deutlicher. Stattdessen wollen sie dem ganzen die
Krone aufsetzen, indem sie Birgit mit Gewalt den Zeugen vorfuehren. Die
Bundesanwaltschaft drueckt das so aus: Was der Zeuge vor 10 Jahren
erkannt und gesagt hat, ist uninteressant, entscheidend ist, was er
heute sagt und erkennt. Das ist mehr als Manipulation, d.h. das Wasser
nach oben fliessen lassen. Fuer diese Dreistigkeit haben sie die
Oeffentlichkeit verkleinert und vier BesucherInnen, die die Verhandlung
kontinuierlich, kritisch und intensiv verfolgt haben, fuer diesen
Nachmittag mit fadenscheinigen Gruenden festgesetzt. Mit einem
Befangenheitsantrag versuchte die Verteidigung, Bundesanwaltschaft und
Schieferstein noch zu bremsen. Vergeblich. Schieferstein gab den Befehl,
zwei Polizistinnen stuerzten sich auf Birgit, reissen sie vom Stuhl,
verdrehen ihr die Arme auf den Ruecken, schlagen Handschellen um ihre
Handgelenke. Birgit schreit, sie reissen ihr die Kapuze vom Kopf und
hebeln den Kopf mit solcher Gewalt hoch, dass sie ihr gleichzeitig die
Luftroehre zudruecken. Birgit kann noch herauspressen, dass sie keine Luft
bekomme. Die Polizistinnen lassen ein wenig locker. Die
ProzessbesucherInnen hinter der Scheibe schreien und bruellen. Richter und
Anklaeger vor der Scheibe betrachten mit Ruhe das Geschehen,
Schieferstein stellt eiskalt seine Frage, ob der Zeuge die Angeklagte
als Kaeuferin wi edererkenne. Er verneint es. Schieferstein gibt Befehl,
die Gefesselte freizugeben. Eine Versorgung der verletzten Handgelenke
durch einen Arzt oder Sanitaeter lehnt er ab. Eine kurze Erholungspause
gesteht er nach langem Hin und Her Birgit zu, lehnt es aber ab, dass ihre
Mutter, Marianne Hogefeld, zu ihr gehen darf. Da sie bekanntlich wenig
in der Hand haben, setzen sie darauf, durch diese unzulaessigen
Suggestiv-Gegenueberstellungen in der Hauptverhandlung Beweise, die sie
noch nicht haben, zu produzieren. Die Gegenueberstellung in der
Hauptverhandlung wird moeglicherweise neue Erkenntnisse bringen...,
meinte die BAW bereits in der Anklageschrift. Es ist damit zu rechnen,
dass sie so schnell von dem in der Anklageschrift angekuendigten Vorgehen
nicht ablassen und dass es bei den naechsten Prozessterminen auf
richterliche Anordnung zu weiteren Gewaltanwendungen gegen Birgit kommt.



Prozess-Erklaerung von Birgit Hogefeld vom 2. Maerz 1995	
zu Pimental und zu beabsichtigten Gegenueberstellungen im Prozess

Vor kurzem hat die Beweisaufnahme zu den Anklagekomplexen Air-Base und
Pimental angefangen und ab dieser Woche sollen Zeugen vernommen werden,
die an dem Abend, als Pimental erschossen worden ist, mit ihm zusammen
in der Kneipe waren.

Die Erschiessung des GI Edward Pimental war eine der schlimmsten
Fehlentscheidungen der Raf. Ich denke, dass das, was damals abgelaufen
ist: einen einfachen US-Soldaten zu erschiessen, um an dessen Ausweis zu
kommen, in keiner Weise mit revolutionaerer Moral und Utopien von einer
menschlichen Gesellschaft vereinbar ist. Eine Aktion wie diese ist aus
menschlicher und moralischer Sicht ganz einfach nicht zu rechtfertigen.
Nie war die Kluft zwischen dem Denken und Fuehlen von linken bzw.
fortschrittlichen Menschen in diesem Land und einer Aktion der Raf
groesser als bei dieser Erschiessung - es waren zwei Welten. Meiner Meinung
nach reicht es aber nicht aus, die Erschiessung Pimentals einfach bloss
als schlimme Fehlentscheidung zu bezeichnen, ohne zugleich eine Antwort
auf die Frage zu suchen, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen, die
mit der Vorstellung aufgestanden waren, fuer eine bessere Welt zu
kaempfen, sich so weit von ihren eigenen Idealen entfernen konnten. Ueber
diese Frage, darueber, was in der Raf-Geschichte falsch gelaufen ist, und
was aus den Fehlern, aber auch aus den Staerken fuer die Zukunft zu lernen
sein kann, darueber werde ich demnaechst ausfuehrlich reden.

Gerade wegen der massiven Kritik, auf die die Erschiessung Pimentals
gestossen ist, will die Bundesanwaltschaft unbedingt meine Verurteilung
in diesem Fall. Sie will die Verknuepfung zwischen dieser Erschiessung und
mir nicht nur, weil sie damit das lebenslaenglich-Urteil gegen mich in
der Tasche haette, das natuerlich sowieso. Die Bundesanwaltschaft will
diese Verknuepfung auch deshalb, weil ich seit meiner Verhaftung
sozusagen als Person fuer die inhaltliche Neuorientierung der Raf stehe,
die 1992 zur Ruecknahme der Eskalation von unserer Seite aus gefuehrt hat
- fuer uns war das die Entscheidung dafuer, mit all denen, denen es in
diesem Land darum geht, Wege fuer eine menschliche
Gesellschaftsentwicklung zu suchen, zusammen-kommen zu koennen. Die
Pimental-Anklage gegen mich richtet sich auch gegen diesen Versuch. Die
Anklage wegen der Erschiessung des US-Soldaten, die damals zu einer
tiefen Kluft zwischen grossen Teilen der Linken und der Raf gefuehrt hat,
soll heute dazu dienen, alte Trennungen neu festzuklopfen und ihre
Ueberwindung verhindern.

Die bisherigen Ermittlungen haben nicht zu dem von der
Bundesanwaltschaft erwuenschten Ergebnis gefuehrt. Obwohl alle Zeuginnen
und Zeugen immer wieder vernommen worden sind und ihnen dabei unzaehlige
Lichtbildmappen und Videofilme auch mit Fotos von mir vorgelegt worden
sind, sagt niemand, dass ich die Frau gewesen waere, die mit Pimental
zusammen die Kneipe verlassen hat - nur einer der GIis sieht zu mir eine
grosse €hnlichkeit, gibt aber gleichzeitig an, dass er kurzsichtig ist und
dass er an dem betreffenden Abend seine Brille nicht dabei gehabt haette.
Andere Zeugen schliessen aus, dass ich diese Frau bin. Die
Bundesanwaltschaft hat also bei all ihren Versuchen, mich als die
'Pimental-Begleiterin' zu praesentieren, ihr Ziel nicht erreicht und
startet jetzt hier waehrend der Hauptverhandlung ihren letzten Anlauf, um
es doch noch zu erreichen. In der Anklageschrift heisst es: Ob die
Angeschuldigte tatsaechlich die Frau ist, die zusammen mit Edward
Pimental den 'Western Saloon' verliess, kann erst nach einer
Gegenueberstellung der Angeschuldigten mit diesen Zeugen in der
Hauptverhandlung beurteilt werden. Schon am letzten Prozesstag hat meine
Anwaeltin einen Beschluss dieses Senats zitiert, in dem es heisst, dass die
Verlaesslichkeit einer Wiedererkennung in der Hauptverhandlung nach den
gesicherten Erkenntnissen der Wissenschaft und der kriminalistischen
Praxis fragwuerdig ist, da sie durch vorangegangene Lichtbildvorlagen
beeinflusst sein kann. Diesen Beschluss hat dieses Gericht natuerlich nicht
in einem politischen Prozess gemacht. Den Zeugen wurden oefter Lichtbilder
- auch von mir - vorgelegt, ohne dass sie mich erkannt haetten. Dem Zeugen
Kalka, der heute kommt, wurde sogar der Videofilm vorgefuehrt. Er stellte
€hnlichkeiten mit einer Vergleichsperson fest, nicht aber mit mir. Und
es ist auch nicht verwunderlich, dass das Gericht seinen eigenen Beschluss
im Prozess gegen mich ausser Kraft setzt, indem es diese Anklage auch in
diesem Punkt zugelassen hat und mit den Zeugen hier eine
Gegenueberstellung inszenieren will. Schon mehrmals ist in den letzten
Monaten hier vorgefuehrt worden, dass Zeugen nach l aengerer Bearbeitung
mit solchen Bildern und Videofilmen ihre Aussagen aendern - eine Zeugin
will beispielsweise bei ihren ersten Vernehmungen mit Sicherheit Sigrid
Sternebeck als Mieterin eines Autos erkannt haben - nachdem ihr
nahegelegt wird, dass sie mich als die Automieterin identifizieren soll,
behauptet sie ploetzlich, dass sie nun mich wiedererkennen wuerde.

Aber auch die Auswahl der ZeugInnen, die geladen werden bzw. nicht
geladen werden, zeigt, dass dieses Gericht nichts unversucht laesst,
endlich den angeblichen Beweis fuer meine Taeterschaft bei irgend einem
der Anklagevorwuerfe zu kriegen. Entlastungszeugen werden grundsaetzlich
gar nicht erst geladen. In einem Fall wurde ein Autoverkaeufer geladen,
allerdings nicht auch seine Frau, obwohl diese laut Akten bei dem
Verkaufsgespraech anwesend war. In den Akten steht auch, dass die Frau
ausgesagt hat, die Kaeuferin des Autos haette schlechte und lueckenhafte
Zaehne gehabt, sie selbst wuerde bei allen Leuten sehr auf die Zaehne
achten, weil sie in einem Zahnlabor arbeitet. Wenn diese Zeugin ihre
Aussage vor Gericht wiederholt haette, waere zumindest dieser Autokauf
gegen mich vom Tisch gewesen, denn ich habe weder schlechte noch
lueckenhafte Zaehne. Es kann kein Problem sein, einen Zahnarzt zu finden,
der bestaetigt, dass auch bei Raf-Mitgliedern keine dritten Zaehne
nachwachsen und ich also die Zaehne, die heute in meinem Mund sind, von
Kindheit an immer gehabt habe.

Zurueck zu der Pimental-Anklage - die Personenbeschreibung dieser Frau
ist derart allgemein, dass sie auf Millionen Frauen zutrifft. Nach dem
bisherigen Prozessverlauf muss ich davon ausgehen, dass, wuerde hier statt
mir eine Schaufensterpuppe auf der Anklagebank sitzen, dann haette diese
Puppe vermutlich grosse Chancen, als die Frau identifiziert zu werden,
die mit Pimental die Kneipe verlassen haben soll. Aus diesem Grund
rechnet sich die Bundesanwaltschaft gute Chancen fuer ihren letzten
Versuch aus, mich doch noch als diese Frau identifizieren zu lassen. Ich
habe lange zusammen mit meinen Anwaelten ueberlegt, wie ich dem begegnen
soll - eigentlich habe ich dabei nur die Wahl zwischen verschiedenen
schlechten Moeglichkeiten, aber eins ist klar, ich werde mich hier nicht
zum Objekt dieser Inszenierung machen lassen. Ich werde mich nicht auch
noch daran beteiligen, wie dieses Gericht (entgegen seiner eigenen
Rechtsprechung in nicht-politischen Prozessen) hier eine
Wiedererkennungs-Inszenierung durchzieht, um sich Zeugenaussagen zu
basteln, die dann als Beweis gegen mich herhalten sollen, um dieser
Veranstaltung den Schein von 'Rechtsstaatlichkeit' zu verleihen.

Die hier geplante Gegenueberstellung werde ich nicht mitmachen, ich werde
mich waehrend der Zeugenvernehmungen mit dem Ruecken zu den Zeugen setzen.
Das ist zwar keine gute Loesung, doch ich will mich nicht ausschliessen
lassen, sondern auf jeden Fall an diesem Prozess teilnehmen. Aber ich
lasse mich hier auch nicht zum Objekt dieser Inszenierung der
Bundesanwaltschaft machen.



Briefwechsel zwischen Goettinger Lesben und Birgit

Im Oktober 1994 kam es  zu einem von SchliesserInnen provozierten
Uebergriff gegen Birgit im Knast. Beim Aufschluss hatte eine  andere
Gefangene  Birgit ein Bild geschenkt, was von SchliesserInnen als
verdeckte Uebergabe deklariert und zum Anlass genommen wurde, Birgit
gewaltsam nackt auszuziehen. Die Misshandlungen gegen sie, sagte Birgit
dazu, hatten auch den Charakter eines sexuellen Uebergriffs. Birgit hat
zu dem Vorfall eine veroeffentlichte Erklaerung geschrieben (abgedruckt im
Angehoerigeninfo Nr. 158 und auszugsweise in der Jungen Welt vom
23.1.95), in der sie auch den sexuellen Charakter des von Schliesserinnen
ausgefuehrten Uebergriffs gegen sich benannt und den Satz: Dazu muss mensch
wissen, dass die Struktur  in Frauenknaesten die ist, dass  hier sehr viele
lesbische Schliesserinnen arbeiten, die zu ihrem Lesbisch-Sein nicht
stehen ... sondern die versteckte Formen  dafuer suchen und deshalb einen
Job im Frauenknast annehmen (auch um Macht ueber andere  Frauen ausueben
zu koennen). Dies war fuer Goettinger Lesben Anlass  zu Fragen und Kritik an
Birgit. Wir drucken hier den Brief der Goettingerinnen und die Antwort
von Birgit ab.  Diese Auseinandersetzung, die mit diesen beiden Briefen
sicher nicht beendet sein wird, enthaelt Fragen nach Macht, Gewalt,
Sexismus und dem Zusammenhang dazwischen und betrifft so nicht nur
Birgit und einige Lesben. info ag
 
Liebe Birgit 
Im Angehoerigen Info, Nr. 158 haben wir deinen Bericht zu einem Ueberfall
auf dich gelesen. In dem Teil, in dem du etwas zu lesbischen
Schliesserinnen schreibst, stutzten wir. Nach einer Diskussion darueber
entschlossen wir uns, dir zu schreiben, damit Fragen und Unklarheiten
diskutiert und vielleicht geklaert werden koennen. Wir sind eine Gruppe
von Lesben, die schon seit einigen Jahren in autonomen
Frauen-Lesbenzusammenhaengen aktiv sind. Wir sind unterschiedlicher
Herkunft, Alters und arbeiten in verschiedenen Berufen. Es geht um deine
Darstellung zu lesbischen Schliesserinnen. Wir wissen, dass Lesben als
Schliesserinnen arbeiten, das erst mal vorweg. Eine unserer Fragen an
dich ist, woher du weisst, dass es sehr viele lesbische Schliesserinnen
gibt, wenn die Schliesserinnen doch versteckt ihr Lesbisch-Sein leben,
wie du schreibst. Uns ist auch nicht klar, was du mit versteckte Formen
meinst. Wenn es aber um die Machtausuebung ueber andere Frauen/ Lesben
geht, dann hat das erstmal gar nichts mehr mit Lesbisch-Sein zu tun,
sondern es geht allgemein um Machtausuebung ueber andere, egal ob Lesbe,
Hetera oder Typ, und es geht um die verschiedenen Motivationen dazu. Das
sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Lesbisch sein bedeutet nicht,
Macht ueber andere Frauen/ Lesben zu haben, haben zu wollen. So wie du
das aber schreibst, setzt du Lesbischsein mit Machtausuebung gleich. Hier
solltest du doch etwas mehr differenzieren. Welches Verhaeltnis hast du
eigentlich zu Lesbisch-Sein? Was bedeutet Lesbisch-Sein fuer dich? Auch
haben wir uns gefragt, was mit den heterosexuellen Schliesserinnen ist?
Warum ueben sie den Beruf aus? Sind sie die Untergeordneten in ihren
Heterobeziehungen und muessen sie ihre unterdrueckten Aggressionen an
weiblichen Gefangenen abreagieren/ausueben? Wir haben uns ziemlich ueber
deine Beschreibung geaergert, weil wir nicht automatisch wegen unserer
lesbischen Identitaet gewalttaetig sind. Natuerlich wissen wir auch, dass es
zu solchen Uebergriffen, wie du sie leider schon oefters erlebt hast,
kommt - auch von Lesben, aber die heterosexuellen Schliesserinnen da
aussen vor zu lassen, ist falsch. Ebenso ist es voellig falsch, die
maennlichen Schliesser in diesem Zusammenhang nicht zu erwaehnen, obwohl
sie ja auch offensichtlich an dem Ueberfall beteiligt waren. Zitat: war
die Provokation laengst abgesprochene Sache zwischen den
Schliesserlnnen..., und weiter haben mich mit 6-8 Leuten (die Haelfte
davon Maenner) zur Kammer geschleift. In der Kammer haben sie mir alle
Kleider vom Leib gerissen, die Kleider haben sie bezeichnender Weise
nicht mal durchsucht, es ging ihnen ganz offen nur um Misshandlung und
Erniedrigung. Wir fragen uns, warum du die lesbischen Schliesserinnen so
herausstellen musstest. Gerade durch deine Einleitung: dazu muss mensch
wissen... e rweckst du den Eindruck, als ob du eine ganz wesentliche
Hintergrundinformation ueber die Struktur in Frauenknaesten gibst. Nicht
Macht, sexuelle Uebergriffe und Misshandlungen im Knast erscheinen dadurch
mehr fuer die Leserlnnen als das eigentliche Problem, sondern die
lesbischen Schliesserinnen. So, das waren erst mal die Fragen, die wir an
dich hatten. Wir hoffen, du hast Lust und findest Zeit, sie uns zu
beantworten, was dazu zu schreiben. Wir wuerden uns darueber freuen,
moechten das gerne verstehen, dich nicht falsch verstehen. Alles Liebe
und herzliche Gruesse Einige Lesben aus Goettingen Nachwort zu unserem
Brief Vielleicht hat Birgit Hogefeld, der wir diesen Brief auch direkt
zugeschickt haben, es gar nicht so gemeint, sich schlicht
missverstaendlich ausgedrueckt. Aber Klischees und Vorurteile gegenueber
Lesben sind nach wie vor auch unter Linken und Linksradikalen weit
verbreitet. Und es gibt leider sicherlich genuegend Leserlnnen ihres
Berichts, fuer die eine gewalttaetige Lesbe voller Machtgelueste genau zu
ihrem Bild von Lesben allgemein passt. Wir veroeffentlichen unseren Brief
an sie, damit solche Klischees nicht einfach stehenbleiben, ueberlesen
werden und nicht hinterfragt doch irgendwie in den Koepfen herumspuken.

Antwort von Birgit

Liebe ...
ich habe Euren Brief bekommen und jetzt auch in der JW gelesen und ich
finde es gut, dass ihr mir geschrieben habt. Es stimmt, dass meine
Darstellung zu einem Ueberfall von Schliesserinnen gegen mich so
interpretiert werden kann, als wuerde ich Lesbisch-Sein und Machtausuebung
gegen andere Menschen gleichsetzen und das will ich auf gar keinen Fall.
In eurem Nachwort gesteht ihr mir zwar zu, dass ich mich vielleicht
einfach missverstaendlich ausgedrueckt haette, aber ich weiss von mir, dass
ich mich darum bemuehe, unmissverstaendlich zu reden und zu schreiben und
ich muss mich deshalb fragen, warum ich damit so sorglos umgegangen bin.
Die Klischees und Vorurteile gegen Lesben und Schwule sind mir natuerlich
bekannt und bei einer Freundin und einem Freund, mit denen ich noch
waehrend meiner Schulzeit in einer WG zusammengelebt habe, habe ich
unmittelbar mitbekommen, wie sehr Menschen unter diesen Vorurteilen und
dem Druck zur Anpassung an die Normalitaet leiden. Fuer beide hat sich in
dieser Zeit entschieden, dass sie zu ihrem lesbisch-sein bzw. schwul-sein
stehen und es gegen alle gesellschaftlichen und v.a. auch familiaeren
Widerstaende leben wollen. Beide haben sich auf ihrem Weg dahin immer
wieder in normale Beziehungen gequaelt, x-mal versucht, ob es nicht doch
auch bei ihnen funktioniert, bis endlich die Entscheidung und auch das
Bewusstsein reif war, zu sagen: ich bin lesbisch bzw. ich bin schwul. Aus
dieser und anderen Erfahrungen von und mit Freundinnen und Freunden,
denke ich, dass ich diese Vorurteile so nicht habe, aber ich selber habe
darunter nie gelitten, habe sie immer nur von aussen mitgekriegt. Gerade
aus diesen Erfahrungen muesste ich aber Verantwortung dafuer uebernehmen,
solche Klischees abbauen zu helfen. Insofern war Euer Brief fuer mich ein
wichtiger Anstoss, darueber nachzudenken und mir diese Verantwortung
bewusst zu machen und z.b. Texte zukuenftig dahingehend abzuklopfen, dass
ich auf keinen Fall Formulierungen gebrauche, die dazu beitragen koennen,
solche Vorurteile zu reproduzieren. Die Formulierung lesbische
Schliesserinnen kann so nicht stehen bleiben, richtig ist, dass es hier
Schliesserinnen gibt, die lesbisch sind und die sich diesen Job
ausgesucht haben, um Macht - auch in Form von sexuellen Uebergriffen -
gegen gefangene Frauen auszuleben und die (und das sind nicht wenige)
waren damit gemeint. Es geht natuerlich auch von den Schliesserinnen, die
heterosexuell sind, Macht und Erniedrigung gegen uns aus, aber da kommt
das Moment des sexuellen Uebergriffs nicht auch noch dazu - und es gibt
auch Schliesserinnen, die lesbisch sind, von denen nie gegen eine von uns
ein sexueller Uebergriff ausgeht. Jetzt noch mal zu dem Bericht selber -
ich schrieb: Uebergriff von Schliesserinnen, weil ich zwar von Maennern und
Frauen in die Kammer geschleppt worden bin, dort aber ausschliesslich von
Frauen festgehalten wurde, die mir die Kleider vom Leib rissen - ich
vermute, dass die Maenner draussen geblieben sind. Aber ich will auch
versuchen zu erklaeren, warum mir die Tatsache, dass es hier derartige -
auch sexuelle - Uebergriffe von Schliesserinnen gibt, wichtig und
erwaehnenswert ist. In meinem ganzen Leben vor meiner Verhaftung habe ich
unzaehlige Uebergriffe von Maennern erlebt (von Spruechen bis Angrapschen),
also das, was jede Frau kennenlernt - wenn sie Glueck hat und ihr nichts
Schlimmeres passiert -  und von daher habe ich Maennern gegenueber, die
ich nicht kenne, all die typischen Schutzinstinkte entwickelt, die
Frauen im Laufe ihres Lebens entwickeln muessen. Deshalb war ich z.b.
nicht ueberrascht, dass Maenner von dem Spezialkommando, die mich zum
Prozess bringen, immer wieder Versuche unternehmen, mich als Frau zu
erniedrigen, indem sie mich am Arm oder am Ruecken anfassen, ohne dass es
dafuer einen Grund gibt oder im Auto ihr Bein gegen meins pressen - mich
gegen solche Uebergriffe durch Maenner wehren zu muessen, kenne ich.
Dagegen gab es letztes Jahr in Bielefeld eine Situation, die mich sehr
irritiert und auch unglaublich wuetend gemacht hat. Wir kamen vom Hof und
ich lief neben einer anderen Frau und wollte mir noch schnell was von
ihr aus der Zelle geben lassen. Als wir bei der Zellentuer ankommen, haelt
eine Schliesserin ihren Arm vor meinen Koerper und fasst meine Brust an -
uns beiden, also der anderen Frau und mir, war schlagartig klar, dass das
eine dieser Sorte Beruehrung gewesen ist, die als zufaellig getarnt ein
sexueller Uebergriff gegen mich war - wir haben dann in der Folgezeit
oefter darueber geredet und viele andere Frauen hatten x aehnliche
Erlebnisse mit dieser oder anderen Schliesserinnen. Fuer mich war es das
erste mal, dass ein sexueller Uebergriff gegen mich von einer Frau
ausgegangen ist - das lag fuer mich bis dahin ausserhalb jeder
Vorstellung. Hier im Knast ist das Gang und gaebe, kuerzlich hat wieder
eine Schliesserin im Vorbeigehen mir an den Hintern gefasst - natuerlich
weiss ich, dass so was theoretisch auch ein Zufall gewesen sein kann, aber
ich bestehe darauf, dass ich dafuer ein Gespuer habe, dass jede Frau, gerade
aus diesen x-tausend-fach erfahrenen Erniedrigungen und Uebergriffen
durch Maenner dafuer spezielle Antennen hat, und unterscheiden kann, was
Zufall ist und was sexueller Uebergriff. soweit mal - viele Gruesse von mir



Zur Diskussion gestellt

Wir veroeffentlichen hier auszugsweise einen Artikel, der in der
Zeitschrift Die Beute 1/95 unter der Ueberschrift Oeffentliche Prozesse -
Zum Verfahren gegen Birgit Hogefeld erschienen ist. Wir haben als
Info-AG keine gemeinsame Position zu diesem Text, finden ihn aber als
Anstoss fuer eine Diskussion geeignet. info ag

... Die Abwendung der RAF von gezielt toedlichen Aktionen und die
Hinwendung zur Politik der Gegenmacht von unten ist von der Absicht
geleitet, sich an die politische Basisarbeit, an soziale Initiativen,
kurz, an die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen anzukoppeln. Als
die RAF Anfang der 80er Jahre im Rahmen des Frontkonzepts die
Entscheidungsschlacht ausrief, ging sie davon aus, dass saemtliche Formen
der Integrationspolitik und des Sozialdemokratismus endgueltig
gescheitert waeren. Anfang der 90er Jahre schenkte sie den integrativen
Dynamiken kapitalistischer Gesellschaften, der Problematik des
Einbindens sozial sinnvoller Projekte in den Modernisierungsprozess des
Bestehenden ueberhaupt keine Beachtung mehr. Allerdings nicht etwa, weil
die Problematik nun als vollends irrelevant angesehen wuerde, sondern
weil man/frau heute Teil dieser Projekte sein will. Die einstige
Ignoranz der gesellschaftlichen Widersprueche verlaengert sich in der
Affirmation des unten, der sozialen Prozesse, die al s Antwort auf den
ratlosen Kapitalismus interpretiert werden. Die Erklaerung von Birgit
Hogefeld, die sie zur Eroeffnung der Hauptverhandlung am 15. November
1994 verlas, ist denn auch durchsetzt von Undeutlichkeiten, wenn sie auf
die gesellschaftlichen Subjekte zu sprechen kommt. Nachdem sie zunaechst
unmissverstaendlich klar gemacht hat, dass die Moerder von Wolfgang Grams
frei und staatlich gedeckt draussen rumlaufen, waehrend sie vor Gericht
sitzt, geht sie auf die Auswirkungen der historischen Ereignisse am Ende
der 80er Jahre ein: Buergerkrieg in der Welt um Raum, Nahrung, Wasser und
andere Ressourcen; Millionen Menschen, die vor Krieg, Hunger und Armut
auf der Flucht sind; Zerfallserscheinungen im Innern, massenhafte
Arbeitslosigkeit, materielle Armut, Obdachlosigkeit, soziale
Entwurzelung von immer mehr Menschen, Ausweitung von Gewalt und
Rechtsradikalismus - all das zeigt, dass der Kapitalismus nicht mehr
funktioniert. Die Vorstellung, dass Armut, die Ausweitung von Gewalt (was
immer damit gemeint sei) und Rechtsradikalismus zeigten, dass der
Kapitalismus nicht mehr funktioniere, ist nur stimmig, wenn Kapitalismus
gleichgesetzt wird mit einer Prosperitaetsphase, an der die Mehrheit der
Bevoelkerung sozialpartnerschaftlich teilhat. Diverse nicht minder
funktionsfaehig e Formen des Kapitalismus stuetzen sich unter anderem auf
einen autoritaetsstaatlich abgesicherten Wirtschaftsliberalismus, bei dem
kein geringer Teil der Bevoelkerung unter die Armutsgrenze gedrueckt wird.
Im weiteren muendet eine derart auf den Wohlfahrtsstaat verkuerzte
Vorstellung von Kapitalismus in den unbestimmten Menschen: Das
Wesentliche, auf das es sich zu konzentrieren gelte, sei die Frage, wie
wir hier trotz aller Schwierigkeiten und gegenlaeufiger Tendenzen eine an
den Menschen orientierte gesellschaftliche Entwicklung erkaempfen koennen.
Fragt sich, an wem genau orientiert. Sicherlich sind nicht jene gemeint,
die von der Verschlankung des Standorts Deutschland profitieren. Schon
etwas schwieriger ist es mit der ganzen Menge Menschen, die im Anschluss
an Politikerphrasen tatsaechlich den Mangel an innerer Sicherheit
empfinden koennen. Nicht zu vergessen sind auch die oft zitierten
Arbeitslosen und Vereinigungsverlierer. Doch die voluntaristische
Behauptung, es gaebe eine klare Herrscha ftsgrenze zwischen oben und
unten, ist an der Anschlagsserie der vergangenen fuenf Jahre in ihrer
rassistischen Affirmation kenntlich geworden. Um recht verstanden zu
werden, es geht um den Sachverhalt, dass in allen Bereichen der
Gesellschaft die Widersprueche zwischen denen mit und denen ohne
deutschen Pass, zwischen Fluechtlingen und Einheimischen aufbrachen.

Die auch von Birgit Hogefeld aufgegriffene und jahrelang ueberfaellige
Selbstkritik der RAF an der Ausrichtung ihrer Analysen einzig an den
Strategien des Imperialismus, die eine Auseinandersetzung mit den
gesellschaftlich jeweils virulenten Widerspruechen allenfalls in hoechster
Abstraktion zuliess, muendet bei ihr in der Schlussfolgerung: Kaempfe, die
langfristig an der Negation ausgerichtet sind, koennen auf Dauer keine
Mobilisierungskraft entwickeln ihnen fehlt das Moment des Aufbaus. Die
Art, wie Machtstrukturen nicht wahrgenommen werden, bleibt dieselbe, nun
in der Konkretion. Diesmal faellt die Kenntnisnahme der sozialen
Widersprueche der veredelten Maxime meines Gemeinschaftskundelehrers zum
Opfer, dass man nicht immer nur gegen etwas sein koenne. Die RAF habe - so
Birgit Hogefeld - 1990 angefangen, ihre Initiativen auch als Kraft fuer
die unmittelbare Durchsetzung gesellschaftlich richtiger und sinnvoller
Entwicklungen zu bestimmen. Spaeter heisst es: Das Lebensgefuehl vieler
Jugendlicher ist Langeweile, und immer mehr Menschen fuehlen sich ihrer
Lebensperspektive und ihres Lebensinhalts beraubt oder sehen diese
bedroht. Und auch die Freiheit, zwischen Camel und Marlboro, ZDF und
RTL, Kohl und Scharping waehlen zu koennen, ersetzt nicht fehlenden
Lebenssinn, zumindest nicht auf Dauer. Und schliesslich: Der Kapitalismus
hat heute auf fast alle brennenden Fragen, die sich im nationalen und
internationalen Rahmen stellen, keine Antworten. Diese fehlende
Loesungskompetenz in bezug auf die heute aktuellen Menschheitsprobleme
ist ihnen durchaus bewusst - ob Hunger oder der drohende oekologische
Kollaps, sie haben keine Antworten, weil jeder vernuenftige und
menschlich sinnvolle Loesungsansatz den Profitinteressen der Konzerne
zuwider laeuft und das Ueberleben des imperialistischen Systems in Frage
stellt (...). Dagegen brauchen wir den Aufbau einer gesellschaftlichen
Kraft, die gegen diesen Wahnsinn aus Barbarei und Zerstoerung eigene
Vorstellungen und soziale Inhalte formuliert. Es geht dab ei einerseits
um die Erstellung einer politischen Gesamtvorstellung und zugleich um
Basisarbeit, in der konkrete Schritte fuer die Loesung konkreter Probleme
bestimmt und durchgesetzt werden. Das heisst natuerlich auch, sich die
Loesungskompetenz fuer Probleme der verschiedensten Bereiche anzueignen -
das betrifft die Frage nach der Bestimmung und Gestaltung menschlich
sinnvoller und nuetzlicher Arbeit genauso wie beispielsweise oekologische
Probleme und die Gestaltung von Stadtvierteln. Sinn und Loesungen, welch
eine Herkulesarbeit. Mal abgesehen davon, dass ein Haufen Leute mangels
Wahlrecht nicht mal zwischen Kohl und Scharping waehlen koennen, war es
ueber Jahrzehnte ein zentrales Problem der Linken, dass die Sinn- und
Identitaetshalluzinationen im Konsum ziemlich gut funktionierten. Da
einerseits Konsum, wie im Weltmassstab schon lange konstatiert, auch im
nationalstaatlichen Massstab BRD ein Privileg wird und andererseits
gerade bei Jugendlichen haeufig ein Gefuehl des Mangels (trotz Konsum)
auftra t, gibt es eine Reihe von Dienstleistern, die in die
Sinnproduktion eingestiegen sind. Linke, die sich mit an den Start
begeben, werden die Erwartungshaltung bedienen muessen, die sie mit der
Suggestion, unter den gegebenen Verhaeltnissen Sinn entwickeln zu koennen,
geweckt haben. Eines wird unter dem Druck, konstruktiv sein zu muessen,
zwangslaeufig relativiert werden: die radikale, auch negatorische Kritik
des Bestehenden.

Wem das zu orakelhaft ist, der mag probehalber die Loesung fuer das
Problem menschlich sinnvolle und nuetzliche Arbeit bestimmen. Es
existierte dereinst eine vage Uebereinkunft unter radikalen Linken, dass
ohne Aufhebung des Besitzes an Produktionsmitteln oder gar ohne
Beseitigung der Ware-Geld-Oekonomie derartiges schlechterdings nicht
moeglich sei. Komplizierter wurde die Angelegenheit, nachdem gleiches
auch fuer die Geschlechterverhaeltnisse behauptet wurde. Seither gab es
einige Versuche, diese Gesellschaft von Grund auf zu zivilisieren, ihr
ueber die Oekologie auch den Sozialismus schmackhaft zu machen oder
aehnliches. Spaetestens Ende der 80er Jahre konnte niemand mehr behaupten,
dass eine/r der konkreten LoesungssucherInnen ausser der Teilhabe an der
Modernisierung des Modells Deutschland mit all seinen
Gewaltverhaeltnissen irgend etwas gefunden haette. Vielleicht ist die
Ironie fehl am Platz. Aber die Unterscheidung in kapitalistische
Loesungen - als solche muss Hunger zum Beispiel gesehen werden - und
menschlich sinnvolle Loesungen, die den Profitinteressen der Konzerne
zuwider laufen, entspricht der Differenz zwischen der Gestaltung der
Verhaeltnisse  und dem Kampf dagegen. Der Begriff Loesungen laesst sich
unter Beibehaltung des Verstaendnisses eines Wahnsinns aus Barbarei und
Zerstoerung nicht in den Kontext des Widerstands gegen denselben
ueberfuehren. Nicht nur sprachlich existiert keine Loesung der Barbarei.

Nur wer Anspruch auf die Gestaltung des Ganzen erhebt, redet von
Loesungen. Das Problem dabei ist nicht die Aufforderung zur
Unbescheidenheit, auch nicht die Erinnerung daran, dass Befreiung nur im
Weltmassstab ihrem utopischen Gehalt gerecht wird, sondern dass eine
isoliert bewaffnet kaempfende Gruppe in Deutschland 1994 damit gegenueber
einer marginalen Linken ihren Uebergang zu einer anderen Widerstandsform
konkretisiert. Mit dem Versprechen, dass Loesungen auf der Tagesordnung
stuenden, einen Mobilisierungsgewinn verzeichnen zu wollen, schlaegt den
ebenfalls ausgerufenen emanzipatorischen Entwicklungen, die in vielen
politischen Zusammenhaengen ueber lange Zeit real nur eine untergeordnete
Rolle gespielt haben, ins Gesicht. Denn Emanzipation in einem der
reichsten Laender der Erde heisst doch, sich als gesellschaftlichen
Menschen, als zerstoerendes und zerstoertes Subjekt zu begreifen, das im
Kontext sozialer Revolte auch sich selbst veraendern muss. Eine dieser
Veraenderungen ist doch wohl, Aufbegehren, Solidarischsein und
Widerstehen als lebens-notwendig zu begreifen, ohne dass ein Lohn in Form
eines ideologischen Grossganzen am Horizont aufgezogen werden muss. Einmal
mehr zeigt sich, dass - ist die Erstellung einer politischen
Gesamtvorstellung erst projektiert - sogleich die Verhaeltnisse etwas
schoengefaerbt werden muessen. Sonst kann sie nicht gelingen. Nach
bescheidenem medialem Echo zu Beginn, laeppert der Prozess so dahin. Die
ZeugInnen bezeugen Banalitaeten oder sind in ihrer Unglaubwuerdigkeit fast
komisch. Die BesucherInnen fuellen den Saal mal halb, mal ganz. Einige
bemuehen sich um die Herstellung von Gegenoeffentlichkeit, um die
Dokumentation des Prozessverlaufs als Grundvoraussetzung fuer eine
Einmischung. Die Empoerung ueber Bad Kleinen und darueber, dass ausgerechnet
Birgit Hogefeld wegen eines Mordes in Bad Kleinen angeklagt wird,
muendete in Resignation. Zerfaserte Zusammenhaenge und ermuedete
AktivistInnen stehen einem an Zahl, Rueckendeckung und gesellschaftlicher
Legitimation gestaerkten Sicherheitsapparat gegenueber, der sich solche
Dreistigkeiten erlauben kann. Grundlegender noch als der Mangel an Ideen
und Initiativen zur Einmischung von seiten der Linken wirkt sich das
Fehlen jeglicher Auseinandersetzung aus. Woher ruehrt die Zurueckhaltung,
die Weigerung zur Stellungnahme? Neben dem abschreckenden rigiden
Moralismus, der die Diskussi onen um militanten Widerstand, RAF und
Isolationshaft oftmals begleitete und der Scheu, zwischen die Fronten
einer eventuell wieder aufflammenden, ziemlich rabiat gefuehrten
Auseinandersetzung zwischen RAF und RAF zu geraten, steht diese
Zurueckhaltung wohl auch fuer ein Gefuehl der Sinnlosigkeit angesichts der
eigenen Einflusslosigkeit. Doch auch ein Klaerungsprozess unter wenigen,
eine Diskussion der schlechten Bedingungen ist notwendig, um den Prozess
der Diskussion weiterzutreiben, trotz seiner derzeit geringen
Moeglichkeiten sich zu entfalten. Die Auseinandersetzung mit einer
derjenigen, die die militante Praxis logistisch perfektioniert und als
Option erhalten haben, waere eine Moeglichkeit, die Frage des Widerstands
unter den Bedingungen der Marginalitaet theoretisch zu fassen zu kriegen.
Zu dieser Moeglichkeit kommt die Chance, anlaesslich des staatlichen
Bemuehens noch jemand fuer den toten GSG-9-Mann buessen zu lassen, die
offizielle Geschichtsschreibung von Bad Kleinen zu ramponieren. Eine
Chance - mehr nicht. Christoph Schneider aus: Die Beute, Heft 5,
Fruehjahr 1995, Edition ID-Archiv



Naechste Prozesstermine
Einlass 9 Uhr, Beginn 9.30 Uhr
 21. 3. - 23. 3. - 28. 3. - 30. 3. - 4. 4. - 6. 4. - 11. 4. - 24. 4. -
27. 4. Da manchmal Prozesstermine kurzfristig ausfallen ist es v..a. fuer
Leute mit weiter Anreise sinnvoll,  kurz vorher bei der Info-AG (Tel.
siehe unten) anzurufen.

Birgits Postadresse
Birgit Hogefeld c/o OLG Frankfurt, 5. Strafsenat, Postfach , 60256 FFM

Technics zum Prozess-Info
Das Prozessinfo wird in Wiesbaden gemacht. Adresse: Info-AG zum Prozess
gegen Birgit Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden. Telefon mittwochs
von 17-19 Uhr und freitags von 18-20 Uhr : 0611/44 06 64. Der Vertrieb
des Prozessinfos wird allmaehlich besser. Es gibt allerdings immer noch
keine organisierte Verschickung an die Gefangenen und an die Infolaeden.
Die Nr. 4 wird wie folgt verbreitet: * Schleswig-Holstein: Rote Hilfe,
Postfach 644, 24125 Kiel, tel/fax 0431/75141 * Hamburg: Ueber den Tag
hinaus c/o Schwarzmarkt, Kleiner Schaeferkamp 46, 20357 Hamburg * Berlin
/ Ex-DDR: rozessgruppe Birgit Hogefeld, Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin,
FAX 030/6949354 * Stuttgart: Infobuero fuer politische Gefangene,
Moerickestr. 69, 70199 Stuttgart * Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am
Landwehrplatz 2, 66111 Saarbruecken * Bayern: Infobuero  c/o Buecherkiste,
Schlehengasse 6, 90402 Nuernberg * im Spinnennetz und im CL-Netz Weitere
regionale WeiterverteilerInnen, die auch hier in der Liste als
Verteilstellen aufgefuehrt werden wollen, koennen sich in Wiesbaden melden
und erhalten ein kopierfaehiges Exemplar. Einzelversendungen koennen von
Wiesbaden aus nicht erfolgen. Die naechste Ausgabe (Nr. 5) wird Anfang
Mai erscheinen.

Spendenkonten
Da sowohl die Kosten im Todesermittlungsverfahrens z. N. Wolfgang Grams
sowie die Kosten des Verfahrens gegen Birgit Hogefeld von den
Angehoerigen alleine nicht getragen werden koennen, sind Spenden dringend
notwendig: Sonderkonto V. Luley, Bad Kleinen Postgiroamt Frankfurt, BLZ
50010060, Kto.-Nr. 16072-603 Spenden fuer Birgits persoenlichen Bedarf
bitte auf folgendes Konto: Sonderkonto Birgit Hogefeld R. Limbach,
Oekobank BLZ 50090100, Kto.-Nr. 250228