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Thu Nov 30 18:14:08 1995
 

Zu den Verfahren vom 13.6.

Ein Ziel der radikalen Linken ist die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse. Ein Ziel der Staatsmacht ist, kapitalistische Herrschaft durchzusetzen. Die Linke, die in diesem Staat lebt, bewegt sich mit ihren Vorstellungen jenseits staatlicher Legalitätsgrenzen. Die Geschichte linker Politik und Entwicklung von Kommunikations- , Organisations- und Aktionsformen ist begleitet von Versuchen der Staatsmacht, diese Geschichte und Entwicklung zu unterbrechen, einzugrenzen, zu zerstören. Das für die Repression geschaffene polizeiliche und juristische Instrumentarium ist mit dem drängenden imperialistischen Machtanspruch der BRD und entsprechend der konkreten oder potentiellen Endwicklung der Linken und der sozialen Bewegung ausgedehnt, verfeinert und verschärft worden.

Das Ende der realsozialistischen Staaten und die weitere deutliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Imperialismus hat in der internationalen Linken zu Ratlosigkeit, Desorientierung und Zersplitterung geführt, ohne allerdings die seit Jahren gebildete Substanz aufzulösen.

Während der Staat den Zeitpunkt für gegeben hielt, den sozialistischen Ideen von einer herrschaftsfreien menschlichen Gesellschaft endgültig den Boden zu entziehen, ihnen den öffentlichen Raum in Diskussionen und Praxis zu nehmen, ihre Kontinuität zu durchbrechen, werden von der Linken in bestimmten Bereichen die Politikansätze der 80er Jahre weitergeführt, wurde und wird politisch und praktisch gehandelt, formiert sich punktuell neuer Widerstand.

Die Staatsschutzangriffe richten sich - meist mit dem Instrumentarium des § 129 a - jeweils gegen bestimmte linke Gruppierungen, die Widerstand leisten und auf ihre Weise Kontinuität und Kampfbereitschaft behaupten, sie betreffen so unterschiedliche Zusammenhänge wie Antifa-Gruppen (z.B. in Göttingen und aktuell in Weimar), die RAF (Liquidierung von Wolfgang Grams in Bad Kleinen), aber auch die mit der PKK sympathisierenden KurdInnen.

Am 13.6. kam es nun auf Anordnung der BAW bundesweit zu über 50 Durchsuchungen von Privatwohnungen, Arbeitsplätzen und Arbeitsräumen verschiedener linker Einzelpersonen, Gruppen und Projekte. Begründet wurde diese Aktion mit vier verschiedenen Ermittlungsverfahren gegen

  • angebliche HerstellerInnen und VertreiberInnen der Zeitschrift radikal

  • angebliche Mitglieder der Antiimperialistischen Zellen wegen diverser militanter Aktionen seit 1992

  • angebliche Mitglieder der Gruppe K.O.M.I.T.E.E. wegen Anschlägen auf eine Bundeswehrkaserne in Brandenburg und einen Abschiebeknast in Berlin

  • eine Frau aus Köln, die der Unterstützung der RAF bezichtigt wird. Durchsucht wurde u.a. in Bremen, Hamburg, Neumünster, Rendsburg, Lübeck, Oldenburg, Köln, Münster und Berlin.

    Vier Männer, denen Mitgliedschaft in der "kriminellen Vereinigung" radikal vorgeworfen wird, wurden direkt nach Karlsruhe in U-Haft verschleppt.

    Der Schlag war heftig und traf die zersplitterte Linke in einer Phase der Schwäche. Entsprechend schwierig war es für die entstehenden Betroffenen- und UnterstützerInnen-Kreise, einen ersten Überblick über diese bundesweit durchgezogene Aktion zu gewinnen. Nach den ersten spontanen Soli-Aktionen kam eine organisierte Solidaritätsarbeit nur mühsam in Gang, zumal gemeinsame Einschätzungen der Bedeutung und Zielrichtung dieses Angriffs anfangs kaum möglich waren. Deshalb können wir jetzt erst darstellen, was für uns nach dem 13.6. an den Ermittlungsverfahren sichtbar geworden ist.

    Bei dem staatlichen Angriff vom 13.6. gab es weder den propagierten erfolgreichen Schlag gegen die Antiimperialistische Zelle, noch ging es wesentlich um "eine zielgerichtete präventive Maßnahme zur Einschüchterung der linksradikalen Szene", so wie Kanther behauptete, sondern der Angriff zielt konkret auf Strukturen des autonomen/antiimperialistischen Bereichs der Linken, gegen die dort entwickelten Auseinandersetzungen und Erfahrungen mit Konzepten, Praxis und Organisationsansätzen, bewaffnetem Kampf und klandestinen Strukturen, ein Bereich, der jenseits staatlich gesetzter Legalitätsgrenzen die Legitimität und Kontinuität linksradikaler Politik behauptet hat. Wesentlich für den Angriff ist nicht die reale Bedeutung der betroffenen Gruppen und Projekte, sondern die Kontinuität, in der sie stehen. Diese soll aufgebrochen werden und damit ihre potentielle Bedeutung für spätere Kämpfe.

    Alle vier Ermittlungsstränge laufen nicht erst seit 1995. Neu ist, daß gegen vier so unterschiedliche Gruppierungen gleichzeitig in einer bundesweit koordinierten Aktion mit erheblichem technischen und personellen Aufwand (ca. 2000 Beamte und Spezialisten waren beteiligt) vorgegangen wurde. Und hart sind die unmittelbaren Folgen der Aktion: Fünf Genossen sitzen im Knast und insgesamt sieben werden gesucht (vier wegen radikal und drei wegen K.O.M.I.T.E.E.) Und der Staat hat offensichtlich noch mehr vor mit diesen Ermittlungsverfahren. Zum Stand der radikal Verfahren können wir jetzt mehr sagen. (Zum K.O.M.I.T.E.E.-Verfahren ist schon aus Berlin informiert worden, in den AIZ-Verfahren gibt es keine erkennbaren neuen Schritte, ebensowenig ist über das RAF-Verfahren in Köln mehr bekannt geworden.)

    Zum Stand der radikal-Verfahren und zur Situation der Gefangenen Über 30 Durchsuchungen wurden im Zuge von 25 namentlichen radikal - Ermittlungsverfahren durchgeführt. Vier Männer wurden dabei inhhaftiert und sitzen seitdem in U-Haft: Andreas aus Lübeck, Rainer aus Münster, Ralf aus Rendsburg und Werner aus Berlin. Ihnen wird vorgeworfen, an der Produktion und Verbreitung der seit Jahren verdeckt hergestellten radikal beteiligt gewesen zu sein. Darüber wird eine Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) und die Inhalte der Zeitung die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (𨳙a StGB) konstruiert. Die Vorwürfe in den sonstigen Durchsuchungsbeschlüssen der radikal- Verfahren variieren zwischen Unterstützung der und Mitgliedschaft in der "kriminellen Vereinigung" radikal. In mehreren Fällen wurden Begründungen ganz vorenthalten. Meist wird Kontakt zu einem jeweils namentlich genannten radi-Beschuldigten als "Tatbestand" und Verdachtsgrundlage angeführt. Die BAW scheint sich offenhalten zu wollen, von Ermittlungen Betroffene im Zuge des weiteren Verfahren entweder zu ZeugInnen oder zu UnterstützerInnen oder Mitgliedern der "kriminellen Vereinigung" machen können. Nach vier weiteren Leuten, die bei der Durchsuchung nicht angetroffen wurden, wird gesucht: Jutta und Matthes aus Bremen, Frank aus Köln und Uli aus Oldenburg. Gegen Uli liegt bereits ein Haftbefehl vor - zwei Wochen nach dem 13.6. nachgeschoben und begründet mit angeblichen Durchsuchungsfunden. Die vier Gesuchten entziehen sich offenbar ihrer drohenden Festnahme. In Köln wurde die Wohnung von Frank am 10.7. ein zweites Mal erfolglos durchsucht. In diesem Zusammenhang gab es gegen einen weiteren Mann aus Köln die Androhung ihn als Zeugen zur BAW nach Karlsruhe vorzuladen, nachdem er bei einer ersten polizeilichen Vernehmung von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte. Ulf aus Bremen sitzt seit dem 4. Juli in Beugehaft. Er wurde nach einem Vernehmungsversuch der BAW, bei dem er die Aussage verweigerte, in den Knast in Heimsheim verschleppt. Mit eine fünfmonatigen Beugehaft will die BAW eine Aussage über den Aufenthaltsort von Matthes erpressen.

    Wie es schon aus anderen politischen Verfahren nach § 129a aus der Vergangenheit bekannt ist, wird auch in den "radikal"-Verfahren die Akteneinsicht für die Verteidigung seit Wochen blockiert. Auch nach zehn Wochen U-Haft verfügen die AnwältInnen der vier Eingeknasteten lediglich über einen Ordner mit kopierten "radikal"-Artikeln sowie ein Stimmgutachten, mit dessen Hilfe einige der Beschuldigten zu identifizieren seien. In den ersten Haftprüfungsterminen präsentierten die Bundesanwälte ein angeblich konspiratives Treffen in der Eifel von sieben Personen, das mit nachrichtendienstlichen Mitteln bespitzelt worden sei. Inzwischen ist klar, daß das Eifel-Haus unter dem Vorwand von RAF- Ermittlungen seit Juni 1993 per Mikrosender abgehört wurde. Die Ermittlungen basieren offenbar hauptsächlich auf diesem Treffen im Herbst 93. Die BAW behauptet noch mehr Erkenntnisse über weitere konspirative Treffen des vermeintlichen "radikal"-Redaktionskollektivs zu haben. Bei diesen Treffen sollen Inhalte der Zeitung, ihre Herstellung und der Vertrieb vorbereitet worden sein. Auch im Rahmen der Haftprüfungen, die bei drei der Gefangenen Ende Juni bzw. Anfang Juli stattgefunden haben, wurde den AnwältInnen die Einsicht in die "Erkenntnisse" der BAW und die Überprüfung der Grundlagen ihrer Behauptungen verweigert. Statt dessen muß immer wider das "hochkonspirative" Verhalten der Beschuldigten herhalten, wie z.B. die Verwendung von Codes und das Abschütteln von Observationen. als Indiz für die Teilnahme an konspirativen Treffen wird die gleichzeitige Abwesenheit der Beschuldigten von ihren Wohnungen angeführt. Das den "radikal"-Beschuldigten unterstellte Verfügen über verdeckte Kommunikationswege und -mittel wird auch wiederholt als Begründung herangezogen für die Ablehnung von Besuchsanträgen und das Anhalten von Post für die Gefangenen.

    Aus den Haftbefehlen geht außerdem hervor, daß die BAW der "radikal"- Struktur unterstellt, sie arbeite auf der Basis von Gruppenbeschlüssen, denen sich alle "Mitglieder" unterzuordnen haben. Dieses dient ihnen als ein Ausgangspunkt für die Konstruktion, daß eine Zeitungsredaktion eine "kriminelle Vereinigung" ist. Bisher sind Kriminalisierungen der "radikal" mit Hilfe des § 129a versucht worden, indem angeblichen Redakteuren, etlichen Buchhändlern und Handverkäufern die "Werbung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" über jeweils eine konkrete Ausgabe einer Zeitung vorgeworfen wurde. Der jetzige Versuch, mit dem § 129 das Herstellen einer Zeitung zur Tätigkeit einer kriminellen Vereinigung zu erklären, deren Zweck das Begehen von Straftaten sei - nämlich Werbung und Unterstützung für eine terroristische Vereinigung -, ist neu. Wenn die BAW mit diesem Konstrukt der Kriminellen Vereinigung durchkommt verschafft sie sich eine generelle Möglichkeit, linke Zeitungsprojekte und oppositionelle Presse zu kriminalisieren. Darüber hinaus würde sie mit diesem Instrumentarium einen Zugriff auf a l l e revolutionären Kommunikationsstrukturen eröffnen.

    Die Schärfe des Angriffs durch den Staatsschutzapparat wird an der Situation der Gefangenen besonders deutlich: Alle vier Gefangenen wurden direkt nach ihrer Festnahme, von maskierten SEK'lern begleitet, nach Karlsruhe zum BGH verschleppt. Seitdem unterliegen sie - auch nach ihrer Verlegung in "heimatnahe" Knäste - verschärften Isolationsbedingungen. Konkret drückt sich das in einem von BGH-Ermittlungsrichter Beyer erlassenen 8 (12)-Punkte-Haftstatut aus. Alle vier sind von sämtlichen Gemeinschaftsveranstaltungen ausgeschlossen, d.h. auch Einzelhofgang. Sie werden streng von anderen Gefangenen getrennt; die ständige Begleitung durch zwei Schließer beim Verlassen der Zelle verhindert auch zufälliges Zusammentreffen und Kommunizieren mit Mitgefangenen. Unter dem Vorwand der möglichen verdeckten Kontaktaufnahme werden Besuchsanträge von vielen FreundInnen und GenossInnen abgelehnt. Alle Besuche, außer den von Familienangehörigen, werden nur mit Trennscheibe zugelassen. Die Anordnung, keinerlei Druckerzeugnisse oder Fotokopien außer den genehmigten vier Zeitungen und vier Zeitschriften durchzulassen, soll die politische Informationsmöglichkeit der Gefangenen verhindern. Briefe von FreundInnen und GenossInnen werden vermehrt angehalten, zum Teil unter fadenscheinigen Begründungen und als reine Willkürmaßnahme, teils zur Unterbindung der politischen Diskussion mit den Gefangenen.

    September 1995

    Arbeitsgruppe der bundesweiten Treffen zu den laufenden Verfahren