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junge Welt, Montag, 30. Dezember 1996, Nr. 303, Seiten 2/3, ansichten

Schwächt die MRTA-Aktion Fujimori?

Interview mit Isaac Velazco, dem Europarepräsentanten des Movimiento Revolucionario Tupac Amaru (MRTA)

Isaac Velazco ist seit 1984 Aktivist des peruanischen Movimiento Revolucionario Tupac Amaru (MRTA), dessen Kommando Oscar Torre Condesu derzeit die Residenz des japanischen Botschafters besetzt hält. Im Februar 1988 wurde Velazco verhaftet, mißhandelt und damit bedroht, in eine Militärhaftanstalt verlegt und dem Militärrecht unterstellt zu werden. Die Militärs sollten ihn zur Kooperation bewegen. Wäre ihm nicht die Flucht gelungen, hätte die Verhaftung wahrscheinlich seinen Tod zur Folge gehabt. Er mußte sich von da ab verstecken. 1992 verlor er durch seine Aktivitäten das Augenlicht. Als die Polizei nach einer Denunziation 1993 die Wohnung seiner Familie durchsuchte, beschloß das MRTA, Isaac Velazco in die BRD zu bringen. Hier erhielt er im November 1994 politisches Asyl. Seitdem ist er auf Beschluß der Nationalen MRTA-Leitung des Europavertreter der Organisation.

(Die Red.)

F: Angaben von Nachrichtenagenturen zufolge hat das Kommando des MRTA, das nach wie vor die Residenz des japanischen Botschafters in Lima besetzt hält, einen Dialog über eine dauerhafte und umfassende Friedensregelung vorgeschlagen. Angeblich fordert das MRTA nicht mehr direkt die Freilassung aller inhaftierten Gefangenen, sondern eine Verbesserung der Haftbedingungen. Haben sich die Ziele der Aktion nun verändert?

Keinesfalls. Das Ziel ist weiterhin, zu diskutieren und zu verhandeln. MRTA geht mit den Forderungen in die Verhandlungen, die von Anfang an aufgestellt wurden. In der Konfrontation der Regierung mit diesen Forderungen, also auch die nach der Freilassung der politischen Gefangenen, wird sich herausstellen, an welchen Punkt man sich einigen kann. So verläuft eben ein Verhandlungsprozeß.

F: Die peruanische Regierung hat den Ausnahmezustand ausgerufen ...

Ja, diese Maßnahme hat zum Ziel, die Kontrolle über alle Informationen und entsprechende Personen zu erlangen. Seit Sonntag hat das Militär die Aufgaben der Polizei übernommen und kann jegliche Personen ohne richterliche Anordnung festnehmen. Mitgliedern der Opposition droht die Verhaftung. So sollen entweder Bedingungen für entsprechende Verhandlungen oder aber für eine militärische Intervention geschaffen werden. Beide Öglichkeiten könnten dahinter stecken.

F: Warum hat das MRTA ausgerechnet das Haus des japanischen Botschafters zum Ziel seiner Aktion gemacht?

Japan ist heute eine zentrale wirtschaftliche Macht, die sich den Luxus leisten kann, einen beträchtlichen Teil der Wall Street einzukaufen. Japan kauft US-amerikanische Universitäten. Viele bedeutende US-Unternehmen bestehen zu beträchtlichen Anteilen aus japanischem Kapital. Deshalb will Japan auch in Lateinamerika eine bedeutendere Rolle spielen und betrachtet den Staatspräsidenten Alberto Fujimori als seine Speerspitze. Nun ist in Peru ein Interessenskonflikt zwischen den USA und Japan entstanden. Japan hat, um seine Stellung dort zu festigen und auszubauen, auch den schmutzigen Krieg finanziert. Der japanischen Regierung war es sogar gleichgültig, daß zwei Entwicklungshelfer ihres Landes durch Paramilitärs ermordet wurden. Sie ist tief verwickelt in die Unterstützung dieses mörderischen Regimes. Daher hat die Nationale Leitung des MRTA beschlossen, an dieser Stelle zuzuschlagen - einer Stelle, die der Diktatur die größten Schmerzen bereitet.

F: Welchen Einfluß wird die Besetzung auf die künftige Rolle Fujimoris haben? Wird sie die Machtbasis Fujimoris konsolidieren, nach dem Motto M-;die Reihen schließenM-+, oder Spaltungen innerhalb des Regierungslagers hervorrufen?

Die Regierung Fujimoris befindet sich mit dem Rücken zur Wand. Alle, die mit der Regierung zusammenarbeiten - Unternehmer, Politiker oder Militärs -, sind sich nun im klaren darüber, daß ihre Integrität in Gefahr ist. Sollten sie eines Tages Kriegsgefangene des MRTA sein, wird diese Regierung nichts für ihr Leben tun. Das ist, wenn wir uns die Geschichte Lateinamerikas anschauen, sehr ungewöhnlich. Die Genossen von der nikaraguanischen FSLN haben damals dreimal Politiker und Unternehmer mit Verbindungen zum Somoza-Regime als Geiseln genommen. Jede dieser Aktionen endete mit der Erfüllung der Forderungen. Fujimori hingegen legt eine absolute Verachtung für Menschenleben, sogar des Lebens seiner Partner, an den Tag. Das sollte etwa den Unternehmen, die die Regierung unterstützen, zu denken geben.

F: Und die Beziehungen zwischen Militärs und Fujimori-Regime?

Die Unterstützung, die sich bislang beide gegenseitig gegeben haben, diente nicht nur zur Deckung des Staatsterrorismus, sondern auch der Vertuschung der Korruption. Regierung und hohe Ränge der Armee weisen ein sehr hohes Maß an Korruption auf. Es ist kein Zufall, daß beispielsweise Herr Montesino, ein dem Militär nahestender Rechtsanwalt der Drogenkartelle, der von einem Drogenhändler belastet wurde, nicht weiter belangt worden ist. Die Regierung hat alles in ihrer Macht Stehende getan, um ein Ermittlungsverfahren zu verhindern und sogar die Generalstaatsanwältin dabei um Unterstützung gebeten. Diese hat Herrn Montesino öffentlich in Schutz genommen. Das ist ein in den meisten formalen Demokratien unvorstellbarer Vorgang. Doch solches Vorgehen eint Militär und Fujimori-Regierung. Innerhalb des Militärs und der Geheimdienste existiert allerdings ein Verteilungskampf um die Drogengeschäfte. Sie zeigen sich gegenseitig an. So kam der Transport von über 170 Kilogramm Kokain ins Ausland im Präsidentenflugzeug ebenso an die M-Vffentlichkeit wie die Nutzung von Schiffen der Kriegsmarine bei der Beförderung von Kokapaste. Doch das bleibt alles völlig ungestraft, vom schmutzigen Krieg, von Folter, Menschenrechtsverletzungen und der Ermordung von Alten, Frauen und Kindern ganz zu schweigen.

F: Wann hat das MRTA den bewaffneten Kampf aufgenommen?

Das MRTA bildete sich Anfang der achtziger Jahre als Zusammenschluß verschiedener politischer Organisationen. Es gab in den siebziger Jahren 60 bis 70 verschiedene linke Organisationen, die sich gegen Ende des Jahrzehnts annäherten. Dabei entstanden zwei Hauptströmungen. Eine, die eine Lösung der Probleme des Landes auf demokratischem Weg, mit dem parlamentarischen und legalen Kampf, erreichen wollte. Die andere Strömung betrachtete diesen Weg des politischen Dialogs als versperrt und ging davon aus, es sei an der Zeit, zu anderen Mitteln zu greifen. Diese Entwicklung setzte sich in den achtziger Jahren fort, und das MRTA wurde zu einem wichtigen Kristallisationspunkt vieler bewaffneter Organisationen.

F: Wie viele Aktivisten befanden sich damals im MRTA?

Bei der ersten Konferenz zur Konstituierung des MRTA als politisch-militärische Organisation, die damals noch in der Legalität stattfand, nahmen etwa 300 Aktivisten teil. Natürlich war die Gesamtzahl aber um einiges größer. Nach der Konferenz wurde die Arbeit in den Untergrund verlegt und die ersten Gruppen gebildet, die bewaffnete Propagandaaktionen durchführten. So etwa Besetzungen von Radiosendern, M-\berfälle auf Waffenlager, Beschlagnahme von Lkw mit Lebensmitteln und ihre Verteilung in Armenvierteln sowie eine Reihe von Finanzierungsaktionen. Den ersten militärischen Zusammenstoß gab es 1984 im Süden des Landes. Das Militär spürte eine Einheit auf, die dort eine Landguerilla aufbaute. Nach längeren Kampfhandlungen wurden zwölf unserer Aktivisten mit einer beträchtlichen Menge Waffen gefangengenommen. Sie wurden danach im Gefängnis gefoltert und schwer mißhandelt. Eine weitere Einheit konnte die militärische Einkreisung durchbrechen und sich Kräften in anderen Gegenden des Landes anschließen. Der Einsatz der peruanischen Armee war begleitet von massiven M-\bergriffen auf die Zivilbevölkerung.

F: Und wie stark ist das MRTA heute?

Zahlen kann ich aus Sicherheitsgründen nicht nennen. Aber unsere Kräfte sind im gesamten Land präsent. Das MRTA ist auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen organisiert. Es gibt Einheiten in ländlichen Gebieten, Spezialeinheiten, Kommandos und Milizen. Gemäß unserer Vorstellung sind unsere Mitglieder auch vielfältig aktiv, in der Propaganda, als Gewerkschaftsaktivisten, in sozialen Bewegungen und als Guerilla.

F: Die peruanische Regierung und besonders Präsident Fujimori hatten den Sieg über die Guerilla in Peru verkündet. Das entspricht ganz offensichtlich nicht der Wahrheit. Das MRTA hat 1996 einige Angriffe auf Militär- und Polizeistrukturen sowie andere Aktionen durchgeführt.

Ja, die Regierung Fujimori hat sich als der große Sieger über die bewaffneten Bewegungen dargestellt. Dabei haben besonders zwei Faktoren eine Rolle gespielt. Erstens, daß der Führer des Sendero Luminoso - des Leuchtenden Pfads - Abimael Guzman einen Friedensvertrag mit der Regierung unterschrieben hat, und zweitens der taktische Rückzug des MRTA. Als Folge der großen militärischen Offensiven der peruanischen Armee, der Repression gegenüber der Bevölkerung und der neoliberalen Politik standen wir mit sehr verringerter sozialer Basis da. Wir beschlossen, den Großteil der politischen und militärischen Strukturen in ländlichen Gebieten im Zentrum Perus, in der Selva Central, zu konzentrieren. Im restlichen Land blieben nur Kommando- und Milizstrukturen, die eine intensive politische und organisatorische Arbeit in Stadtteilen, mit Bauern und Arbeitern durchführten. Das hat die Regierung zu dem Selbstbetrug geführt zu glauben, die Guerillabewegungen, vor allem das MRTA, besiegt zu haben. Heute sieht sich die Regierung der Situation gegenüber, daß wir in den letzten Jahren die politische Arbeit und die politisch-militärische Ausbildung neuer Kämpfer und Kader fortgesetzt haben und nie so angeschlagen waren, wie der Staat dachte. Das hat sich auch in der Anzahl von Aktionen des MRTA auf dem Land gezeigt, mit denen der Armee harte Schläge versetzt wurden. Die Regierung hat das zu vertuschen versucht, aber es ist ihr nicht gelungen. Die Bevölkerung weiß, daß die Regierung die Guerilla nicht besiegt hat und die neoliberale Politik nur noch mehr Armut verursacht. Das zeigt sich unter anderem auch in der immer massiveren Beteiligung der Bevölkerung an Straßenkämpfen.

F: Vor wenigen Wochen hat es über drei Tag hinweg schwere Straßenschlachten im historischen Zentrum von Lima gegeben, da die Polizei versucht hatte, alle Straßenhändler aus dem Zentrum zu räumen. Es gab mehrere hundert Verletzte auf beiden Seiten. Hat der Protest gegen die Regierung wieder zugenommen?

Ja, seit Ende 1995 erobert sich die Bevölkerung wieder langsam ihre Organisierungs- und Mobilisierungsfähigkeit zurück. Straßenkämpfe nehmen zu, die Menschen verteidigen ihre Rechte auf Leben, Arbeit und humane Lebensbedingungen immer entschiedener. Aber auch die Repression hat sich verändert. Früher waren Militär und Polizei überall im Stadtbild Limas sichtbar. Heute sieht man nicht mehr so viele. Sie wurden durch Geheimpolizei und Kräfte in Zivil ersetzt. Einem deutschen Bekannten von mir wurde kürzlich in Lima die Brieftasche gestohlen. Innerhalb von wenigen Sekunden waren mehr als 20 zivile Einsatzkräfte vor Ort und schlugen die Diebe brutal zusammen.

F: Auch der Sendero Luminoso soll sich in einigen Gegenden reorganisiert haben, militärisch aktiv sein und seine Linie geändert haben...

Der Friedensvertrag mit einem Teil der Gruppe hat zu einem schwerwiegenden Spaltungsprozeß innerhalb von Sendero geführt. Jener Teil, der den bewaffneten Kampf fortsetzen will, hat Aktionen der bewaffneten Propaganda und Kontakte mit der Bevölkerung in einer Form aufgenommen, wie sie Sendero beim MRTA früher kritisiert hat. Aber trotz der scheinbaren Korrektur ihrer politischen Methoden setzt Sendero auch seine traditionellen Mittel weiterhin ein. So wurde zum Beispiel im März dieses Jahres der Gewerkschafter Pascual Arozda ermordet. Die Angriffe auf alle, die sich ihnen entgegenstellen oder einfach nur nicht mit ihnen übereinstimmen, werden fortgesetzt.

F: Wie ist das augenblickliche Verhältnis zwischen Sendero und dem MRTA? In der Vergangenheit soll es Angriffe von Sendero auf das MRTA gegeben haben.

Sendero ist eine sehr ausschließende Kraft. Sie sehen sich als einzige im Besitz der Wahrheit und als alleinige Fahnenträger der peruanischen Revolution. Deshalb haben sie auch nie die Existenz anderer revolutionärer Organisationen akzeptiert. Sie bezeichnen uns im harmlosesten Fall als bewaffnete Reformisten und Verräter. Sendero hat uns häufig als Hauptfeind betrachtet und viele Aktivisten des MRTA ermordet. Er hat sogar Hinterhalte für MRTA-Einheiten gelegt. MRTA- Genossen wurden gefoltert. Das sind Verbrechen, die in keiner Weise verstanden oder gerechtfertigt werden können; sie widersprechen dem Vorgehen von Revolutionären.

F: Und wie sehen die Perspektiven des MRTA aus?

Das MRTA ist als Bewegung entstanden. In ihm kommen verschiedene soziale Sektoren zusammen: Frauen und Männer aus der Stadt und vom Land, Intellektuelle, Gläubige, eben die gesamte Gesellschaft. Natürlich bedarf die Transformation einer Gesellschaft der Zerstörung des alten Staates und des Aufbaus eines neuen. Das heißt, man muß die Macht übernehmen. Aber die Macht übernehmen für wen? Wozu? Und zu wessen Nutzen? Da liegt die zentrale Frage. Die Antwort lautet: Die Macht muß in den Händen der Arbeiter von Stadt und Land liegen. Es muß eine partizipative Demokratie geben. Mechanismen der Volksmacht müssen hervorgebracht werden. Und das praktizieren wir seit Jahren.

Interview: Dario Azzellini