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Wahlen ändern nichts

Das Märchen von den 50% und den »glatten Wahlen« schlucken nur die Gringos. (Darum ergeht es ihnen so in der internationalen Politik.) Hört! Grämt euch nicht! Ihre Taktik ist es, eine große Lüge so oft zu wiederholen, bis sie sich in Wahrheit verwandelt. Sie werden sich noch einmal irren, es wird ihnen alles unter den Füßen wegbrechen, wie im Januar. Es braucht nur einen kleinen Windstoß.
(Subcomandante Marcos, August 1994)

Zumindest der erste Teil dieser Prognose des Sprechers der EZLN sollte sich nach den Wahlen von 1994 in Mexiko bewahrheiten. Der von Präsident Salinas de Gortari zu seinem Nachfolger bestimmte Ernesto Zedillo erklärt sich zum Sieger: Mit fast 50% der abgegebenen Stimmen. Zwar werden Berichte von Stimmenkauf, Urnenraub, Doppelzählungen und Manipulation der Wahlergebnisse bekannt, diese »Unregelmäßigkeiten« werden von den Wahlbeobachtern jedoch als »nicht wahlentscheidend« eingestuft. Diego Fernández de Cevallos von der rechtskonservativen Partido de Acción Nacional (PAN) und Cuauhtémoc Cárdenas von der linksgerichteten Partido de la Revolución Democrática (PRD) landen weit abgeschlagen auf den Plätzen zwei und drei, erkennen das Ergebnis jedoch an.

Schwieriger gestaltet sich die Lage in Chiapas. Schon der Wahlkampf hat ernste Zweifel an der Möglichkeit von freien Abstimmungen in einem Bundesstaat aufkommen lassen, der sich im Belagerungszustand befindet. Viele stellen die Frage, warum denn Zehntausende nach Chiapas entsandte Soldaten an den Gouverneurswahlen teilnehmen dürfen. Für Aufregung sorgt aber insbesondere ein Zwischenfall: Amado Avendaño, Jurist, Verleger der Tageszeitung TIEMPO und als Spitzenkandidat der PRD nach Umfragen unabhängiger Institute aussichtsreichster Bewerber um den Gouverneursposten, erleidet am 25. Juli einen Autounfall. Drei seiner Begleiter sterben noch am Unfallort, er selbst überlebt mit lebensgefährlichen Verletzungen. Ein im Norden Mexikos zugelassener LKW ohne Kennzeichen hatte auf gerader Strecke und ohne erkennbaren Grund die Fahrbahn gewechselt und das Fahrzeug des Politikers frontal gerammt. Dieser Umstand kommt nicht wenigen verdächtig vor. Amado Avendaño befand sich auf dem Weg zu einem Frühstück, zu dem ihn der amtierende PRI-Gouverneur Javier López Moreno kurzfristig geladen hatte. Nach den Wahlen vom 21. August wird das Ermittlungsverfahren gegen den Fahrer des LKW eingestellt. Der Kandidat der Staatspartei PRI, Eduardo Robledo Rincón, wird mit 50% der abgegebenen Stimmen zum neuen Gouverneur erklärt.

Auch im Distrikt Angel Albino Corzo machen sich die Menschen keinerlei Illusionen. Von Wahlbegeisterung ist hier nichts zu spüren. In Jaltenango hängen hier und da Wahlplakate und Fahnen, an öffentlichen Gebäuden und Plätzen die grün-weiß-roten der PRI, weit seltener und versteckter die gelben der PRD. Seitdem sich die Mitglieder der Unión Campesino Popular Francisco Villa der Finca Liquidambar bemächtigt haben, liegt Spannung in der Luft. Wie werden die Deutschen reagieren? Wie wird es weitergehen? An das Parlament in Tuxtla Gutiérrez wird in Nueva Palestina kaum ein Gedanke verschwendet. Die Landeshauptstadt ist zu weit weg. Zwar fahren täglich Busse dorthin, drei Stunden Fahrtzeit dauert die Reise im knatternden, jede noch so kleine Ortschaft auf der Strecke anlaufenden Überlandbus, dennoch waren viele Menschen noch nie in Tuxtla Gutiérrez. Wovon die hohen Fahrtkosten bezahlen? Und was sollen sie dort? Seit Generationen führt ihr Weg nur zu den eigenen kleinen Parzellen, wo sie Mais, Bohnen und etwas Kaffee anbauen, oder hoch nach Liquidambar. Und nun haben sie die Finca besetzt. Die Villistas vertrauen auf ihre eigene Stärke.

Sofern sie an den Wahlen teilnehmen, innerhalb der UCPFV ist man da unterschiedlicher Auffassung, geben sie ihre Stimme Amado Avendaño. Mit der PRI wird alles so weitergehen wie bisher oder noch schlimmer. Das wissen sie. Deshalb haben sie auch nach den Wahlen 1988 der Staatspartei den Rücken gekehrt. Und seit dieser Zeit unterstützen sie Roberto Hernández Paniagua, den Lehrer und PRD-Abgeordneten im Kommunalparlament von Jaltenango. Schließlich setzt er sich seit Jahren für ihre Belange ein und prangert, wenn auch folgenlos, hartnäckig die Zustände in diesem Distrikt an. Aber auch er kann den »Wahlsieg« der PRI in Angel Albino Corzo nicht verhindern.

Roberto Hernández Paniagua war früher selbst, wie viele BewohnerInnen der Region, Anhänger der PRI. Mit seinem Wechsel zur oppositionellen PRD hatte er sich den unerbittlichen Zorn der Mächtigen zugezogen. Sie sahen in ihm einen Verräter und Aufwiegler. Alle Drohungen hatte er ignoriert und sogar ein zeitweiliges Berufsverbot in Kauf genommen. Aufgrund seiner guten Kontakte zu den Familien von Nueva Palestina und anderen Orten, wo sich die Villistas organisiert haben, galt er für die Großgrundbesitzer als deren Anführer. Ein tödlicher Vorwurf: Am 6. September wird Roberto Hernández Paniaguas Leiche, von 19 Kugeln durchsiebt, im Distrikt La Concordia aufgefunden. In einer Pressekonferenz am darauffolgenden Tag erklärt Staatsanwalt Arturo Becerra: »Der Mord an Roberto Hernández Paniagua steht in Zusammenhang mit einem Phänomen der Gewalt, das seit Jahren in dieser Zone zu beobachten ist«. Politische Motive mag er ebensowenig erkennen wie die Ermittlungsbehörde. Das Verfahren gegen die »unbekannten Täter« wird bald darauf eingestellt.



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