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Liquidambar wird besetzt

In den Morgenstunden des 4. August erobern 500 Mitglieder der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV) die Kaffeeplantage Liquidambar. Benannt haben sie ihre Organisation nach dem legendären Revolutionshelden Francisco Villa, der zusammen mit Emiliano Zapata von 1910 bis 1919 mit der Parole »Land und Freiheit« für eine umfassende Agrarreform die Waffen erhoben hatte.

Lange haben sie auf diesen Moment gewartet. Lange haben sie sich in aller Stille organisiert, geheime Versammlungen abgehalten, Verbindungen zu anderen Oppositionsgruppen aufgenommen und auf diesen Augenblick hingearbeitet. Bereits am 16.2.91 besetzten Mitglieder der Organización Campesina Emiliano Zapata (OCEZ) die Fincas Piedra Blanca und Salvador Urbina, Eigentum der Großgrundbesitzerfamilie Orantes. Doch der einsetzenden Repression hatten sie nicht standhalten können. Die Ländereien wurden geräumt, einige Campesinos inhaftiert, andere umgebracht. Dennoch war es der versprengten Gruppe nach und nach gelungen, mehr als tausend Familien der Region zu organisieren und in Nueva Palestina eine klandestine Bewegung aufzubauen.

Nun, vier Jahre später, ist die Stunde der Unión Campesina Popular Francisco Villa gekommen. Barfüßig, in geflickten Sandalen oder Gummistiefeln, bekleidet mit ausgeblichenen Baumwollhemden, zerschlissenen Hosen und Röcken nehmen die Tagelöhnerinnen und Tagelöhner am 4. August 1994 von Liquidambar Besitz. Ihre Gesichter mit Masken und Tüchern verhüllt, in den Händen Macheten, Knüppel und hier und da alte Jagdflinten, sperren sie die Zufahrtswege zur Plantage ab. Für einen Moment vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart. Ein Hauch der Mexikanischen Revolution breitet sich über der Siedlung und der Finca aus. Stillgestanden hatte hier die Zeit seit hundert Jahren. Die menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen waren seit Gründung der Plantage annähernd die gleichen geblieben. Doch damit soll nun Schluß sein, endgültig Schluß: Eine Kooperative wird entstehen, in der sich durch gemeinsame Anstrengungen das Leben aller verbessert. Genug zu essen, medizinische Versorgung und Schulen für alle sollen nicht länger Träume bleiben. Keine Ausbeutung, keine Willkür der Caporales, kein Rassismus mehr, sondern wie Menschen leben.

Während am fernen Horizont die Sonne mühsam die Hügel erklimmt, zieht die Menschenmenge - Männer, Frauen, Kinder, Junge und Alte - an den Beneficios vorbei. In diesen Gebäuden der Firma Cruz del Sur werden die erntefrischen Kaffeekirschen zu exportfertigem Rohkaffee verarbeitet: Naßaufbereitung, Trocknung, Lagerung, Trockenaufbereitung. Doch daran denkt an diesem Donnerstagmorgen niemand. Vorbei am Verwaltungsgebäude, in dessen Innern eine hölzerne Bismarckbüste steht und eine Urkunde mit Hakenkreuz, die an den Kriegsdienst Hermann Schimpfs in der Wehrmacht des Dritten Reiches erinnert, steigen die Villistas den Pfad zum Herrenhaus empor.

Majestätisch erhebt sich das Gebäude vom höchsten Punkt der Kaffeeplantage über die gesamte Anlage. Keiner der Bauern hat die »Villa der Reichen« jemals von innen gesehen. Zuerst noch unsicher, doch dann immer entschlossener durchschreiten sie den üppigen Blumengarten, der das Schwimmbad, den Whirlpool und das Bodybuilding-Center auf der Terrasse umsäumt. Ein kurzes Zögern noch, dann splittert Holz. Die Türen geben unter der Wucht der Machetenhiebe nach. Die Villistas betreten eine neue Welt: Ein Wohnzimmer mit Ledersofa, Stereoanlage, Farbfernseher mit Parabolantenne, Kunstgegenständen und Marilyn Monroe-Portraits von Andy Warhol, ein Schlafzimmer mit großen Betten und gediegenem Mobiliar, gekacheltes Badezimmer, Sauna, Billardsalon und Weinkeller. Gemessen an westeuropäischen Standards würde diese Ausstattung eher der gehobenen Mittelklasse entsprechen. Doch hier hausen die Menschen nur einen Steinwurf entfernt in Baracken ohne elektrisches Licht, fließendes Wasser oder Toiletten. Immer mehr Menschen strömen nun dem Herrenhaus zu: »Hoch lebe Pancho Villa!«, »Hoch lebe die EZLN!«, »Das Land gehört uns!«, »Nieder mit den Reichen!« ...



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