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== Nachbereitungsreader zum 4. Antirassistischen Grenzcamp im Rhein-Main-Gebiet ==
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27.07.-05.08.2001 FFM

Greencard oder Revolution - Diskussionen um das modernisierte Grenzregime

Ausgangspunkte

Der Debattenanspruch bezüglich Einwanderungspolitik war während und nach dem Camp in Forst 2000 enorm gestiegen: die staatliche Antifakampagne und die Greencarddiskussion erforderte, darüber gab es Einverständnis, dringend eine Aktualisierung und Präzisierung unserer Kritik am modernisierten Grenzregime.

In der Vorbereitung für das Camp in Frankfurt gab es dazu entsprechende AGs und auch regionale Diskussionstreffen. Doch letztendlich waren es wenige Personen, die es verantwortlich übernahmen, eine zentrale Campveranstaltung zu diesem Thema vorzubereiten und sich weitere praktische Gedanken machten.

Veranstaltung und Zeitung

"jeder mensch ist ein experte" - unter diesem Slogan hatte sich im Mai eine "temporäre Assoziation" überregionaler AktivistInnen zusammengefunden, die zum Teil auch in der Campvorbereitung beteiligt waren, und die konkreter überlegten, wie die Debatte zu organisieren sei. Als Veranstaltungskonzept wurde eine Art Talkshow entworfen, zu der VertreterInnen verschiedener Initiativen eingeladen wurden: Kanak Attack und Voice, Antirassismusbüro Bremen und Agisra Frankfurt, außerdem ein Gast aus Osteuropa. Ziel war, aus verschiedenen Perspektiven und Erfahrungshintergründen die aktuellen Entwicklungen einzuschätzen, praktische Vorschläge auszutauschen und mögliche Schnittpunkte zu thematisieren.

Mit der gleichen Absicht hatte die "Assoziation" eine Extra-Zeitung zum Thema erstellt und zum Campbeginn verteilt, in der jeweils schon Beiträge der Talkshow-VertreterInnen abgedruckt waren.

Trotz dieser Bemühungen kam die Debatte am Sonntag Abend auf dem Camp nicht in Schwung. Verspäteter Anfang und fehlende ÜbersetzerInnen mögen eher technische Probleme gewesen sein, doch inhaltlich schien entweder zu wenig Raum, zu wenig Interesse oder zu wenig Moderation (oder alles zusammen), als daß sich die RednerInnen wirklich aufeinander bezogen hätten. Vielmehr wurden in erster Linie die eigenen Ansätze und Schwerpunkte dargestellt und auch die Publikumsbeiträge trugen eher zur weiteren Verzettelung und der Thematisierung spezifischer Vorschläge bei als daß eine gemeinsame strategische Debatte eröffnet wurde. Auch wenn grundsätzlich Diskussionen mit vielen hundert Leuten schwerlich produktiv zu gestalten sind (und tags darauf - siehe unten- die enormen Unterschiedlichkeiten nochmals deutlich wurden), so wäre doch zumindest die Erwartung gewesen, spektrenübergreifende Ideen und Herangehensweisen anzureißen. Dies gelang jedoch nicht, es blieb im wesentlichen bei einer Darstellung der jeweiligen Schwerpunkte, ohne die beabsichtigte übergreifende Diskussion.

Weitere Debatte und Kritik

Der Slogan "jeder mensch ist ein experte" hatte schon im Vorfeld des Camps viel Kritik auf sich gezogen. Die Argumentation, damit den Greencard-Experten-Diskurs zu konterkarieren und eine vielfältige Kampagne um den Zugang zum Arbeitsmarkt, um Legalisierung und die Autonomie der Migration zu starten, konnten oder wollten eine Reihe von Gruppen nicht teilen.

Der ablehnende Vorwurf bestand im wesentlichen darin, daß sich mit der Nutzung des Expertenbegriffs das sich modernisierende Migrationsregime nicht grundlegend kritisieren lasse, daß dieser Begriff das Prinzip der Verwertbarkeit eher verlängere und nicht eindeutig mit der dahinterstehenden Logik breche.

Diese Kontroverse zog sich entsprechend in die erwähnte Auftaktveranstaltung am Sonntag Abend sowie auch in den ersten workshop zum "neuen Migrationsregime" am Montag.

Am Montag wurde zudem nochmals deutlich, wie unterschiedlich die Einschätzungen und Herangehnsweisen sind:
  • Wie sich schon im einleitenden Bilanztext die Leipziger Gruppe positioniert, bestreiten auch andere Leute, daß überhaupt eine qualitative Änderung in der Migrationspolitik vollzogen würde. Sie sehen allenfalls kleinere Korrekturen oder Anpassungen an die Arbeitsmarktsituation.
  • Unter den Gruppen, die einen weitreichenden Veränderungsprozeß nach 17 Jahren (Anwerbestop 1973) zunehmender Abschottungspolitik unterstellen, ist dann wieder umstritten, was die Hintergründe dessen anbelangt. Arbeitskräftemangel in baldiger Zukunft sowie die absehbare Vergreisung und der Zusammenbruch des Rentengefüges gehören ja zu den offiziellen Begründungslinien. "Revolutionärer" formuliert geht es den Herrschenden um die Aufstockung der "Reservearmee", also Arbeitskräfte in gegenseitiger Konkurrenz verstärkt in Niedriglohnbereiche pressen zu können.
Und eine Argumentation, die insbesondere in der "jeder mensch ist ein experte"-Zeitung thematisiert wurde, führt die Autonomie der Migration ins Feld. Schließlich geben selbst hohe EU-Politiker zu, daß sie den Kampf um Nullmigration verloren hätten, daß so oder so jedes Jahr 500.000 illegale EinwandererInnen nach Europa kämen und daß, was nicht verhindert werden könne, wenigstens gesteuert werden solle. Aus diesem Blickwinkel wäre die neue Migrationspolitik auch und gerade eine Reaktion auf die "selbstbestimmte Mobilität der Menschen".
  • Hat die Debatte ein praktisches Ziel? Oder geht es allein um Austausch und Entwicklung genauerer Einschätzungen und Analysen? Jedenfalls wurden alle praktischen Vorschläge von DiskussionsteilnehmerInnen als unzulänglich kritisiert, etwas böser formuliert: revolutionstheoretisch zerredet. Kanak Attak hatte in den Diskussionen eine Legalisierungskampagne vorgeschlagen, der "Reformismusvorwurf" stand sofort im Raum. Konkrete Initiativen, die den "grundlegenden Ansprüchen nach gesellschaftlicher Veränderung" Rechnung tragen könnten, blieben aber auf der Ebene rhetorischer Appelle stehen.
Mit dem gleichen Problem schlagen sich auch Diskussionsrunden aus dem Netzwerk "kein mensch ist illegal" herum, die vor und nach dem Camp stattfanden. Ein neuer Aufruf ist bis heute nicht zustande gekommen, nicht zuletzt weil die aktuellen Entwicklungen den jeweiligen Diskussionsstand immer wieder relativierte. Aber auch, weil schon in diesem, im Vergleich zum Camp wesentlich homogeneren Kreis eine Verständigung über praktische Ziele und Kampagnen hinsichtlich der Einwanderungsdebatte und des Zusammenhangs von Arbeit und Migration bislang nicht möglich war.
  • Die "neue" Migrationspolitik: Nächste Runde in der Verschärfung der Ausbeutung und Kontrolle oder neue Chancen für MigrantInnen, sich Zugänge zu verschaffen?
Eine Position scheint klar und angesichts der aktuellen Entwicklungen bestätigt: nahezu alles wird schlechter und schon die Vorschläge der Einwanderungskommission hatten neue Verwertungsmöglichkeiten mit weiteren Einschränkungen im Asylrecht kombiniert. Der Schily-Entwurf spitzte diese Mixtur aus gesteigerter Ausbeutung, Kontrolle, Illegalisierung und Abschiebung weiter zu, nach dem 11. September ist die rassistische Gesetzgebung gar nicht mehr zu bremsen.

Eine Gegenposition würde zumindest auf Ambivalenzen in diesem Prozeß bestehen: die wenigen Asylrechtsverbesserungen im Hinblick auf frauenspezifische sowie nichtstaatliche Verfolgung können die massiven Verschärfungen natürlich nicht ausgleichen. Jedoch stellt sich die Frage, welche Bedeutung diesen Verschlechterungen im Gesamtmigrationsprozeß perspektivisch zukommt, wenn zunehmend weniger den Weg eines Asylverfahrens einschlagen. Umgekehrt ist die offene Frage, ob und wieweit die neuen, wenn auch noch so kleinen Türchen der Arbeitsmigration genutzt und erweitert werden können. Die widerständige Geschichte der Migrationsbewegung ist zumindest kein Grund, alles gleich zur Realität zu erklären, was Politiker planen und kontrollieren wollen. In diesem Zusammenhang auch der folgende aktuelle Verweis: "Kein öffentlicher Aufruhr, keine lautstarke Warnung vor neuen ´Einfallstoren`. Dabei wird es quantitativ die bisher umfangreichste Greencard-Regelung sein. Im neuen Jahr (2002) sollen ´Haushaltshilfen` aus Osteuropa zur Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger nach Deutschland kommen dürfen." (FR vom 29.12.01)

Diese Regelung bestätigt zum einen die These, daß die IT-Greencard nur ein Türöffner war und daß es um wesentlich mehr, auch "weniger qualifizierte" schlechtbezahlte Arbeitsbereiche geht. Und alle Ambivalenzen finden sich in der neuen Verordnung wieder: Legalisiert wird damit eine Situation, die seit Jahren besteht, daß nämlich Frauen aus Osteuropa offiziell als Touristen einreisen, hier aber ein Einkommen suchen. Es gibt den Bedarf, weil zum gleichen Preis kein Pflegedienst arbeitet und ansonsten viele ältere Leute von ihren berufstätigen Kindern in die Altenheime gesteckt werden müßten. Der Staat, der vor kurzem noch Razzien und Abschiebungen im gleichen Kontext durchgeführt hatte, reagiert nun mit Legalisierung, die Begrenzung der Jobs auf drei Jahre sowie auf Personen aus EU-Assoziationsstaaten soll die Kontrolle dieses "neuen Türchens" gewährleisten. Gleichwohl ist längst nicht ausgemacht, wie die Frauen aus Osteuropa dies für sich nutzen können und werden ...

Bleibt zu hoffen, daß möglichst viele Gruppen diese Diskussionsansätze weiterführen und auch an praktischen Umsetzungen arbeiten. Auch wenn übergreifende Initiativen oder gemeinsame Kampagnen zur Zeit nicht in Sicht sind, die aufgerissenen Fragen bleiben ganz sicher auf der Tagesordnung, nicht nur für die Camps 2002!

h. AG3F, Hanau

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27.07.-05.08.2001 FFM