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== Nachbereitungsreader zum 4. Antirassistischen Grenzcamp im Rhein-Main-Gebiet ==
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27.07.-05.08.2001 FFM

Die Anlaufstelle

- ein nicht stattgefundenes Experiment zum anderen Umgang mit sexistischen und rassistischen Übergriffen

Die Vorgeschichte:

Die Debatte nimmt ihren Ausgang auf dem 2. Antirassistischen Grenzcamp in Zittau, bei dem FrauenLesben eine Resolution mit dem Titel "Keine Nachhilfestunde in punkto Sexismus aber Eine Resolution gegen patriarchale Unterdrückungsstrukturen" verlesen, über die im Nachhinein eine Auseinandersetzung entsteht, die sich v.a. an der Frage Definitions- gleich Sanktionsmacht und dem "Wie" des Führens einer Sexismusdiskussion entlanghangelt. Nach zwei guten Papieren dazu und längeren Diskussionen in der Nachbereitung des Zittauer Camps, ergibt sich in der Vorbereitung des Forster Camps die nächste Etappe in punkto Umgang mit Sexismus. Gegen die Hauptorganisator/innen des im selben Sommer stattfindenden antirassistischen Grenzcamps in Polen, die FA Poznan, gibt es u.a. einen Sexismusvorwurf. Als Folge des Nicht-Verhaltens der FA Poznan zu den Vorwürfen beendet die Campvorbereitung vorläufig die Zusammenarbeit:

"Wir halten Sexismus für eine Struktur, die in unterschiedlicher Ausprägung international ist. Wir halten es für nötig, uns als emanzipatorische Gruppen mit Sexismus, auch unserem eigenen sexistischen Verhalten, auseinanderzusetzen und diesen bei anderen zu kritisieren. Sexismus ist eine Struktur, die Frauen systematisch diskriminiert, verletzt und demütigt. Wir erwarten von uns und anderen, daß sie dieses Herrschaftsverhältnis kritisieren und daß sie auseinandersetzungsbereit sind. Wir messen sie und uns an der Frage, ob, wie und wie vehement sie aktiv in diskriminierende und ausgrenzende Praxen jeder Art eingreifen. Wir kritisieren die FA Poznan nicht in erster Linie wegen der sexistischen Vorfälle an sich, sondern vor allem aufgrund dessen, wie sie danach auf die Kritik daran reagiert hat..." (aus der Erklärung der Campvorbereitung)

Auf dem Forster Camp kommt noch ein weiterer Strang hinzu: in einer e-mail wird ein Übergriff eines von The Voice mobilisierten Mannes auf Frauen auf dem Antifa-Camp in Weimar veröffentlicht. Die afrikanische Flüchtlingsorganisation wird kollektiv in die Verantwortung genommen. Es entspinnt sich eine Debatte um das Verhältnis Sexismus versus Rassismus, politische Ansprüche weißer Mittelstandslinker versus Existenzkämpfe nicht-deutscher und immigrierter Linker. Beim Abschlussplenum wird der Entwurf einer Resolution zu den Vorfällen von wenigen Leuten abgeschmettert.

Aus diesen Zusammenhängen heraus wurde in der Nachbereitung des Forster Camps die Forderung laut, eine neue Vorbereitung solle sich mit dem Thema weiterhin auseinandersetzen. Bei einem Vorbereitungstreffen in Leipzig wurde ein Tag für die Sexismusdebatte freigehalten. In dieser Diskussion wurde versucht, auch eine praktische Konsequenz zu ziehen, die für alle, die aufs Camp kommen würden, ein Anstoss zur Auseinandersetzung mit der Thematik sein könnte. Es entstand die Idee einer Art Gremium, das auf dem Camp Anlaufstelle für Betroffene sexistischer bzw. rassistischer Übergriffe sein könnte.

"Die Idee der Anlaufstelle resultiert nicht daraus, daß das Camp bisher in besonderem Maße sexistisch gewesen ist. Nur liefen in den vergangenen Jahren oft die gleichen unbefriedigenden Debatten ab, wie überall in der linken Szene." (Anlaufstellen-Papier)

Bei dem Leipziger Treffen wurden wesentliche Probleme eines solchen Gremiums im Umgang mit Übergriffen überhaupt thematisiert. Kernpunkte der Diskussion waren weiterhin die Kriterien von Sanktions- und Defini-tionsmacht. "Was sind die Kriterien der Sanktionsmacht und inwiefern ist sie verhandelbar? Inwiefern sind eigene Grenzen diskutierbar?" und weiter "Aus der Diskussion über Sanktions- und Definitionsmacht folgt für das Gremium: die Position des Opfers anerkennen, aber trotzdem auch die Position des Täters sich anzuhören." (aus dem Leipziger Protokoll)

Von vielen wurde der Versuch einer Auseinandersetzung mit der Position des Täters aber auch skeptisch beäugt, da diese meist zu Ungunsten des Opfers abläuft. Wichtig war dabei die Feststellung, daß "die zeitliche Begrenztheit des Camps eine intensive Auseinandersetzung mit den Vorwürfen nicht möglich macht, deshalb spricht es eher dafür, den Täter vom Camp auszuschließen."

Ein weiterer umstrittener Punkt war der der Sanktionen. Es wurde sich bemüht praktisch orientiert und überlegt, was das im Zweifelsfalle heißen könnte. Die erste größere Kritik ging dann auch in diese Richtung:

"Wie um alles in der Welt kommt jemand dazu, einen Katalog von Sanktionsmöglichkeiten zu entwerfen? (...) Heißt das, daß sich jede/r, der auf das Camp fährt einer autonomen Strafjustiz unterstellen soll?"

Aus dem Vorbereitungskreis fanden sich vier Leute, die sich vorstellen konnten ein solches Gremium zu machen. Angelehnt an die Leipziger Diskussion und erweitert um ein Experiment, darin als "Konfliktgremium" einen anderen Umgang mit Konflikten in großen Gruppen zu unterstützen, wurde im ersten Papier das mögliche Aufgabenfeld des Gremiums wie folgt beschrieben:

"Welche Konflikte könnten es sein?"
  • Täter tauch(t)/en auf dem Camp auf, der (die) als solche/r definiert und anerkannt wurden
  • Sexueller Übergriff bis hin zur Vergewaltigung
  • Rassistischer Übergriff
  • Körperliche Bedrohung bzw. Körperverletzung
  • Spitzelverdacht
  • Boykottaufforderungen gegenüber Gruppen wie RK, Bahanmas, AAB, das sind allerdings Konflikte, die über die gesamten Entscheidungsstrukturen politisch ausgetragen werden müssen, unsere Rolle wäre lediglich, den Konflikt fruchtbar für die Debatte aufzubereiten.
  • Bei counterinsurgency, d.h. es ist in letzter Zeit öfters festzustellen, daß der Staatsapparat mit Hilfe von Falschmeldungen die Szene verunsichert oder spalten will, dann ist es unsere Aufgabe, Recherche zu organisieren
  • "Hilfestellung geben, wenn z.B. jemand abdreht, auf Droge hängen bleibt etc."
Bei dem nächsten Vorbereitungstreffen wurde der von vielen als zu überladen kritisierte Konzeptentwurf wieder auf die ursprüngliche Idee einer Anlaufstelle für Betroffene zurückgebracht. "Der Themenbereich für das Konfliktgremium ist zu weit gefasst. Völlig unterschiedliche Themen wie strukturelle Gewaltverhältnisse (Sexismus, Rassismus) einerseits und die Notwendigkeit mit Polizeitaktiken umzugehen andererseits gleich zu bearbeiten, heißt, die unterschiedliche Dimension der Konflikte zu verwässern." (aus dem Protokoll)

Weitere Fragestellungen taten sich in der folgenden Debatte an den Punkten der Parteilichkeit mit von Übergriffen Betroffenen und der Transparenz von Entscheidungen, die mit Sanktionen verbunden sind, auf.

Der Oberbegriff "Konfliktgremium" wurde bei diesem Treffen ebenfalls endgültig verworfen: "Sexistische und rassistische Übergriffe sind kein Konflikt, sondern Ausdruck und Manifestation von Gewaltverhältnissen. Erst die daraus entstehenden Auseinandersetzung stellt tatsächlich einen Konflikt dar. Dies wird verharmlost und psychologisiert, indem, begrifflich scheinbar neutral, eine unterschiedliche Interessenlage der Beteiligten suggeriert wird, die es zu lösen gelte - "Gremium": Auch diese Bezeichnung ist missverständlich. Sie gibt den reinen Angebotscharakter nicht wieder, sondern suggeriert die Zuständigkeit einiger weniger. Wo sich Zuständigkeiten entwickeln, vermindert sich die Selbstverantwortlichkeit aller."

Die restlichen Aufgabenstellungen im Konzept zum Konfliktgremium wurden als Aufgabe des Deliplenums gesehen. Als Aufgabenfeld blieb stehen, für Betroffene sexistischer oder rassistischer Übergriffe sowie körperlicher Angriffe Anlaufstelle zu sein, Ort der vertraulichen Aussprache und Unterstützung bei möglicherweise anonymisiertem Einbringen des Übergriffs im Deli- oder großen Plenum, sowie beim allgemeinen Überlegen weiterer Schritte und Handlungsmöglichkeiten.

Einer der ausschlaggebendsten Bedingungen für die vier, die sich die Umsetzung eines solchen Konzepts irgendwie vorstellen konnten, war die unbedingte Einbindung der Anlaufstelle in die Campvorbereitungsstruktur und der reine Angebotscharakter: "Wir erwarten weiterhin, daß rassistische und sexistische Übergriffe sowie Konflikte im jeweiligen politischen, sozialen oder anderen Zusammenhängen bearbeitet werden. Erst wenn dieses Umfeld nicht mehr weiterweiß, oder wenn eine betroffene Person vertrauenswürdig Schutz sucht, treten wir in Aktion." Und weiter im Papier zur Anlaufstelle: " Der häufig gehörten Befürchtung, die Anlaufstelle könnte dafür genutzt werden, dringend notwendige Auseinandersetzungen um Sexismus und Rassismus aus den Plenas auszulagern und sozusagen in einen privateren Bereich abzudrängen, wollen wir vehement widersprechen. Es soll nicht darum gehen, erfolgreich und ungestört antirassistische Politik machen zu können. Wir behalten uns die Entscheidungsfreiheit vor, wenn wir das Gefühl haben, daß auf die Anlaufstelle Probleme abgewälzt werden, weil ein sich damit beschäftigen unbequem wäre, auch nein zu sagen."

Nebenher setzte nun die oft schon problematisierte Organisationshektik der letzten Wochen vor dem Camp ein, in der auch die vier, die die Anlaufstelle hätten machen wollen/sollen heftig versanken. Als sich dann aus verschiedenen Richtungen die Kritik immer heftiger zuspitze und wir mehr und mehr das Gefühl bekamen der personalisierte Prellbock dafür zu werden und an der tatsächlichen Unterstützung durch die Campvorbereitungsstruktur auch Zweifel bekamen, kam es zum Rückzieher. Wir stellten die Einrichtung einer Anlaufstelle öffentlich zur Debatte und schlugen dafür die sowieso geplante AG am Dienstag vor. Im Leipziger Nachbereitungspapier heißt es dazu später:

"Wir halten es allerdings für unehrlich, so zu tun, als ob die Umsetzung der Anlaufstelle offen sei und am Dienstag auf dem Camp diskutiert werden könnte. Zu Beginn des Camps war uns bei der Ausgangslage klar, daß es die Anlaufstelle nicht geben wird. (...) Wir finden es schade, daß der Versuch "Anlaufstelle" nicht gewagt wurde. Alle zukünftigen Diskussionen über ein solches Gremium entbehren nun einer Grundlage."

Gleich zu Beginn des Camps wird ein weiteres Papier mit dem Titel "Aufruf zu einem Teach-In: Standrecht ohne Grenzen im grenzkritischen Freistaat" ins Rennen geworfen. Polemisch merken Kurt und Lotte Rotholz darin an: "Zur Zeit sieht es nicht danach aus, daß auf dem geplanten Camp überhaupt noch eine sog. "Anlaufstelle" vorgestellt werden wird. Uns fehlt völlig die Vorstellung, daß es tatsächlich jemanden geben könnte, der sich anmaßt vor einem Plenum von ein paar hundert Leuten zu treten, um sich selbst als "Anlaufstelle" zu deklarieren."

Und weiter: " Anstatt um die grundsätzliche Positionierung des Camps im Bezug auf konkurrierende Gesellschaftsentwürfe zu streiten, werden eine Reihe von hypothetischen internen Konflikten zur vordringlichen politischen Angelegenheit gemacht. Anstatt über neue, emanzipierte Formen des Zusammenlebens zu diskutieren, orientiert man sich am Verbrechen als Maßstab - heraus kommen, natürlich, nur Repressionsphantasien. Ins Hintertreffen geraten dabei sowohl die Frage danach, wie die Campgesellschaft sich ein gutes Leben für sich selbst vorstellt, als auch die Frage danach, was für Entwürfe eigentlich durch politische Aktionen der CampteilnehmerInnen antizipiert und gegenüber der "Publikumsbevölkerung" repräsentiert werden."

Auf dem Camp entspann sich dann eine über Stunden und Tage andauernde Debatte in wechselnder Besetzung, die sich nicht nur mit den Überlegungen zur Anlaufstelle, sondern auch allgemein um den Umgang mit sexistischen und rassistischen Übergriffen, sowie unterschiedliche Begrifflichkeiten und Definitionen drehte.

Hauptstränge der Diskussionen waren u.a.:
  • Institutionalisierung und Wegorganisieren einer Thematik, die öffentlich diskutiert gehört. Wie auch schon im Vorfeld befürchtet, gingen die Zweifel weiter in die Richtung, ob eine Institution wie die Anlaufstelle nicht die Bequemlichkeit der Campöffentlichkeit befördern würde.
  • Parteilichkeit - die meisten meinten, eine Anlaufstelle müsse als oberste Prämisse die Parteilichkeit mit Betroffenen, die sich an sie wenden, haben. Umstritten war die Frage wer für was kompetent parteilich sein könne: wäre es nicht sinnvoller viele Anlaufstellen einzurichten, als einfach Sexismus, Rassismus und auch noch Körperverletzung in einen Topf zu werfen?
  • Kompetenz/ Professionalität - welche könnten sowas überhaupt machen? Ist es nicht evtl. gefährlich, laienhaft an möglicherweise traumatisierten Personen rumzudoktern? Dafür gibt es doch besser geeignete professionelle Einrichtungen. Würde es nicht reichen, eine Liste solcher korrekter Stellen am Infozelt auszulegen?
  • Kompetentmachen aller statt Abschieben von Zuständigkeit an einzelne - wäre es nicht wichtiger in den verschiedensten Zusammenhängen immer wieder die Auseinandersetzung mit Übergriffen einzufordern, um uns darüber alle Kompetenzen im Umgang damit anzueignen?
  • Spannungsfeld zwischen Utopie, Realität und Schwarzmalerei - einer der Hauptvorwürfe die in der gesamten Debatte fielen, war der, hier werde einzig und allein ein Kriminalitätsdiskurs geführt, das Verbrechen werde an die Wand gemalt, statt sich z.B. mit befreiter Sexualität auseinanderzusetzen. Zum einen eine nicht ganz ernstzunehmende Kritik der Ewig-Kritisierenden, zum anderen eine Frage der Gewichtung. Wenn es stimmt, daß wir uns permanent mit möglichen Täter/innen unter uns und der Sanktionierung von Verbrechen beschäftigen würden, wäre das natürlich fatal. Die Forderung, eine Debatte um Sexismus durch eine über Utopie zu ersetzen, ist aber einfach ein Gegeneinanderaufwiegen zweier wichtiger Dinge. Eine andere Gesellschaft kann nicht nur dadurch erreicht werden, daß wir uns ein befreites Leben vorstellen, wir müssen uns auch zugleich mit unseren verinnerlichten Machtverhältnissen auseinandersetzen, um sie irgendwann überwinden zu können.
Die Debatte ist nicht zu Ende. Schwierig wird sie oft dadurch, daß die Zugänge so unterschiedlich wie subjektiv sind. Oft sind verschiedene Verletzungen die Grundlage, mit Angst, Wut und unterschiedlichen Erwartungen in die Debatte einzusteigen. In Anbetracht dessen würde ich die verschiedenen Diskussionen auf dem Frankfurter Camp, sowie in der Vorbereitung darauf, als in weiten Teilen sehr bemüht bezeichnen. Beim ansonsten sehr zähen Abschlussplenum kommt es zwischen 1.00 und 3.00 Uhr nachts nochmal zu einem intensiven Gespräch zwischen refugees und non-refugees über Sexismus.

Ergebnisse sind erwartungsgemäß nicht zu präsentieren, was wir erwartet hatten, nämlich eine Auseinandersetzung mit dem Thema bei größeren Teilen der Campbevölkerung, wurde aber allemal erreicht.

Streit bleibt bei dieser Debatte natürlich nicht aus, aber den haben wir ja auch in den vergangenen Camps oftmals gesucht, um weiterzukommen.

Möglicherweise ist es für Leute, die die vorangegangenen Debatten nicht kennen schwierig, eine knappe Zusammenfassung der an einigen Punkten in die Tiefe gehenden Diskussion zu bieten, in der alles verständlich wird. Interessierte seien deshalb auf eine Sammlung einiger Texte, die während oder in Bezug auf die verschiedenen Ereignisse und Debatten rund ums Grenzcamp entstanden, hingewiesen. Zu bestellen beim Infoladen Hanau, Metzgerstraße 8, 63450 Hanau.

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