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== Nachbereitungsreader zum 4. Antirassistischen Grenzcamp im Rhein-Main-Gebiet ==
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27.07.-05.08.2001 FFM

Das "Durchgangslager Kelsterbach" 1941 bis 1945

Am Montag, den 30.7. besuchte eine Gruppe von etwa 50 Personen den Gemeindefriedhof in Kelsterbach um über das Kelsterbacher Durchgangslager für ZwangsarbeiterInnen während des Zweiten Weltkriegs zu informieren, den hier bestatteten getöteten ZwangsarbeiterInnen zu gedenken und über die deutsche Politik der "Vergangenheitsbewältigung" und "Normalisierung" zu diskutieren.

Im folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einem der vier gehaltenen Redebeiträge.

Das Durchgangslager in Kelsterbach existierte spätestens seit Ende 1941. Betrieben wurde es vom Landesarbeitsamt Hessen (später "Gauarbeitsamt Rhein-Main"), es hatte die Funktion, die gerade deportierten ZwangsarbeiterInnen auf die einzelnen Arbeitsamtsbezirke oder direkt auf umliegende Großbetriebe zu verteilen. Einige dieser Betriebe in der Nähe waren die Opel-Werke in Rüsselsheim, die IG Farben [heute Hoechst bzw. Aventis] in Frankfurt-Hoechst, sowie die Glanzstoffwerke in Kelsterbach [am Bahnhof, nach dem Krieg ENKA-Werke]. (...) Angaben über die tatsächliche Auslastung, oder gar die Gesamtzahl der Personen, die vorübergehend im Durchgangslager Kelsterbach gewesen sind, existieren nicht, jedoch waren dies allein 1942 mindestens 35000 Personen. Die ZwangsarbeiterInnen kamen nach meist wochenlangen Transporten in überfüllten Güterwägen - meist aus dem besetzten Polen oder der Sowjetunion am Bahnhof in Kelsterbach an. Von dort aus mussten sie die ca. zwei Kilometer bis zum Lagergelände quer durch den Ort laufen, was der Lokalbevölkerung nicht entgangen sein dürfte. (...)

Über das Durchgangslager Kelsterbach sind - nach heutigem Stand - kaum Akten zu finden, auch über Einzelschicksale von ZwangsarbeiterInnen und ihrer Zeit hier ist nur ganz wenig bekannt. Zu den wenigen erhaltenen Dokumenten gehören die Sterbeurkunden der im Lager Gestorbenen. Insgesamt existieren 214 Sterbeurkunden, als Todesursache sind meist Krankheiten wie Lungenentzündung, Flecktyphus, Tuberkulose o.ä. angegeben. Doch die glaubwürdig scheinenden Todesursachen verdecken, was wirklich im Lager geschah. Viele der Toten waren noch Kinder - von den 214 Toten waren 68 noch unter zwei Jahre alt. Und seit Herbst 1943 gab es immer wieder kurze Zeitabstände mit einer starken Häufung von Todesfällen bei Kindern. Ursache dafür waren medizinische Versuche nicht nur, aber vor allem an Kindern. So ist von mehreren Fällen berichtet, in denen Ärzte eine Injektion in der Nähe der Wirbelsäule vornahmen, an deren Folge die - vorher gesunden Kinder - innerhalb kürzester Zeit starben. Vermutlich geschah dies nicht immer so - fest steht aber: in Kelsterbach wurden Kinder sogenannter Ostarbeiterinnen ermordet. (...)

Sowohl tuberkulosekranke als auch psychisch auffällige Menschen aus dem Durchgangslager Kelsterbach wurden in die "Euthanasie"-Vernichtungsanstalt nach Hadamar deportiert und dort ermordet. (...) Verantwortlich für die Deportationen nach Hadamar war der Leiter des sog. "Hilfskrankenhauses" im Durchgangslager, Dr. Gustav Kohl, seines Zeichens Facharzt für Gemüts- und Nervenkrankheiten und leitender Arzt beim Arbeitsamt Frankfurt. (...)

Schwangere Zwangsarbeiterinnen aus dem gesamten Gebiet des Landesarbeitsamtes Hessen wurden in das "Hilfskrankenhaus" des Lagers in Kelsterbach gebracht, wo bis zum 5. Monat Zwangsabtreibungen, offiziell verharmlosend als "Schwangerschaftsunterbrechungen" bezeichnet, durchgeführt wurden. (...)

Umgang mit dem Lager Kelsterbach nach 1945

Der jüdische Friedhof in Kelsterbach wurde bereits 1935 auf Geheiß des Kelsterbacher Bürgermeisters eingeebnet. Heute befindet sich an der gleichen Stelle der Stadtfriedhof. Auf diesem wurde 1950 ein Gedenkstein errichtet mit der Inschrift:
"Dem Andenken der israelitischen Gemeindebürger gewidmet".
Ebenso wenig wie die Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Kelsterbachs der Stadt nach 1945 mehr als dieses lapidaren Satz wert war, gab es nach 1945 ein Interesse oder eine Auseinandersetzung mit dem "Russenlager hinten am Wald", wie es hier genannt wurde. (...)

Im Herbst 1982 begann eine Gruppe von SchülerInnen der IGS Kelsterbach angeregt durch den Wettbewerb des Bundespräsidenten "Deutsche Geschichte" sich mit der Geschichte des Durchgangslagers Kelsterbach zu beschäftigen. Sie hielten das "Russenlager" zunächst für ein Kriegsgefangenenlager und wurden erst nach und nach auf die Existenz und die Funktion der Durchgangslager für ZwangsarbeiterInnen aufmerksam.

Bei ihren Recherchen und Interviews stießen sie oft auf Unwillen, den sie als eine "das-geht-uns-nichts-an-Haltung" beschreiben. Sie bekamen nur wenig Informationen, oft wurde behauptet, es habe keinen Kontakt zum Lager gegeben, was schon angesichts der Fußmärsche quer durch den Ort unwahrscheinlich ist. (...)

Am 1. November 1983, brachten die SchülerInnen an den Gräbern der 214 Toten des Durchgangslagers eine weitere Gedenktafel an. Darauf heißt es:

"Am Volkstrauertag wird in jedem Jahr der Opfer des Nationalsozialismus und der Kriege gedacht. Zu den Opfern des Nationalsozialismus gehören auch die Zwangsarbeiter, die aus Polen und der Sowjetunion nach Deutschland verschleppt wurden und im Durchgangslager gestorben sind. Stellvertretend für alle Toten legen wir heute am Grab vom Welislawa Janas Blumen nieder. Sie wurde am 20. Juli 1944 im Durchgangslager Kelsterbach im Alter von zwei Monaten ermordet". (...)

1998 und 1999 beschäftigten sich die Zeitschrift "Stern" und das Fernsehmagazin "Panorama" in Reportagen u.a. auch mit dem Durchgangslager Kelsterbach. Zum Umgang mit dem Lager nach 1945 heißt es im "Stern":

"In Kelsterbach wurde das Thema Babymord jahrzehntelang ignoriert. Dort, wo die Baracken standen, baute man ein Gewerbegebiet, wo sich Speditionen niedergelassen haben; das Durchgangslager war so schnell verschwunden wie die Akten und die Erinnerungen der Einheimischen". (...)

Viele der Verantwortlichen machten (...) nach dem Krieg in Deutschland Karriere. Etwa Dr. Hans Muthesius aus dem Reichsinnenministerium. Auch nach seinen Entwürfen wurden die Todeslager für Kinder organisiert. Er wurde Beigeordneter des Deutschen Städtetages.

Oder sein direkter Mitarbeiter, Dr. Wilhelm Loschelder, aus dem gleichen Ministerium. Er wurde Staatssekretär im nordrhein-westfälischen Innenministerium, ausgezeichnet mit dem großen Bundesverdienstkreuz.

Oder Dr. Karl Gossel. Er regelte die Finanzierung der Sterbelager. Nach dem Krieg wurde er erst Oberkreisdirektor und dann Bundestagsabgeordneter der CDU.

Literatur

Karin Diehl, Harald Freiling u.a. (1983). Ausländische Arbeiter und Kriegsgefangene in Kelsterbach 1939-45. Kelsterbach.
Harald Freiling (1984). Das Durchgangslager für Ostarbeiter in Kelsterbach, in: Die Grünen im Landtag (Hessen) (Hg.)(1984). Hessen hinter Stacheldraht. Frankfurt/M, S. 115-122.
Hamann, Matthias (1985): Die Morde an polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern in deutschen Anstalten. In: Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren. Berlin.
Annette Schäfer (2001). Zur Funktion von Durchgangslagern und Krankensammellagern beim Zwangsarbeitereinsatz im Zweiten Weltkrieg. Am Beispiel Württembergs. In: Christoph Kopke (Hg.) (2001): Medizin und Verbrechen: Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Wuttke. Ulm.

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27.07.-05.08.2001 FFM