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Fri Nov  5 15:29:46 1999
 

Deutschland denken, heißt Gräber schänden!

Antisemitismus ohne Juden

Am 3.Oktober feierte die "selbstbewußte Nation" den "Tag der deutschen Einheit" am Brandenburger Tor. Was die vielbeschworene "Normalität" in Deutschland auch bedeutet, machten Rechtsradikale mit ihrer eigenen Feier klar. Auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee wurden 103 Grabsteine umgeworfen und zerstört. Gleichzeitig wurden Hakenkreuz - Schmierereien am Mahnmal für die deportierten Berliner Juden und Jüdinnen auf der Putlitzbrücke in Moabit und am Brecht - Denkmal vor dem Berliner Ensemble entdeckt.

Die Reaktionen darauf waren die gewohnten, Innensenator Eckart Werthebach (CDU) sprach von "blindem Vandalismus", Eberhard Diepgen reagierte "zornig und empört" und der Staatsschutz ermittelt wie immer in alle Richtungen. Von Antisemitismus keine Spur, dabei sind solche Anschläge längst Teil der deutschen Wirklichkeit, oder eben, Normalität.

Allein die Bilanz der letzten zwei Jahre spricht für sich. Im September ´97 wurden auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg 28 Grabsteine umgeworfen. Im selben Monat verhinderte die Bevölkerung des Ortes Gollwitz die Aufnahme von 50 jüdischen AussiedlerInnen aus Russland. Im November ´97 wurden in Weißensee scheinbar gezielt einige Grabsteine umgekippt, die Angehörige dort für ihre ermordeten Verwandten aufgestellt hatten. In der Sylvesternacht ´97/´98 wurde der Gedenkstein in der Großen Hamburger Straße geschändet, in den Monaten darauf war er noch zweimal das Ziel von Anschlägen. Im September ´98 wurde zum ersten Mal das Grab des früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, geschändet. Im Dezember wurde es dann bei einem Sprengstoffanschlag völlig zerstört. Im Oktober´98 trieben Neonazis ein, mit einem Davidstern bemaltes Ferkel über den Alexanderplatz. Auf seinem Rücken stand in roter Schrift der Name von Ignatz Bubis. In der Nacht vom 8. zum 9.November ´98 wurde zum wiederholten Mal das Mahnmal auf der Putlitzbrücke beschmiert. Im Juli ´99 nahmen zwölf israelische Journalisten und Journalistinnen in der südbrandenburgischen Kleinstadt Greifenhein an einer Diskussion über den "Braunen Alltag in Brandenburg" teil. Anschließend wurden sie von rechten Jugendlichen angepöbelt und über den Lautsprecher eines Autos wurde eine Hitlerrede abgespielt. Im September ´99 wurde auf die Jugendgeschichtswerkstatt, die in einem ausrangierten S - Bahn - Wagen vor dem Anhalter Bahnhof in Berlin untergebracht ist, ein Brandanschlag verübt. Dort wurde die Ausstellung "Für Juden verboten", über die Ausgrenzung von Juden während der Nazi - Zeit, gezeigt. Der Wagen brannte völlig aus. Am 2.Oktober ´99 demonstrierten einige Anhänger von Bund freier Bürger, Republikanern und NPD in Berlin gegen das Holocaust - Mahnmal. Nur wenige Tage nach der schweren Schändung des jüdischen Friedhofs in Weißensee gab es dann erneut einen versuchten Anschlag auf denselben. Über eine Mauer wurden Molotow - Cocktails geworfen, die aber zum Glück nicht zündeten.

Eine unvollständige Liste, die das Ausmaß an Normalität in diesem Land verdeutlicht.

Dabei gibt sich gerade die rot/grüne Bundesregierung solche Mühe. Versuchten die Hardliner von CDU/CSU noch die Geschichte totzuschweigen, oder sie durch Geschichtsrevisionismus umzudeuten, ist die heutige Politikergeneration dabei, "das Ganze auf die sanfte Walser - Tour zurückzudrehen" (Ignaz Bubis). Schnell noch ein Holocaust - Mahnmal mitsamt Dokumentationszentrum bauen, einige Almosen für ehemalige ZwangsarbeiterInnen verteilen und dann auf zum Modernisieren.

Doch gerade das Streben danach, eine normale Nation zu sein, verweist darauf, daß normal in diesem Land nichts ist. Der Antisemitismus ist von einer Ideologie zu einem jederzeit abrufbaren Element deutscher Identität geworden.
Der heutige Antisemitismus ist ein Antisemitismus ohne Juden, er beschränkt sich darauf, jüdische Symbole anzugreifen. Dass der deutsche Mob jedoch jederzeit pogrombereit ist, zeigt das Beispiel Gollwitz.