

- Als Anfang 1995 die massiven Übergriffe der Faschos in Wurzen bekannt
wurden und sich immer mehr die Dimension des faschistischen Potentials
abzeichnete, wurde erstmals die kontinuierliche Sammlung von
Presseveröffentlichungen zu den Themen Faschos/faschistische
Übergriffe in Wurzen und Reaktionen von kommunaler und staatlicher Seite
begonnen. Die Veröffentlichungen seit diesem Zeitpunkt sind deshalb fast
vollständig vorhanden. Schwieriger wird es sowohl für die Zeit vor
1995 als auch bei faschistischen Aktivitäten außerhalb Wurzens.
Letzteres vor allem deshalb, weil das Hauptaugenmerk antifaschistischer
Gegenwehr im Muldentalkreis auf Wurzen lag. So erklärt es sich auch,
daß die Herstellung einer Öffentlichkeit zu rechtsradikalen
Aktivitäten in Wurzen konzentriert ist, während in anderen
Städten und Gemeinden des Muldentalkreises, wie Colditz, die dramatische
Situation, wenn überhaupt, nur in den Randnotizen der Lokalpresse zu
erahnen ist. Aber selbst aus der Chronik der Ereignisse in Wurzen von 1994 bis
heute läßt sich die Dimension des alltäglichen Terrors nicht
ablesen. Kleinere Übergriffe finden in ihr genauso wenig Niederschlag, wie
die gemeinsamen Schützen- und Stadtfeste, auf denen sich die
Bevölkerung im nationalistischen Rausch mit ihrer Jugend vereint.

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Die Faschoszene im Muldentalkreis stellt kein einheitliches Ganzes dar. So
lassen sich auch in Wurzen verschiedene Strukturen unterscheiden. Zum einen
gibt es den sogenannten »Jungsturm«, für den auch
Zwölfjährige rekrutiert werden. Diese Gruppe fand sich auch
hauptsächlich in der BB-Baracke. Zum anderen gibt es den Kreis um Markus
»Boxer« Müller, der für das besetzte Haus in der
Käthe-Kollwitz-Straße verantwortlich ist und dessen Mitglieder zum
Teil schon vor 1989 zur Faschoszene der DDR gehörten.
Diese beiden Strukturen arbeiten häufig eng zusammen. So war Markus
Müller an den Gesprächen mit der Stadt beteiligt, in deren Ergebnis
die Baracke den Faschos zur Verfügung gestellt wurde. Andererseits lassen
sich auch Unterschiede feststellen. So achten die Faschos des
»Müller-Clans« sehr auf ihr Saubermann-Image, was sie aber
nicht davon abhält, sich trotzdem an Überfällen zu beteiligen.
Dies wird ihnen durch freundliche Behandlung seitens des
staatlichen Repressionsapparates erleichtert. Problematisch sind für sie
eher die Profilierungsversuche anderer Kameradschaften, die in
unregelmäßigen Abständen eigene Aktionen machen. Besonders
interessant wird diese Einschätzung für die Bewertung der Razzien.
Diese richten sich, abgesehen von der zuvor angekündigten Razzia in der
Käthe-Kollwitz-Straße, nicht gegen den harten Kern der Szene,
sondern gegen die militanten Mitläufer.-
Gelegentlich finden sich in der Chronologie auch Daten im Zusammenhang mit der
Villa »Kuntabunt«. Diese war der einzige alternative Ansatz
selbstverwalteter Jugendarbeit in Wurzen. Die systematische Zerstörung
dieses Projektes und die parallele Etablierung geduldeter und geförderter
Faschotreffpunkte spielen eine wesentliche Rolle bei der Charakterisierung des
status quo in Wurzen. Immer wieder Drohungen und Angriffen von Faschisten
ausgesetzt, bildete die Villa ein Zentrum antifaschistischen Selbstschutzes.
Was den Faschos trotz regelmäßiger Angriffe nicht gelang, die
Zerstörung der Villa, erledigte die Stadtverwaltung entgegen zuvor
getroffener politischer Entscheidungen. Mehr noch, im Rahmen einer
akzeptierenden Jugendarbeit wurde der Boden für eine breite Rekrutierung
der faschistischen Szene bereitet. Diese Rekrutierung erfaßt heute alle,
die angefangen, die nach Alternativen zum leben ihrer Eltern umsehen.
Die Liste der gescheiterten Projekte mit integrierendem Ansatz umfaßt
dabei alle Projekte, die begonnen wurden. Zuerst auf privater Basis, wie die
Rumänienfahrten und das Goldene Tälchen, später auf kommunale
Initiative hin, wie die BB-Baracke und das Kolpinghaus. Aber nicht einmal die
völlig unzureichenden und nie erfolgreichen Grundsätze einer
»Jugendarbeit mit Rechten« werden in Wurzen beachtet. Statt
dessen dient das sozialarbeiterische Personal als Kellnerinnen und Putzkolonne.

