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Stellungnahme des Anti-Atom-Büro Hamburg
Mai-Juni 1998

'Weinende' CASTORen - uns bricht das Herz

Ende April '98 wird bekannt, daß ca. 25% der CASTOR-Transporte aus Deutschland zur Wiederaufarbeitungsanlage im französischen LaHague an der Außenseite verstrahlt sind - teilweise bis zum mehrtausendfachen des Grenzwertes. Ärgerlich für die hiesige Atommafia: Die französische Atomaufsichtsbehörde DSIN behält ihr brisantes Wissen nicht für sich - im Zeitlupentempo entfaltet sich ein Skandal, der die Dimension des Trans-Nuklear-Skandals hat.

In den folgenden Wochen reihen sich Geständnis an Geständnis; seit 10 Jahren seien radioaktive Verseuchungen an der Oberfläche von CASTOR-Behältern und Transportfahrzeugen den Betreibern bekannt. Bloß gesagt hätten sie dies den 'Kontroll'-Behörden nicht - hemdsärmelig stellte man sich selbst eine Unbedenklichkeitserklärung aus und führte die Transporte durch. Das sei wohl eine 'schlechte Informationspolitik' gewesen, gesteht die Betreiber-Riege ein.

So, so: Die 'Kontroll'-Behörden kontrollieren also gar nicht selbst, sondern beten die Angaben der Betreiber nach. Daß bei Atomtransporten nichts so ist, wie offiziell behauptet, hat schon das Geschehen um Trans-Nuklear vor 10 Jahren gezeigt. Die damalige Transportfirma Trans-Nuklear - ein Subunternehmen aus dem Geflecht der Atommafia, gegründet um verstrahltes Material zu transportieren - hatte eine derartige Verantwortungslosigkeit im Umgang mit den gefährlichen Gütern an den Tag gelegt (falsch deklarierte Ladungen, verschwundenes Plutonium, etc.), daß sich damals die Regierung genötigt sah, das Transportgeschäft quasi-zu-verstaatlichen. Transporte waren von da an Sache der Bahn AG und deren Tocherunternehmen. Die jetzigen Geständnisse belegen mit herzerfrischender Offenheit, daß sich damit nichts wesentliches geändert hat.

Als bekannt wurde, daß der Behältertyp NTL-11, der u.a. für Transporte aus Krümmel verwendet worden ist, die Falltests nicht besteht und daraufhin die Krümmel-Transporte vertagt worden sind, ließ sich diese Geschichte noch relativ geräuscharm unter den Teppich kehren. Die Brisanz der gescheiterten Falltests ist damals von der Bewegung kaum thematisiert worden, zum Glück für die Betreiber. Jener Behältertyp hatte seine Genehmigung aufgrund von Computersimulationen und nicht durch reale Tests bekommen - und er ist nicht der einzige. Konsequenterweise hätten, da Realität und Simulation nicht deckungsgleich sind, alle simulierten Tests durch reale verifiziert werden müssen - ein teures und vor allem zeitintensives Verfahren.

Doch schon der CASTOR-Transport nach Ahaus (pikanterweise in 'simulierten' CASTORen) kurz danach, hat gezeigt, daß die Nerven ziemlich blank liegen. Der Protest gegen den CASTOR war offensichtlich doch kein örtlich beschränktes 'Gorleben-Phänomen' und selbst ein hastiger Frühstart des Transportes konnte den Widerstand nicht umgehen.

Die AtomkraftbefürworterInnen haben sich aufgrund des Drucks auf die Position zurückgezogen, daß, wenn die Grenzwerte eingehalten werden, die Atomtransporte sicher seien. Damit reagieren sie auf die 'Gefährdungs'-Argumentation eines Teils der Anti-AKW-Bewegung - und schaffen auf dieser Ebene ein argumentatives Patt. Die 'Experten' dürfen sich um die Höhe dieses Grenzwertes streiten - der Rest ist ausgeschlossen, weil 'unqualifiziert' und die Transporte laufen weiter !

Offensichtlich gibt es beim Beladen der CASTORen aber doch derart gravierende technische Probleme (und damit verbunden: hohe Kosten), daß die Atomindustrie diese Argumentationsschiene von sich aus konterkariert. Allerdings: Einfach überschreiten möchte man die Grenzwerte dann doch nicht. Von 'schwitzenden' oder 'weinenden' CASTORen wird jetzt fabuliert, als ob die radioaktiven Verseuchungen natürliche und damit unumgängliche Lebensäußerungen der Spezies CASTOR wären.

Vertrauensverlust

Der Vertrauensverlust ist fundamental: Die, die behaupten, die Transporte würden sich unter den genehmigten Bedingungen abspielen, wissen nicht, wovon sie reden, und die, die es wissen sagen nichts. Unsereins hatte schon immer den begründeten Verdacht, daß das Gefasel der Atommafia nur Augenwischerei ist. Der aktuelle Skandal ist zu groß für Abwiegelei, Diffamierung und Lächerlichmachen. Jetzt muß ein Bauernopfer her - die 'Schuld' muß vereinzelten 'schwarzen Schafen' angehängt werden, um die Struktur aus dem Schußfeld zu nehmen. Nur - aus welchem Lager diese Bauern kommen ist noch offen.

Es wird eifrig mit dem Finger auf die anderen gezeigt. Die Ministerin zeigt auf die Atomindustrie, die Atomindustrie auf ihre TechnikerInnen - keine Lüge ist zu offensichtlich. Die verschwiegene Geheimloge der TechnikerInnen habe (bundesweit und betriebsübergreifend natürlich) Informationen zurückgehalten und ihre Vorgesetzten in Sicherheit gewiegt. Daß sich die Verantwortlichen damit ein überzeugendes Zeugnis der Unfähigkeit ausstellen wird billigend in Kauf genommen - mit dem Rücken zur Wand ist es besser unfähig zu sein, als böswillig.

Aber auch Behörden (Bundes- und Landesämter für Umweltschutz, Eisenbahnbundesamt, etc.) und Atomindustrie zeigen aufeinander: Die letzteren hätten die ersteren ordnungsgemäß informiert - ein interessanter Widerspruch zur These der 'TechnikerInnen-Geheimloge' -, was behördlicherseits pflichtbewußt bestritten wird. Die Verantwortlichkeiten werden so lange hin und her geschoben, bis alle Klarheiten beseitigt und alle Beteiligten gleichmäßig schuldig und unschuldig sind.

Die Wahrheit sieht vermutlich anders aus. Alle haben davon gewußt - und hätte die französische Atomaufsichtsbehörde nicht gepetzt, wäre es auch noch Jahre so weitergegangen.

Ist der Lack erst ruiniert - gesteht's sich völlig ungeniert

Die Zahl der Grenzwertübertretungen, die jetzt ans Tageslicht kommt steigert sich fast täglich. Anfangs sollen es nur Transporte in die Wiederaufarbeitungsanlagen in Frankreich und England gewesen sein, die radioaktive Verseuchungen aufwiesen, dann auch inländische Transporte - was an sich logisch und naheliegend ist, schließlich werden die gleichen CASTORen mit derselben Technik transportiert, was aber niemand auf Seiten der Verantwortlichen davon abgebracht hat diesen hanebüchenen Unsinn zu verbreiten. Später sind dann auch Verseuchungen an Leertransporten 'entdeckt' worden. Die Zahl der eingestandenen Grenzwertübertretungen beläuft allein bei den Betreibern in Bayern, Niedersachsen und Baden Württemberg auf rund 100 (Stand 3.6.98).

Mensch könnte glatt den Eindruck gewinnen, daß jetzt noch schnell das Sündenregister vollgemacht wird, damit möglichst viel bei der schon absehbaren Absolution abgegolten werden kann.

Auch schützt sich die Industrie mit derartigen Manövern vor den angedrohten personellen Konsequenzen: Je größer die Zahl der Verantwortlichen, um so unwahrscheinlicher werden drastische Maßnahmen auf personeller Ebene - anderenfalls müßte ein kompletter Berufsstand in die Wüste geschickt werden.

Energieversorgungsunternehmen (EVUs) haben - für ihre jeweiligen Einzugsgebiete - eine Monopolstellung. Diese Machtfülle erlaubt es ihnen, sich einen Dreck darum zu scheren, was andere Leute sagen oder wollen, oder ob sie in ihrer Existenz gefährdet sind - und diesmal hat die Arroganz der Macht auch die eigenen ErfüllungsgehilfInnen in den Parlamenten erwischt. Zumindest tun diese so, als ob es so wäre.

Wahlkampf

Während die Regierungskoalition damit beschäftigt ist, den politischen Schaden möglichst klein zu halten, sprich in Wahlkampfzeiten keine Schuld zuzugeben und den Kopf der Ministerin zu retten, kochen andere ihr wahltaktisches Süppchen auf dem Skandal.

SPD und Grüne bekräftigen ihr - rein verbales - Bekenntnis zum Ausstieg aus der Atomenergie. Um sich die Chance auf eine Regierungsbildung jedoch nicht völlig zu verstellen wird dieser Ausstieg im gleichen Atemzug vertagt - auf 10 und mehr Jahre: Bis Gras über die Geschichte gewachsen ist. Die Grünen fahren munter fort, alte Grundsätze (der Bewegung) über Bord zu werfen: So fordert R. Baake (grüner Umweltstaatssekretär Hessen) von der Bewegung, sich Gedanken um die Zwischen- bzw. Endlagerung des Mülls zu machen. Ein privatwirtschaftliches Problem wird vergesellschaftet.

Wir werden uns frühestens dann Gedanken um die Endlagerung des Mülls machen, wenn der Ausstieg vollzogen und endgültig ist, alles andere würde nur die Maschine der Atommafia am laufen halten.

Was von Ausstiegsgeschwafel der Sozialdemokraten zu halten ist, wissen wir seit mindestens 10 Jahren - damals wollte die SPD in 10 Jahren ausgestiegen sein, das will sie heute, und in 10 Jahren wird sie immer noch davon reden.

Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß der Stop der Transporte nicht durch Arbeit in den Parlamenten, sondern durch Aktionen auf der Straße und der Schiene zustande gekommen ist.

Neue Aktionsfelder

Der Machtinstinkt sagt den Herrschenden, jetzt bloß nicht mittels eines CASTOR-Transportes Öl ins Feuer gießen. Daß die Transporte zuerst gestoppt worden sind, die eh nicht hätten fahren können - die nach Frankreich und England - weil an der Grenze mangels weiterer Genehmigungen Schluß gewesen wäre, spricht allerdings dafür, wie schwer den Verantwortlichen diese Entscheidung gefallen ist. Zumindest einige AKW scheinen diese Transport zum Weiterbetrieb zu brauchen, da die Zwischenlagerkapazitäten auf den Werksgeländen erschöpft sind. Stade z.B. wird vor dem nächsten Brennelementewechsel Platz in seinem Zwischenlager schaffen müssen. Stade ist gleichzeitig so alt und marode, daß es fraglich ist, ob es wieder ans Netz darf, wenn es einmal wegen 'Verstopfung' runtergefahren worden ist. Wir dürfen gespannt sein, die Betreiber stehen unter Druck.

CASTOR Transporte, gegen die von Seiten der Bewegung mobilisiert wird, waren in den letzten Jahren nur im engen Zusammenspiel von Betreibern, Politik und Polizei durchführbar. Insbesondere der Gewerkschaft der Polizei (GdP) geht es augenscheinlich ziemlich gegen den Strich, daß sich die Betreiber nicht an die Zusicherungen gehalten haben. Es schmeckt den Staatsbütteln nicht, von den Betreibern öffentlich hintergangen worden zu sein. Solange der Schaden an diesem Schulterschluß nicht wieder gekittet ist, ist es unwahrscheinlich, daß ein CASTOR rollen wird. Die GdP droht schon mal vorsorglich mit 'Bürgerkriegszenarien', sollte sie ein weiteres Mal vorgeführt werden.

Ohne den Druck, den Anti-AKW-AktivistInnen gegen den CASTOR entfaltet haben, hätte dieser Schulterschluß den aktuellen Skandal mit Sicherheit deutlich besser überstanden. Der Transportstopp ist ein eindeutiger Erfolg der vielen tausend, die sich gegen die CASTOR-Transporte gestellt haben. Allerdings 'droht' jetzt ein Szenario, in dem der Anti-AKW-Bewegung das bisher mobilisierenste Thema für längere Zeit wegfällt.

Wir sollten die 'freie Zeit' nutzen.

Wir halten Transporte nach wie vor für einen lohnenden Ansatzpunkt. So, wie die Atomindustrie zur Zeit strukturiert ist, benötigt sie ein erhebliches Maß an Transporten für den Weiterbetrieb - und das gilt nicht nur für die Mülltransporte. Transporte lassen sich aber sehr viel schlechter absichern, als die festungsartigen Anlagen. Das haben auch die BefürworterInnen erkannt: Der Vorschlag, Zwischenlager auf den Geländen der AKWs einzurichten, reflektiert genau diese Schwäche.

Wir möchten Uranhexafluorid(UF6)-Transporte als einen Fokus der Bewegung vorschlagen. UF6 ist der chemische Zustand, in den Uran gebracht werden muß, um im Anreicherungsprozeß verarbeitet zu werden. Es gibt weltweit nur wenige Anreicherungsanlagen: Die einzige in industriellem Maßstab arbeitende Anreicherungsanlage in der BRD steht in Gronau. UF6-Transporte laufen z.B. über den Hamburger Hafen.

Uns ist klar, daß mit diesem Thema ein großer Rechercheaufwand verbunden ist. UF6-Transporte laufen zur Zeit ziemlich unspektakulär ab - Genehmigungen für solche Transporte enthalten große 'Zeitfenster' (genehmigte Zeiträume). Eine öffentliche Wahrnehmung gibt es praktisch nicht.

Ohne Anreicherung gibt es keine Brennelemente für Leichtwassereaktoren - in Westeuropa der einzige gebräuchliche Reaktortyp. Selbst wenn die BetreiberInnen es tatsächlich schaffen, ihr Mülltransportproblem mittels lokaler Zwischenlager zu vertagen: Wir drehen einfach die Zufuhr für die AKWs ab !

Noch mal Wahlkampf

Die Grünen und die SPD werden sich als 'Aussteiger'-Parteien darstellen wollen. Auch wenn, wie oben schon gesagt, klar ist, was davon zu halten ist - mit ihrer Medienmacht werden sie versuchen, diese Position zu besetzten und mit ihren Inhalten zu füllen.

In der Wahlkampfzeit wird der nächste Energie'konsens' vordiskutiert werden. Mit dem, was dort als 'Ausstiegsposition' firmiert, werden wir uns rumschlagen müssen, deshalb sollte es uns nicht egal sein, wie diese Position aussieht. Die Grünen werden (weiterhin) versuchen, sich als 'Sprachrohr der Bewegung' zu verkaufen - und wir sollten einen klaren Trennungsstrich ziehen, um Verwechslungen zu vermeiden.

In unseren Argumentation sollten wir wegkommen von der 'technischen Ebene' - sind Transporte sicher oder nicht, wie hoch darf der Grenzwert sein, etc. Auch Erkenntnisse über die Unbeherrschbarkeit der Technologie an sich werden uns nicht wirklich weiterbringen - die Entscheidung für oder gegen Atomenergie ist eine politische keine philosophische, gesellschaftlich betrachtet. Außerdem gleiten derart gelagerte Diskurse schnell in ExpertInnenstreitigkeiten ab - und werden darüber gründlich entpolitisiert.

Wir sollten verstärkt den gesellschaftspolitischen Aspekt thematisieren. Es gibt keinen Konsens, keine 'gemeinsame Ebene', in dieser Gesellschaft: Die Herrschenden werden uns immer verarschen, wenn es Ihren Interessen dient.

Die Herrschenden werden sich nicht freiwillig von der Atomenergie verabschieden. Zu wichtig ist dieses Projekt: Neben den unmittelbaren Gewinnen, die so in die Kassen gespült werden, verbindet sich mit der 'friedlichen Nutzung der Kernenergie' untrennbar die Option auf die Bombe. Mit der Atomenergie ist außerdem eine bestimmte Form von Industrialisierungspolitik verknüpft. Mit einer kapital- und energieintensiven Produktionsweise kann der Würgegriff um die Gesellschaft aufrecht erhalten werden, macht sich die Energiemafia unentbehrlich. Atomenergie ist nicht zuletzt ein Projekt der strategischen Herrschaftssicherung.

Für die sofortige Stillegung aller Atomanlagen und der herrschenden Klasse !

Anti-Atom-Büro Hamburg (Mai-Juni 1998)