[ zurück zum ihnaltsverzeichnis ]


Die Erosion des Sozialstaats und der Wandel der Stadt

Gefährliche Orte und unerwünschte Gruppen / Klaus Ronneberger über den Zusammenhang von postmoderner Entwicklung und "law-and-order"-Politik

Vor dem Hintergrund der Erosion des Sozialstaates und einer wachsenden Polarisierung vor allem in den Großstädten, wächst die Bereitschaft, bestimmte Gruppen und soziale Praktiken auszugrenzen. Klaus Ronneberger hat in einem Vortrag untersucht, wie moderne Stadtentwicklung und eine harte "law-and-order"-Politik zusammenhängen. Wir dokumentieren seinen Text in gekürzter Fassung. Der Autor war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung und arbeitet jetzt als freier Publizist.

Seit den achtziger Jahren hat sich die ökonomische und soziale Realität in den Großstädten grundlegend verändert. Einerseits hat sich ein Netzwerk von sogenannten World- und Global-Cities herausgebildet, von welchen aus die weltweiten Kapitalkreisläufe und Produktionsprozesse gesteuert werden. Die Ansprüche der "headquarter economy", des finanzindustriellen Komplexes und einer internationalen business class bestimmen nun zentrale Bereiche dieser Städte.
Andererseits stellen die Metropolen der hochindustrialisierten Länder nicht mehr die Zentren des Arbeitsplatzwachstums dar. Vielmehr kommt es mit der Krise des industriellen Sektors und der Verlagerung von Produktions- und Dienstleistungsfunktionen in die Peripherie zu einer Dualisierung des lokalen Arbeitsmarktes und einer verstärkten sozialräumlichen Polarisierung in den Großstädten. Zugleich intensiviert sich mit der verstärkten Ausrichtung der Städte zu Konsumlandschaften die ordnungspolitische Administration des öffentlichen Raumes, die sich vor allem gegen die Anwesenheit marginaler Gruppen an zentralen Orten und Plätzen richtet.
Mit den veränderten Standortanforderungen der transnationalen Unternehmen und der ökonomischen Krise verschärft sich auch die Rivalität zwischen den Metropolen, die miteinander um Wachstumspotentiale und Prosperitätseffekte konkurrieren. Der lokale Staat mutiert dabei von einer paternalistischen Institution der "Daseinsvorsorge" hin zum Unternehmen Stadt. Ein primäres Ziel städtischer Politik besteht nun in der Initiierung und Stimulierung privatwirtschaftlicher Aktivitäten.
Der Konkurrenzkampf um Investitionen und Kaufkraftpotentiale veranlaßt das städtische Management auch zu aufwendigen Eingriffen in die bestehende Raumstruktur. Dazu gehören u. a. die bauliche Aufwertung von Stadtvierteln, die Umwandlung altindustrieller Gewerbeflächen und Festivalisierungsprojekte wie Messen oder Weltausstellungen. Die damit verkoppelte Imagestrategie des städtischen Managements operiert vor allem mit zwei scheinbar widersprüchlichen Elementen: der Betonung von Unterschiedlichkeit — gegenüber anderen Städten — und der Garantie räumlicher Homogenität.
Einerseits sollen bestimmte Objekte der Stadt — wie etwa Waterfronts, Unterhaltungszentren oder historische Bauten — ihre Unverwechselbarkeit und eine attraktive urbane Lebensweise belegen. Andererseits werden diese Orte selbst zunehmend als austauschbar konstruiert, den international sich angleichenden Standards von Entspannung und Luxus entsprechend. Es handelt sich dabei um wiedererkennbare Einheiten einer hochtechnisierten Raumstruktur, die den Globus mit Bürogebäuden, Hotelhallen oder Shopping Malls überziehen und von der internationalen Business-Community und den städtischen Professionellen als "eigenes" Territorium identifiziert werden.
Der Diskurs der "urbanen Dienstleistungsmetropole" offeriert den städtischen Raum als exklusives Angebot: einzelne Produkte bzw. Konsumtionsstätten bürgen hier für die Qualität des Ganzen.
Die Expansion des finanzindustriellen Komplexes und der Headquarter Economy treibt die Hierarchisierung des städtischen Raums voran. Banken, Versicherungsfonds und transnationale Konzerne legen einen Teil ihres überschüssigen Kapitals in global gestreutem Immobilienbesitz an. Die Grundstücksmärkte verwandeln sich in eine Anlagesphäre von disponiblem Kapital, in der Grund und Boden wie Aktien oder Wertpapiere gehandelt werden. Nicht zuletzt aufgrund der spekulativen Verwertung von Immobilien, deren Wert sich weniger nach regionalen als nach globalen Maßstäben bemißt, zeichnen sich die städtischen Zentren durch eine Monostruktur von internationalen Ladenketten und Boutiquen aus.
Seit den achtziger Jahren fließen zudem die Kapitalströme verstärkt in den städtischen Unterhaltungssektor — also beispielsweise Freizeitparks, Musical-Theater, Malls oder Kinozentren. Die "symbolische Ökonomie" von Finanz-, Medien- und Unterhaltungsindustrie veranlaßt das städtische Management, verstärkt auf den Ausbau der kulturellen Konsumtion zu setzen, nicht zuletzt um damit den Niedergang der lokalen Industrien zu kompensieren.
Die Hierarchisierung städtischer Räume erfolgt aber nicht nur durch die Kommerzialisierung der City, sondern auch durch die Umnutzung und Aufwertung zentrumsnaher Stadtteile. Dieser Vorgang — innerhalb der Sozialwissenschaften auch als Centrifizierung bezeichnet — bedeutet sowohl die räumliche Ausdehnung von Cityfunktionen als auch die Expansion metropolitaner Kultur. Dabei spielen insbesondere jene Berufsmilieus eine Schlüsselrolle, die strukturell eng mit der neuen Dienstleistungsökonomie zusammenhängen — also etwa Banker, naturwissenschaftlich-technologische Kader, Marketing, Werbung, Symbolproduzenten aus dem Kulturbereich etc.
Wichtige Teile der Metropolen erfahren durch die Aneignungs- und Nutzungsmuster dieser Dienstleistungsklasse eine Umformung. Zum einen verstärken sich in der City die Bereiche für den gehobenen Konsum, zum anderen erfahren zentrumsnahe Stadtviertel einen Aufwertungsdruck, der sich entweder aus dem wachsenden Flächenbedarf der Metropolenökonomie oder aus den Wohnansprüchen gutausgebildeter Erwerbstätiger mit höherem Einkommen in Single- oder Zweipersonenhaushalten ergibt. Deren urbanistischer Lebensstil, der sich deutlich von der familienorientierten Lebensweise in der Peripherie absetzt, trägt entscheidend zu der sozialräumlichen Fragmentierung der Metropolen bei. Dabei geht es nicht nur um die kulturelle und soziale Distinktion zu anderen Klassen, sondern auch um den Machtanspruch auf zentrale Räume der Stadt. Centrifizierung stellt somit die Bestrebung dar, sich "städtische Zentralität" anzueignen und — indem sie konsumiert wird — ihren ökonomischen und kulturellen Wert zu steigern. (...)
Die klassischen Orte der Öffentlichkeit — Straße, Platz und Park — werden, zumindest in den USA, durch Malls, Einkaufszentren und Themenparks ersetzt. Solche segregierten Räume sind als eingegrenzte und ausgrenzende gesellschaftliche Bereiche zu verstehen, von welchen aus sich der Mythos der postindustriellen Stadt — Müßiggang und Unterhaltung — verbreiten kann. Es handelt sich um reale "Festungsstädte", gebaut für Menschen vornehmlich aus den suburbanen Mittelklassen, die den "Gefahren der Großstadt" zu entkommen suchen.
Zwar gelten in vielen Bundesstaaten der USA Malls als öffentliche Räume, in denen das Recht auf Meinungsfreiheit — wie etwa das Verteilen von Flugblättern — garantiert ist. Jedoch berechtigt "abweichendes Verhalten" von Personen die Betreiber, die auffällig Gewordenen auf die Straße zu setzen. Manche der älteren Besucher, die die Einkaufszentren vor allem als Aufenthaltsorte nutzen, haben es sich daher angewöhnt, stets eine Einkaufstasche zu tragen, um dem Verdacht des Herumlungerns zu entgehen.
Selbst Jugendliche, die eigentlich einen wachsenden Markt repräsentieren, stellen aus der Sicht des Verkaufsmanagements ein Problem dar: Einerseits sind sie wichtige Kunden, andererseits bilden sie ein bedrohliches Potential, das die kontrollierte Atmosphäre in den Malls durcheinanderbringen könnte. Deshalb dürfen Heranwachsende in einigen Einkaufszentren nur in Begleitung von Erziehungsberechtigten erscheinen; in manchen Fällen ist Personen unter achtzehn der Zutritt sogar untersagt.
Die Themenparks und Malls produzieren eine Art von Öffentlichkeit, die sich am Mythos der heilen Kleinstadt orientiert: keine Gewalt, keine Obdachlosen, keine Drogen. Diese Vision der heilen Gemeinschaft von Gleichgesinnten kann sich dabei auf eine polarisierte Stadtentwicklung stützen. In den USA lebt und arbeitet die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr in Kernstädten, sondern in den Suburbs. Während die städtischen Peripherien ökonomisch prosperieren, veröden große Teile der Zentren, in denen vor allem Arme und marginalisierte Gruppen zurückbleiben. (...)
Der Ausbau der Headquarter-Funktion erzeugt aber auch einen Peripherisierungsprozeß im Zentrum: Während sich die familienorientierten Teile der Mittelklassen und bestimmte ökonomische Aktivitäten in die suburbane Peripherie zurückziehen, bildet die Kernstadt das "umkämpfte Terrain" (Saskia Sassen) für jene Menschen, die die bad jobs des Dienstleistungsgewerbes erledigen und damit ebenso wie die Finanz- und Headquarter-Ökonomie struktureller Bestandteil der Zitadellenökonomie sind.
Zugleich dient die Kernstadt den verschiedenen Submilieus als wichtiger Aufenthalts- und Reproduktionsraum. Indem die marginalisierten Gruppen den öffentlichen Raum der Innenstadt — sprich Straßen, Plätze und Verkehrsknotenpunkte — nutzen, verfolgen sie eine Überlebensstrategie, die auf Präsenz setzt, um die eigenen Reproduktion abzusichern. Neben Büros und Geschäften gibt es im Innercity-Bereich auch ein dichtes Netz an sozialen Angeboten für ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen, wie etwa Drogenhilfe, Gesundheitsversorgung, psychosoziale Beratung, karitative Unterstützung in Form von Nahrung, Kleidung, Unterkunft. Die City stellt aber auch einen Aktions- und Erlebnisraum für viele Jugendliche aus der Peripherie dar. Da die meisten Wohnquartiere wenig Anregung zu bieten haben, erweist sich die Innenstadt aufgrund der vielfältigen Unterhaltungsmöglichkeiten und der günstigen Verkehrsverbindungen als geeigneter Ort für die Freizeit.
Gegen solche Formen der sozialen Aneignung entfaltet sich seit Beginn der 90er Jahre ein verstärktes Repressionsprogramm. So fordern Gewerbeverbände oder lokale Industrie- und Handelskammern die politisch Verantwortlichen auf, verschärfte Sicherheitsmaßnahmen im Innenstadtbereich durchzuführen. Maßnahmen wie die "Zerschlagung" von offenen Drogenszenen, die "Aussetzung" von Obdachlosen an den Stadtrand oder die Schikanierung von Migranten-Jugendlichen deuten darauf hin, daß die innerstädtischen Räume den verschiedenen Sub-Milieus streitig gemacht werden.
Exemplarisch für diese von den städtischen Behörden initiierte Vertreibungsstrategie sind etwa aktuelle Überlegungen aus dem Umfeld der Hamburger Stadtregierung. In dem Senatsdrucksachenentwurf "Maßnahmen gegen die drohende Unwirtlichkeit der Stadt" geht es erklärtermaßen um die Beseitigung der sichtbaren Erscheinungsformen von städtischer Armut, die Verhinderung von "Konzentration und Verfestigung" marginalisierter Gruppen sowie das "Sauberhalten repräsentativer Räume und Visitenkarten der Stadt".
Noch weitreichender gehen die Kontrollbestrebungen des Frankfurter Magistrats. Um einen "streßfreien" Aufenthalt in der City zu gewährleisten, soll durch eine geplante "Gefahrenabwehrverordnung" eine "Belästigung" der Bürger durch "rauschbedingtes Verhalten" und "aggressives Betteln" mit Hilfe von Platzverboten vermieden werden. Darüber hinaus sah der erste Entwurf der Verordnung vor, das "Lagern oder dauerhafte Verweilen" in Fußgängerzonen und das Übernachten im Freien zu verbieten. Von dieser Regelung wären sämtliche öffentlichen Flächen sowie bestimmte Areale im Privateigentum, wie etwa Einkaufspassagen betroffen.
In Berlin wiederum sind von der Polizei inzwischen mehr als 24 "gefährliche Orte" festgelegt worden, an denen wesentliche Persönlichkeitsrechte außer Kraft gesetzt sind. Insbesondere innenstadtnahe Plätze und große Einkaufsstraßen fallen unter diese Klassifikation. An solchen Orten können ohne Begründung Personalienüberprüfungen oder Leibesvisitationen vorgenommen und zeitlich unbegrenzte Platzverweise ausgesprochen werden.
Aber auch die Bahnhöfe — bislang traditionell bedeutsame Rückzugsräume für Submilieus — geraten verstärkt ins Fadenkreuz sozialräumlicher Kontrollstrategien. Diese häufig als "Krebsgeschwür der Stadt" oder "soziale Pestbeule" bezeichneten Orte sollen sich nach den Vorstellungen der Deutschen Bahn AG "zum Nukleus und Modell für die Stadtplätze des 21. Jahrhunderts" — so der Vorstandsvorsitzende Dürr — mausern. Dieser "städtebauliche Wertewandel" erfolgt mit Hilfe des Umbaus der Transitstationen zu Dienstleistungskomplexen und der Konstruktion einer "qualitätvollen Corporate-Identity" für eine "qualifizierte Öffentlichkeit".
Was die Bahn AG damit u. a. meint, demonstriert sie mit einem Pilotprojekt im Frankfurter Hauptbahnhof. Im Zuge der Renovierung des Gebäudes wurde eine Zwei-Klassen-Lounge eingerichtet, die nur mit Fernverkehrs-Fahrkarte, Bahncard oder gegen Bezahlung aufgesucht werden darf. Damit will die Bahn AG nach eigenem Bekunden Obdachlose, Drogenabhängige und Betrunkene aus dem Vorzeige-Wartesaal fernhalten. Aber auch etwa in den Innenstädten ist die Kontrolldichte enorm. So agieren etwa in der Frankfurter City neben den Beamten der dafür zuständigen Polizeireviere, Einheiten des Bundesgrenzschutzes, das Rauschgiftdezernat, das Straßenraumdezernat, die OK-Inspektion und die SoKo Mitte. Neben diesen staatlichen Organen kontrollieren den Innenstadtbereich mehrere Dutzend Angestellte des städtischen Ordnungsamtes — die sich vor allem als Fremdenpolizei bei den jugendlichen Migranten sehr beliebt gemacht haben -, private Sicherheitsdienste der Frankfurter Verkehrsbetriebe, der Bahn AG und des Zeil-Aktiv-Managements (eine Vereinigung von Geschäftsleuten der Einkaufsstraße "Zeil").
Auffallend an der gegenwärtigen Kontrollpraxis in den Städten ist die Expansion kommunaler Ordnungsvorschriften, die auf eine Art von Lokal-Justiz hinauslaufen. Der Sozialwissenschaftler Hubert Beste hat dabei zwei Varianten ausgemacht: Zum einen definieren die Kommunen im Rahmen von Sondernutzungen wie etwa Gefahrenabwehrverordnungen Betteln, Alkoholtrinken oder Lagern im öffentlichen Raum als Ordnungswidrigkeiten. Zum anderen findet mit Hilfe des Hausrechts eine Umwidmung von öffentlich zugänglichen Orten statt.
Diese Kontrollpraxis kommt gegenwärtig verstärkt in Bahnhofsanlagen, Flughäfen und dem öffentlichen Nahverkehr zum Einsatz. Erklärtes Ziel dieser Strategie ist die Exklusion bestimmter Submilieus. "Wir können nicht hinnehmen", so etwa der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, "daß zentrale Orte wie Bahnhöfe und andere Plätze fest in den Händen von Randgruppen sind".
Aussagen wie "Man muß die Ängste der Bürger ernst nehmen" signalisieren, daß nicht nur konkrete Straftaten, sondern auch subjektive Befindlichkeiten zum Gegenstand politischer und polizeilicher Interventionen werden. Damit rücken Themenfelder in den Vordergrund, die von keiner strafrechtlichen Relevanz sind, wie etwa die Unsauberkeit auf Straßen und Plätzen, sogenannter Vandalismus oder Betteln. In diesem präventiven Konzept von öffentlicher Sicherheit findet eine Vermischung von sozialpolitischen, ordnungspolitischen und polizeilich/strafrechtlichen Bereichen statt, die vor allem auf eine Intensivierung der sozialen Kontrolle abzielen.
Populäres Vorbild für dieses präventive Sicherheitskonzept ist die "Null-Toleranz"-Strategie der New Yorker Sicherheitskonzept ist die "Null-Toleranz"-Strategie der New Yorker Polizei. In der amerikanischen Metropole werden Regelwidrigkeiten wie Trinken und Urinieren in der Öffentlichkeit, Graffiti-Sprayen, Schwarzfahren und sogar lautes Musikhören aus Ghettoblastern konsequent verfolgt und streng geahndet. Natürlich sind von solchen drakonischen Ordnungsmaßnahmen nicht alle Bürger gleichermaßen betroffen. Diese Form der Kontrollpolitik richtet sich vor allem gegen marginalisierte Gruppen und ethnische Minderheiten. Das heißt bestimmte Quartiere und ausgesuchte Bevölkerungsgruppen werden von den Sicherheitsorganen präventiv beobachtet und kontrolliert.
Auch wenn in den deutschen Metropolen das New Yorker law-and-order-Modell noch nicht durchgängig praktiziert wird, setzt sich auch hier eine restriktivere Ordnungspolitik durch. (...)
Im Wechselspiel zwischen medialer Aufbereitung und ordnungspolitischer Intervention erklärt man bestimmte Submilieus zum Feind der städtischen Gesellschaft. "Sicherheit" scheint sich zum zentralen Dispositiv eines neuen Konsens zu entwickeln. Aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft formieren sich Obdachlose, Alks, Dealer, Drogenkonsumenten oder junge Migranten zu "unerwünschten" bzw. "gefährlichen Gruppen". (...)
Diese Furcht vor städtischen Submilieus weist gewisse Parallelen zu Wahrnehmungsweisen des Bürgertums im 19. Jahrhundert auf. Mit der Durchsetzung der industriellen Produktion erfuhr auch das urbane System einen tiefgreifenden Wandel. Insbesondere das Anwachsen eines städtischen Proletariats und die Zunahme pauperisierter Massen veränderten das Gesicht der Städte. Die Mehrheit der bürgerlichen Klasse nahm die neuen Formen der Armut jedoch nicht als soziales Problem wahr, sondern naturalisierte den Pauperismus als Inbegriff des Fehlverhaltens und der Entmoralisierung.
Es entstand das Bild vom asozialen, verwahrlosten und halbkriminellen Außenseiter, gegen den der gesetzte Bürger seine rigiden Leistungs- und Normalitätsnormen mobilisieren, sowie auch die integrationswillige Arbeiterschaft ihre Abgrenzung nach unten demonstrieren konnte.
Nachdem der Typus der "gefährlichen Klassen" im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zugunsten sozialstaatlicher Normalisierungsstrategien zurückgedrängt wurde, erfährt gegenwärtig diese Figur eine erneute Aufwertung. An die Stelle von "Integration" und sozialräumlichem "Aus-gleich" treten in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zunehmend "Exklusion" und "Moral".
Die Wiederkehr solcher Wahrnehmungsweisen und Ausgrenzungsmechanismen vollzieht sich im Kontext der Erosion des Sozialstaats und der wachsenden Polarisierung in den Großstädten. Unübersehbar sind neue marginalisierte Räume entstanden, die vor allem durch den Zuzug von Menschen aus den Armutsgebieten der Welt weiter anwachsen. Einerseits fallen zunehmend mehr Menschen aus dem Produktionsprozeß heraus, gelten nun Phänomene wie Armut und Dauerarbeitslosigkeit als "natürliche" Bestandteile der Gesellschaft, andererseits wächst die Bereitschaft, bestimmte Gruppen und soziale Praktiken zu disziplinieren, zu stigmatisieren und auszugrenzen.
Bestand der zentrale Anspruch der "postmodernen Kulturgesellschaft" darin, gesellschaftliche Probleme kulturell bearbeiten und darüber die verschiedenen sozialen Gruppen der Mehrheitsgesellschaft integrieren zu können, so bricht nun — im Zuge der ökonomischen Krise und des politischen Umbruchs — der ideologische Gegensatz von "Kultur" und "Sozialem" in aller Schärfe wieder auf.
Das Konzept einer zentrumsorientierten Lokalpolitik, das auf städtebauliche Monumente und identitätsstiftende Inszenierungen setzt, bleibt zwar weiterhin ein entscheidendes Instrument der städtischen Administration, es büßt jedoch angesichts leerer Kassen, einer veränderten Dynamik der Stadtentwicklung und der wachsenden Sozialen Polarisierung seine herausragende Stellung ein.
Das Ende des wohlfahrtsstaatlichen Kompromisses und der Rückgang integrativ-normalisierender Modelle verstärken zugleich Bestrebungen, die Kreise mit ordnungspolitischen Mitteln zu bearbeiten. So werden etwa mit Begriffen wie "Ausländerkriminalität" oder asoziale Randgruppen" Bedrohungsszenarien entworfen, in denen unter anderem auch die Erlebnisqualität der Innenstädte gefährdet erscheint. Bezogen auf den lokalen Raum findet hier jene Politik ihre Umsetzung, die in den nationalen Kampagnen zur "inneren Sicherheit" als "Massen- und Ausländerkriminalität" artikuliert ist, wobei diese Kampagnen ihre suggestive Kraft vor allem aus den Diskursen und Bildern der Stadt beziehen, in denen die gängigen Bedrohungsszenarien entworfen werden.
In der Regel operieren die "Sicherheits- und Moralpaniken" mit der Umstellung, daß ein großer Teil der Kriminalität von außen eingeschleppt werde. Wenn davon in den Medien die Rede ist, dann meist in Verbindung mit "ausländischen Drogendealern" in den Innenstädten oder jungen Migranten, die sich an "sozialen Brennpunkten" zu "gangs" zusammenschließen.
Die symbolische Rolle, die insbesondere Drogen bei den Ausgrenzungsstrategien spielen, hat Barbara Ehrenreich für die amerikanische Mittelklasse treffend beschrieben: "Die undifferenzierte Drogenhysterie spiegelt die alte Angst der Mittelklassen wider: Die Angst vor dem Absturz, davor, die Kontrolle zu verlieren, Schwäche zu zeigen." Verbunden damit beobachtet sie den Rückzug der Mittelklassen von öffentlichen Territorien und Dienstleistungen — Schulen, Parks, öffentliche Verkehrsmittel — und eine zunehmende Tendenz, diese öffentlichen Ausgaben nicht mehr zu unterstützen: "Wenn die Armen gefährlich werden — süchtig, aggressive, krank -, bricht die Mittelklasse in noch stärkerem Maße den Kontakt ab. Es ist besser, den Park zu schließen (... ) als zu riskieren, mit denjenigen zusammenzutreffen, die keinen Platz haben, um zu schlafen oder sich die Zeit zu vertreiben." Entscheidend für die Angst vor "gefährlichen Gruppen" scheint vor allen ein befürchteter Verlust der räumlichen Kontrolle und bestimmter Normalitätsstandards zu sein.
Zugleich besteht das strategische Moment solcher Bedrohungsszenarien darin, Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu definieren, Einschränkungen des bürgerlichen Gleichheitspostulats zu legitimieren, Grenzen des Anspruchs auf Anerkennung von sozialen Rechten zu bestimmen und den Zugang zu materiellen Ressourcen und Räumen auch vom moralischen Status des Betroffenen abhängig zu machen. Die Gefahren- und Sicherheitsdiskurse fungieren als Teil einer Integrationsstrategie, die die Ausschließung bestimmter sozialer Gruppen voraussetzt, da — wie oben ausgeführt — ohne diese Grenzziehungen keine Normalitätsstandards gebildet und durchgesetzt werden könnten.
Da Unsicherheitsempfindungen weniger das Produkt direkter Erfahrungen sind, sondern vor allem durch das Reden über Gefahren entstehen, kann der Sicherheitsdiskurs der Politik und der einschlägigen Institutionen auch als ein Beitrag zur Stärkung der Kriminalitätsfurcht verstanden werden. In diesem Sinne ist auch Foucault zuzustimmen, daß wir weniger in einem Rechtsstaat als in einem "Sicherheits-" bzw. "Angststaat" leben. Die öffentliche Sicherheit erweist sich als ideales Feld, auf dem der Staat und die Parteien symbolisch "Handlungsfähigkeit" demonstrieren können, der in anderen Politikfeldern nicht mehr möglich erscheint.
Das Aufbrechen der homogenisierenden Raumordnung der industriellen Stadt durch die mobilen Kapital- und Informationsströme der neuen Dienstleistungsökonomie führt zu einer Hierarchisierung und Fragmentierung des städtischen Territoriums. Die gegenwärtige Epoche des Neoliberalismus läßt sich als ein "Regime der Differenz" auffassen, bei der die Unterschiedlichkeit von Räumen und die Exklusivität von Orten betont wird. Damit wächst auch die Bedeutung räumlich-situativer und temporärer Kontroll- und Überwachungstechniken. Soziale Kontrollstrategien, die bislang vor allem auf die Individuen gerichtet waren, nehmen nun verstärkt auch den Raum als Gegenstand der Überwachung wahr. Das übergeordnete Ziel der neuen Kontrollprozeduren besteht darin, die Fragmentierung des sozialen Raums territorial zu fixieren und segregierte Orte abzusichern, die sich durch eine jeweils spezifische Homogenität auszeichnen sollen. In diesem Verfahren wird das Soziale zunehmend als "Luxus" verstanden, den man sich in seiner bisherigen Form nicht mehr leisten kann. Es verstärken sich die Tendenzen der "harten" Grenzziehung und der stigmatisierenden Exklusion.
Damit manifestieren sich in den Auseinandersetzungen um Orte und Plätze auch die gegenwärtigen Machtverhältnisse. Die Fähigkeit, den angeeigneten Raum zu dominieren — sowohl materiell wie symbolisch — ermöglicht es, sich unerwünschte Personen und Ereignisse auf Distanz zu halten und umgekehrt subalternen Gruppen stigmatisierte und entwertete Territorien zuzuweisen.
Die Struktur der räumlichen Verteilung sozialer Klassen und Nutzungsweisen läßt sich somit als Resultat sozialer Auseinandersetzungen um "Raumprofite" (Pierre Bourdieu) auffassen. Bei der Herrschaft über den Raum handelt es sich um eine der privilegierten Formen von Machtausübung, da die Manipulation der räumlichen Verteilung von Gruppen sich als Instrument der Manipulation und Kontrolle der Gruppen selbst einsetzen läßt. Bourdieu teilt die Raumprofite in zwei Klassen auf: Sogenannte Situationsrenditen, die sich aus der Ferne zu unerwünschten Dingen und Personen beziehungsweise durch die Nähe zu seltenen und begehrten Gütern ergeben — also etwa Ruhe und Sicherheit und sogenannte Okkupations- oder Raumbelegungsprofite, die durch die Unterbindung jedes fremden und unerwünschten Eindringens in das eigene Territorium entstehen.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Zentren der Metropolen zu den sensibelsten und am stärksten überwachten Räumen der Zitadellenökonomie gehören. Gerade der Kernstadt kommt eine hohe symbolische Bedeutung bei der Repräsentation hegemonialer Lebensweisen zu. Deshalb geht es bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Innenstädte nicht nur um konfligierende Raumausnutzung, sondern auch um die Kontrolle von Bildern und Bedeutungen. Bezeichnenderweise zielen die Ausgrenzungsstrategien der Geschäftsinhaber und der lokalstaatlichen Ordnungspolitik vor allem darauf ab, die Sichtbarkeit von Marginalisierten in bestimmten Räumen zu unterbinden. Ein Vorgang, der bislang von der breiten städtischen Öffentlichkeit unterstützt und nur vereinzelt in Frage gestellt wird.

Frankfurter Rundschau, 10.02.1998




[ zurück zum ihnaltsverzeichnis ]