Türkei: Situation in den Gefängnissen

Brief eines türkischen anarchistischen Gefangenen

Der Hungerstreik und das F-Gefängnis-Projekt

Hungerstreik und Todesfasten werden angeführt von der DHKP-C und der TKP/ ML TIKKO. Die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungsparteifront; frühere Revolutionäre Linke) ist eine Art stalinistische Organisation und arbeitet hin auf eine »öffentliche Revolution« unter der Führung einer Avantgardepartei (für sie natürlich ihre eigene Partei). Sie organisieren hauptsächlich in einigen besetzten Häusern in Istanbul und einigen ländlichen Gebieten in Anatolien, wo Aleviten leben. Der Vorsitzende ist Dursun Karatap, der im Ausland lebt (in Europa, möglicherweise Belgien oder Frankreich etc.). Die TKP/ML TIKKO (Türkische Kommunistische Partei - Marxisten-Leninisten - Türkische Arbeiter-Bauern-Befreiungsarmee) ist eine maoistische Organisation; hauptsächlich aktiv in Dersim (Tunceli) und in einigen besetzten Häusern. Sie wird von den meisten linken legalen-illegalen Parteien (sozialistisch und kommunistische Parteien und Gruppen) unterstützt.

Die Hungerstreikaktionen zielen hauptsächlich darauf ab, das F-Gefängnis- Projekt zu stoppen, das vor allem für sozialistische Gefangene von »illegalen« Gruppen und Parteien geplant wurde. Die türkische Regierung will damit die Befriedung durch Vereinzelung erreichen, dem Gefangenen sollen sozialen Beziehungen unmöglich sein, die ein grundlegendes Menschenrecht sind und auf diese Weise sollen auch Aufstände verhindert werden. Aber vor einigen Wochen führte der türkische Staat eine gewaltsame Aktion durch und steckte die meisten der politischen Gefangenen in solche F-Gefängnisse, obwohl angekündigt worden war, dass dieses Projekt verschoben wurde! Es kostete 32 Tote (30 Gefangenen und 2 Wärter); einige der Gefangenen starben, weil sie sich als Protest gegen die Operation selbst verbrannten, einige wurden bei der Operation getötet (andere gefoltert und verletzt), nach Informationen seitens der Gefangenen wurde sogar ein Wärter von anderen Wärtern getötet. Der Widerstand geht nun in den F-Gefängnissen weiter.

Anarchisten und Anarchistische Gefangene

Türkische Anarchisten kämpfen ebenfalls von Anfang an (seit dem Sommer 2000) gegen die F-Gefängnisse. In Ankara beteiligen sich Anarchisten die Proteste gegen die F-Gefängnisse und verteilen an verschiedenen Orten Flugblätter (5000 Stück in nur 10 Tagen), kämpfen bei Demonstrationen gegen die Polizei, führen symbolische Hungerstreiks durch. In Istanbul gab die Anarchistische Plattform eine Erklärung gegen das F-Projekt heraus etc. Dies alles wird getan, um die Hungerstreikenden zu unterstützen und das F-Projekt zu stoppen; nicht weil die Anarchisten ähnliche Meinungen vertreten wie diese (Sozialisten und kommunistische Marxisten), sondern weil das, was der Staat unternimmt, MEHR Repression gegenüber den BürgerInnen bedeutet, gegen jede Art von »Staatsfeinden«.

Wie sieht es andererseits mit den anarchistischen Gefangenen aus? Es gibt in türkischen Gefängnissen einige Personen, die sich selbst als Anarchisten bezeichnen, aber die meisten von ihnen sind ehemalige Sozialisten (Marxisten), die wegen ihrer Beteiligung (manche sind nicht einmal »Mitglieder«) am Kampf »illegaler« sozialistischer Gruppen im Gefängnis sind. Die meisten von ihnen haben im Gefängnis ihre iedologischen Ansichten geändert und sich später als »Anarchisten« definiert. Einige kommen von PKK, MLKP, MLSPB, TIKKO, DHKP-C, Ala-Ryzgari etc. Sie hatten unterschiedliche Gründe, ihre iedologischen Ansichten zu ändern; die meisten von ihnen meinen, dass ihre Gruppe (und deren Ideologie) zu autoritär oder sogar diktatorisch ist, einige (zwar wenigere, aber es kommt doch vor) mögen auch nur vorgeben, Anarchisten zu sein, um sich von der Autorität ihrer Gruppen zu befreien. Ich meine damit nicht, dass dies keine Anarchisten sind, sondern vielmehr, dass wir sie nicht kannten, bevor sie ins Gefängnis kamen. Sie nehmen entweder Kontakt auf, indem sie an anarchistische/libertäre Zeitungen, Magazine schreiben oder durch Freunde im Gefängnis etc. Ihr größtes Problem ist »Einsamkeit«; sie haben keine Freunde oder Genossen, oder Gruppen, die sie »verteidigen« und sich um sie kümmern. Außerdem sind sie nicht nur der Repression durch den Staat (die Gefängnisverwaltung) ausgesetzt, sondern auch seitens der sozialistischen Gefangenen. Das beste wäre, sie an einem Ort zu versammeln (im selben Schlafsaal), aber das ist wegen anderer Probleme, die nicht so leicht gelöst werden können, unmöglich; sie sind in verschiedenen Gefängnissen und müssen zu ihren Prozessen von weit entfernt anreisen oder haben untereinander ideologische oder auch persönliche Probleme etc. ABER: ich bin der Meinung, dass sie Hilge von Anarchisten bekommen müssen, nicht nur weil sie Anarchisten SIND, sondern auch aus humanitären Gründen. Wie viele sind es? Das weiß ich wirklich nicht; aber derzeit gibt es cirka 11.000 politische Gefangene in türkischen Gefängnissen (die meisten von der PKK) und vielleicht definieren sich einige von ihnen als Anarchisten, Antiautoritäre (oder Antimilitaristen). Ich erinnere mich, dass wir 1997 eine Liste von 13-14 Gefangenen in verschiedenen Gefängnissen hatten (vielleicht 2-3 jeweils zusammen). Ihre Einstellung zum Hungerstreik und Todesfasten? Soweit ich weiß, beteiligt sich einer am Todesfasten, einige nehmen vielleicht zur Unterstützung am Hungerstreik teil.

Sie sind der Repression (ihrer ehemaligen oder anderer) sozialistischen Gruppen ausgesetzt. Die Gründe sind manchmal echt grotesk, z.B. das Hören von Rockmusik, lange Haare, weil sie sich über die Einstellung anderer Leute lustig gemacht hätten, aber auch »Politisches« wie negativ über sozialistische Gruppen reden etc. (das war in einem Brief eines anarchistischen Gefangenen vor 3-4Jahren zu lesen). Sie werden von den Sozialisten bestraft (wie z.B. das ihnen nicht erlaubt wird, ihr Bett zu verlassen etc.). Wenn sie nicht gehorchen, sind sie sogar der Gewalt ausgesetzt; ich habe gehört, dass mal zwei von ihnen zusammengeschlagen wurden, und ein anderer wurde sogar im September 1998 getötet. Es muss noch viele solche Vorfälle geben, von denen wir nicht erfahren. Im September 1998 tötete die TIKKO im Gefängnis Eskisehir Mehmet Cakar und gab dafür die Begründung, er sei ein Spitzel. Er stand in Kontakt mit einem Genossen (einem Anarchisten) von der unabhängigen Zeitschrift Arkabahce aus Ankara und er unterstützte den antimilitaristischen Kampf, schickte antimilitaristische Karikaturen etc. Aber wir kannten ihn nicht, bevor er ins Gefängnis kam; er hatte seiner Frau einen Monat vor seinem Tod gesagt, er wisse, dass sie ihn umbringen würden. Er war im Gefängnis, weil er der Repräsentant der »legalen« Zeitschrift Partizan in Izmir war (TIKKO-Unterstützer). Zu der Zeit gab es bei TIKKO eine »Säuberung« (!) und innerhalb eines Jahres wurden cirka 10-12 ehemalige Aktivisten getötet, mit der Begründung, sie seien Spitzel oder Informanten.

Schlussfolgerung

Ich habe dies nicht geschrieben, um AnarchistInnen vom Kampf gegen die F- Gefängnisse abzuhalten, oder sie von der Solidarität mit Linken (sozialistischen oder kommunistischen Gruppen) abzuhalten. Es betrübt mich und die anderen türkischen GenossInnen, dass die Probleme der anarchistischen Gefangenen nicht deutlicher, allgemeiner und breiter bekannt werden, zu einer Zeit, in der der Kampf gegen die F-Gefängnisse im vollen Gang ist, zu einer Zeit, zu der der Staat Dutzende von aufständischen Gefangenen tötet, egal, für was sie einstehen. Dies darf den Kampf nicht »spalten«; wie Nikos Maziotis sagt: »Solidarität ... ist nicht an Bedingungen geknüpft für alle, die irgendwo mit welchen Methoden auch immer gegen die herrschende politische und gesellschaftliche Ordnung kämpfen«, Ich meine, darum sollten wir als AnarchistInnen den Kampf gegen die F-Gefängnisse unterstützen - nicht, weil wir mit ihnen politisch kooperieren. Ich nenne sie nicht, wie Nikos es tut, GenossInnen, unterstütze aber ihren Kampf aus humanitären und antistaatlichen Gründen. Leider habe ich niemals Artikel oder Meldungen über Nikos' Prozess in einer sozialistischen oder kommunistischen Zeitung in der Türkei gesehen. Dagegen ist es den griechischen AnarchistInnen ernst mit der Unterstützung des Widerstands der sozialistischen Gefangenen hier. Ich würde es auch vorziehen, über all dies in »ruhigeren« Zeiten zu sprechen, aber die Tatsachen erscheinen manchmal zu unvorhergesehenen Zeiten.

Für ein Leben ohne Gefängnisse!

Für »Solidarität ohne Grenzen«!


Übersetzung FdA-Hamburg,

e-mail: i-afd_2@anarch.free.de



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