Titelseite

Links

Feedback

Sozio- ökonomische Grundlagen der islamischen Bewegung

Die Politisierung der islamischen Bewegung ist nicht nur für die Türkei charakteristisch. Zuerst sollte deshalb dargestellt werden, wie der Politisierungsprozeß in der islamischen Welt angefangen hat, da den Anfängen und den ersten ausgerufenen Parolen eine wichtige Bedeutung zukommt. In der Verbreitungsphase ist diese Bewegung zu einer politischen Kraft herangewachsen und hat gleichzeitig angefangen sich von ihren anfänglichen Zielen zu entfernen.
In organisierter Form ist der politische Islam in den 30er Jahren in Ägypten unter dem Namen "Moslembrüder" aufgetreten und hat eine Weiterverbreitung im Iran und in Indien gefunden.
Daß diese Entwicklung mit dem Zweiten Weltkrieg zeitlich zusammenfällt, ist sicherlich kein Zufall. Die nachfolgenden Jahre wurden aber vor allem durch sozialistisch geprägte nationale Befreiungskriege gekennzeichnet, wodurch der politische Islam in den Hintergrund gedrängt worden ist.
Die Betrachtung dieser Jahre aus der Sicht der Länder des Nahen Ostens zeigt, daß hier eine Befreiung von restlichen vorkapitalistischen Produktionsverhältnissen stattgefunden hat. Diese Entwicklung des Kapitalismus wurde in der Türkei mit der Parole der "Verwestlichung" und in einigen Ländern des Nahen Ostens mit der Forderung nach Sozialismus vorangetrieben.
Die Verbreitung des politischen Islams hat vor allem in den Jahren nach 1970 stattgefunden. Hier muß zwei Besonderheiten dieser Jahre erwähnt werden. Bis 1970 hat jedes Land, den von ihm gewählten Entwicklungsweg in gewissermaßen erprobt. Die "Verwestlichung" und in der angewandten Weise der "arabische Sozialismus" wurden den Menschen als negative Lebenserfahrung zueigen. Der Islam konnte nun den Menschen als alternative Gesellschaftsform angeboten werden. Der zweite Grund, der den politischen Islam in den Vordergrund gerückt hat, liegt in den Auswirkungen der zweiten Entwicklungswelle des Kapitalismus. Sie hat sich erst 1970 bemerkbar gemacht. Die islamische Revolution im Iran hat gezeigt, daß diese Entwicklungswelle für die Existenz der alten Systeme ein Gefahr bedeutet. Es soll nun einige Besonderheiten der zweiten Entwicklungswelle dargestellt werden. Die erste Phase der kapitalistischen Entwicklung hat, die von den Regierungen unterstützte Wirtschaftsmonopole hervorgebracht. Diese mit dem Westen eng verflochtenen Monopole haben auch das politische, ökonomische und kulturelle Leben des jeweiligen Landes bestimmt. Die zweite Entwicklungswelle hat nicht nur eine soziale Reaktion gegen diese Monopolbildung erzeugt, sondern hat gleichzeitig dessen ökonomische Grundlage geschaffen. Die Markthändler "pazar esnafi" im Iran, Algerien und Ägypten und die anatolische Bourgeoisie sind die Produkte dieser Reaktion. Der politische Islam, der nun auch ihre eigene materielle Grundlage geschaffen hat, fühlte sich in einigen Ländern in der Lage, die Regierungsgewalt zu übernehmen.

Der politische Islam in der Türkei

Bei der Entwicklung des politischen Islams in der Türkei unterscheiden wir vier Hauptphasen. Die erste Phase fällt in die Periode der Einparteienherrschaft. Um den Laizismus in der neu gegründeten Republik durchzusetzen, wurden Verbote im Hinblick auf die Ausübung des Glaubens ausgesprochen, wodurch der Islam teilweise institutionalisiert worden ist. Der sich nicht in das System integrierende Teil der islamischen Bewegung wurde damit in den Untergrund gedrängt. Sie organisierten sich vor allem nach der Gründung der Türkischen Republik geheimen Orden.
In der Periode der Einparteienherrschaft (bis 1950) versuchte der politische Islam sich durch andere Möglichkeiten neu zu organisieren. Da die Islamisten ihre wahre politische Identität nicht offenbaren konnten, haben sie diese Jahre als die Zeit des Wiederauflebens des Glaubens betrachtet. Auch wenn dieser Gedanke mit denen der "Moslemrüder" Ähnlichkeiten aufweist, sind sie vielmehr gemäßigter und haben nicht unbedingt vor, in Konfrontation mit dem herrschenden System zu geraten. Der verlorene Glaube sollte ohne allzuviele Einmischung der Politik wiederhergestellt werden.
Mit den 50er Jahren beginnt für den politischen Islam in der Türkei eine neue Periode. Die strenge Anwendung des Laizismusprinzips während der Einparteienherrschaft hat mit der Machtübernahme der rechts-konservativen DP (Demokratische Partei) bzw. mit dem Übergang zum Mehrparteiensystem aufgelockert worden. In diesen Jahren haben die Islamisten sich in den rechten Regierungsparteien wie DP und später in der AP (Gerechtigkeitspartei) organisiert. Die 70er Jahre stellen für den politischen Islam auch einen wichtige Wendepunkt dar. Mit der Gründung der " Milli Nizam Partisi" und (MNP- Partei der Nationalen Ordnung) und später der "Milli Selamet Partisi" (MSP- Nationale Heilspartei) haben sie zum erstenmal unabhängig von anderen Parteien auf der politischen Bühne ihren Platz eingenommen. Sie wurde vom türkischen Staat als politische Kraft nicht ernst genommen.
Unter dem Einfluß der iranischen "Revolution" und der sich im inneren des Landes vollziehenden zweiten kapitalistischen Entwicklungswelle Anfang der 80er Jahre fand eine starke Verbreitung und Radikalisierung der islamischen Bewegung statt.
Im Iran hat Khomeini eine radikale Abkehr von der Vorstellung gemacht, die den Religion auf die Einhaltung von Gebets bzw. Glaubensvorschriften reduzierte. Für die Islamisten in der Türkei diente die iranische "Revolution" als Wegweisend. Sie betrachteten den Glauben nicht mehr als eine persönliche Angelegenheit des Individuums. Stattdessen beschäftigten sie sich vorwiegend mit den Problemen des Staates und der Regierungen; denn die Regierungsgewalt zu übernehmen war für sie keine Utopie mehr.
Die politische Islam in der Türkei kann in die drei folgenden Hauptgruppen zusammengefaßt werden: radikaler Islam, gemäßigter (liberaler) und institutionalisierter (resmi) Islam.
Der radikale Islam ist in den 70er Jahren entstanden und hat sich in den 80ern weiterentwickelt. Einer ihrer Vertreter ist IBDA-C (Ak- Doguscular). Ihre Ansichten werden von Rusen Cakir folgendermaßen zusammengefaßt:

  • Die feindlichen Kräfte sollen geschockt werden und in Panik geraten, wodurch sie noch mehr angriffswütiger werden und ihre wahren Gesichter somit offenlegen.
  • Durch Angriffe auf die islamischen Vereine und Einrichtungen soll die muslimische Bevölkerung, vor allem aber die Kadergruppen aus ihrer Passivität herausgeholt werden.
  • Parallel zu diesen Aktivitäten sollte in der breiten Masse Organisierungsarbeit und in ihr enge Kaderarbeit geleistet werden. Bei der Wahl ihrer Kampfmethoden sieht man den Einfluß der revolutionären linken Gruppen und das iranische Beispiel als Vorbild.
    Eine andere radikale Gruppe ging sogar soweit, daß sie versuchte sich von der Vergangenheit der politischen Islams zu distanzieren. In der Zeitschrift "Islamci Girisim" wurde beispielsweise folgende Aussage abgedruckt : "Ich sage dies ganz offen: Leider wurde die muslimische Bevölkerung zur Niederschlagung der Sozialisten benutzt, die sich in Taksim versammelt hatten, um gegen die imperialistische USA zu protestieren. Als ein Moslem erkläre ich, daß wir solche Ereignisse nicht billigen. Die blutigen Tage zwischen uns und den linken Kräften gehören der Vergangenheit an."
    Der Kampf (Widerstand) gegen den US-Imperialismus ist heute eines der charakteristischen Merkmale der radikal-islamischen Gruppen, wodurch sie sich von anderen islamischen Gruppen unterscheiden. Sie nehmen von ihrem Standpunkt aus eine radikale Haltung gegenüber die Tabus (die im Hinblick auf Religion bestehen) des türkischen Staates ein. Außerdem wird die bis jetzt als Hauptfeind erklärte linke Bewegung anders betrachtet, da der radikale Islam nach ihrer eigenen Aussage auch einen "antiimperialistischen" Charakter hätte.
    Der radikale Islam, der sich Anfang der 80 er Jahre zu verbreiten begann, konnte sich nicht lange halten. Mitte 1990 erlebten diese Gruppen eine Rückentwicklung. Hierbei hat sicherlich die begrenzte Wirkung der iranischen "Revolution" auf die islamischen Bewegungen in der Türkei eine Rolle. Hinzu kommt auch noch die Erstarkung des "gemäßigten Islams" (Refah).
    Ohne Zweifel wird in den letzten Jahren die populärste und gut organisierte Teil des politischen Islams von der "Refahpartei" repräsentiert. Sie ist die Hauptbewegung im politischen Islam. Um die "Refah" von der radikalen und institutionalisierten Islam zu trennen, wird sie hier als gemäßigter Islam bezeichnet. Wobei beide politische Richtungen innerhalb der "Refah" vorhanden sind. Im Verlauf der Refahherrschaft wird es wahrscheinlich zu einer Polarisierung dieser Tendenzen kommen. An der Regierung zu sein bringt neben vielen Vorteilen auch die Schwächung der jeweiligen Partei mit sich, denn die Regierungspartei muß sich mit den außer ihr stehenden Kräften eine harte Auseinandersetzung führen. Dies führt zur Vertiefung der Parteiinternen Probleme.
    Den ökonomischen Basis der Refah bildet die anatolische Bourgeosie. Sie hat sich nach 1980 mit der zweiten kapitalistischen Entwicklungswelle entwickelt. Die letzten Parlamentswahlen haben diese Tatsache sehr offen dargelegt. Alle Parteien, die sich dem republikanischen Prinzip verpflichtet fühlen, haben ihre potentielle Wählerschaft in den Gebieten von Marmara und Ägäis. In den Armenvierteln der Großstädte und in den Städten Anatoliens geht "Refah" als die stärkste Partei hervor.
    Nach dem seit 70 Jahren für heilig erklärte Verwestlichung ausreichend verbraucht worden ist, findet unter der islamischen Führung eine Wiederbelebung der bisher immer "verfluchten und erniedrigte Kultur des Ostens". Die anatolische Bourgeoisie, die vom Westen verachtet und nur für Vermarktung von Produktionsgütern gut befunden worden ist, will nun auch ihren Platz in der Wirtschaft einnehmen. Die Tatsache, daß sogar die ehemalige Ministerpräsidentin Tansu Ciller, die TUSIAD (Türkischer Arbeitgeberverband) als Blutsauger bezeichnete und den kleinen und mittleren Betrieben Kredite günstige Kredite versprach, zeigt, daß das Kräftemessen zwischen der anatolischen Bougeosie und dem Finanzkapital sich noch mehr vertiefen wird.
    Als letztes soll der institutionalisierte (resmi) Islam dargestellt werden. Unter der institutionalisierten Islam werden, nicht die vom Staat erzogene und die sich an Prinzipien des Kemalismus orientierende Geistliche gemeint. Diese waren in verschiedenen rechts-konservativen Parteien wie DP, AP und später ANAP und DYP organisiert. Sie bilden den passivsten Teil der politischen Islams. Nach ihnen können die Individuen ohne den vorhandenen System zu verändern, nach islamischen Vorschriften leben. Sie sind oft gegen jede radikale Äußerung und Handlung. Innerhalb dieser Gruppe beobachtet man neue Auseinandersetzungen, nach dem die radikalen Aussagen von "Refah" einen positiven Anklang in der Bevölkerung gefunden hat. Die rechten Parteien haben deshalb Schwierigkeiten in den Wahlkampagnen, religiöse Inhalte wie bisher anzusprechen. Nach dem "Refah" nun an der Regierung beteiligt ist, wird es schwierig werden, den Islam nur auf die individuelle Ausübung des Glaubens zu reduzieren.

    widerstand@koma.free.de