Dersim - ein offenes Gefängnis

Durch Hunger, Vertreibung und Mord droht einer Region in Kurdistan der Untergang

von Leylan Sterk

Die Region Dersim liegt im Nordwesten von Nordwest-Kurdistan, in der Nähe der Grenze zu türkischem Gebiet. Sivas und Bingöl wären als westliche bzw. östliche nächste größere Städte außerhalb der Region zu nennen. Die Kolonialmächte - also sowohl das Osmanische Reich als auch die Türkische Republik - konnten bis 1937 in dieser Region weder Fuß fassen noch in nennenswerter Weise dort eindringen. Dersim war immer eine Hochburg des Widerstandes gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft gewesen, so war z.B. bis zur Entwicklung des Befreiungskampfes unter Führung der PKK der größte kurdische Aufstand von 1936 bis 1939 in Dersim. Später entwickelte sich Dersim mit seiner auch studentischen Prägung zur Hochburg linker Bewegungen innerhalb des türkischen Staates

"Ich war vor einem Monat in Dersim und habe dort festgestellt, daß eine große Kluft zwischen Volk und Staat existiert. Für Dersim werden keine staatlichen Mittel zur Verfügung gestellt; eine Förderung in allen Bereichen ist aber notwendig. Der Staat muß für die Entschädigung der vom Krieg betroffenen aufkommen. Außer in Dersim gibt es nirgendwo Nahrungsmittelembargos", so Hüsamettin Cindoruk, Vorsitzender der Demokratischen Partei Türkei.

Der kurdische Name Dersim wurde nach 1938 in den türkischen Namen Tunceli umgeändert. In einer Region, in der vor 10 Jahren noch rund 170000 EinwohnerInnen lebten, sind heute weniger als 20000 übriggeblieben. Für die noch dort lebenden Menschen hat sich ihre Heimat zu einem offenen Gefängnis entwickelt. Es herrscht seit 1978 der Ausnahmezustand. Wälder und in deren Nähe liegende Dörfer werden zerstört und bombardiert. Die noch dort lebenden Menschen leiden große Not. Seit drei Jahren wird diese Art von Politik rigoros durchgeführt.
Die Ein– und Ausreise in das Gebiet wird durch das türkische Militär kontrolliert. Dafür wurden neue Militärstützpunkte gebaut. Um Dersim zu passieren, müssen die Menschen oftmals stundenlang warten. Dann werden sie gemeinsam mit anderen 10 bis 15 Kilometer in einem militärischen Konvoi weitergefahren.
Ein Großteil der Einwohner hat Dersim verlassen, vor allem 1994, als 90% der Dörfer zerstört und verbrannt wurden. Laut Statistik des ‘Dersim Solidaritätsforum’ (das als Delegation aus Deutschland im Mai 1998 in Dersim war) sind von 314 Schulen 284 geschlossen worden, ebenso 92 von 98 Gesundheitszentren. In der Region geblieben sind überwiegend alte und arme Menschen.
In Dersim finden in der Regel sowohl im Frühling als auch im Herbst militärische Operationen in den Bergen statt. So waren im vergangenen Frühling rund 100000 Militärangehörige in Dersim stationiert. Einzelne Soldaten, sogar ein Oberleutnant, haben in Gesprächen mit verschiedenen Delegierten gesagt, daß der ganze Krieg zu nichts führe und das nur Menschen auf beiden Seiten sterben würden. Ebenso wird vermutet, daß es in militärischen sowie politischen Kreisen viele Menschen gebe, die den Krieg nicht beenden wollen, weil sie dabei ein doppeltes Gehalt verdienen.
‘In meiner Stadt Dersim sind fast alle Schulen geschlossen. Es gibt sowohl in der Stadt als auch in den Bezirken keinen Arzt und keine Lehrer’, so Kamer Genc, Vizepräsident des türkischen Parlaments, Abgeordneter aus Dersim. Die Menschen stehen im Krankenhaus Schlange und fahren letztlich doch immer wieder nach Elazig, wobei viele schon unterwegs sterben.
Das von der Regierung in Ankara verhängte Nahrungsmittelembargo, welches 1994 eingeführt wurde, wird in Dersim noch strikt eingehalten. Hier ist einer 4köpfigen Familie der Kauf von 40 Kilogramm Mehl alle 40 Tage erlaubt. Die Menschen erhalten Nahrungsmittelkarten, womit sie Lebensmittel wie Mehl, Zucker und andere Grundnahrungsmittel kaufen können. Als der Tunceli–Verein diese Nahrungsmittelkarten jedoch im vorletzten Jahr mit nach Istanbul nahm und sie veröffentlichte, wurden sie vom Militär beschlagnahmt. Der Tunceli–Verein, der sich für die Rechte der Dersim Bevölkerung einsetzt, wurde vor rund 20 Jahren von Intellektuellen gegründet.
In Dersim werden die dort lebenden Menschen, regionale Politiker oder auch Geschäftsleute bedroht, damit sie Dersim verlassen. So berichtete zum Beispiel ein Direktor eines Gymnasiums nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, daß er während seiner Haft aufgefordert wurde, Dersim zu verlassen. Auch Celal Yasar, einer der reichsten Männer in Dersim, hat bestätigt, tagtäglich von obskuren Kräften aus dem Staatsapparat bedroht zu werden. Ihm wurde gesagt, er solle in den Westen gehen, da er dort besser leben und verdienen könne. Außerdem stünde er auf der Liste des JITEM  (Geheimdienst der türkischen Gendarmerie) der unter anderem auch Morde verübt. Einige der auf der Liste genannten seien schon ermordet worden. Für Yasar steht jetzt nicht im Vordergrund, daß er eventuell ermordet wird, sondern, daß der türkische Staat versucht, Dersim von der Landkarte zu streichen. Wenn er, wie auch andere Regionalvertreter, ermordet würde, könne der Staat sein Ziel erreichen.
Ebenso wurde Musa Yerlikkaya, Oberbürgermeister der Kreisstadt Ovacik unter Morddrohungen brieflich aufgefordert, seine Stadt zu verlassen. Genauso wie der Oberbürgermeister von Dersim, Mazlum Aslan.
Die Menschen der zerstörten Dörfer von Ovacik leben nun seit vier Jahren in Blechhütten und ernähren sich von Linsen und Nudeln. Sie erhalten immer noch keinerlei Hilfe, auch nicht vom türkischen Roten Halbmond. Hier ist zu sehen, daß der Staat versucht, eine gezielte Vertreibungspolitik durchzuführen, um Dersim ganz von der Landkarte streichen zu können. Schon anhand der Tatsache, daß Dersim jetzt nur noch weniger als 20000 Einwohner hat und von Tag zu Tag mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen, werden die Erfolge des staatlichen Vorgehens deutlich.
In der Region Dersim leben hauptsächlich kurdische Aleviten. Diese haben sich in ihrer langjährigen Geschichte bis heute immer wieder der Politik des türkischen Staates widersetzt und Zusammenarbeit mit ihm abgelehnt. Sie sind entschiedene Befürworter der Demokratie und der Gleichberechtigung und haben immer für diese Werte gekämpft. Schon unter dem Osmanischen Reich haben sie sich gegen die Ansprüche einer Zentralgewalt, die ihre Region für sich vereinnahmen wollte, gewehrt. Auch unter der türkischen Republik haben sie keine Dorfschützer aus sich machen lassen. Den Machthabern der Türkei sind die Aleviten ein Dorn im Auge, da in dem zu Beginn der siebziger Jahre einsetzende Widerstand, die Intellektuellen überwiegend aus Dersim stammten. Auch deshalb sieht die Regierung die Bevölkerung von Dersim als ein Problem. Auf vielerlei Art und Weise versucht Ankara, die liberalen Aleviten von ihrer kurdischen Identität abzubringen und sie türkisch zu assimilieren. Dabei bleiben sie jedoch ohne Erfolg.
Dieser Krieg gegen die Menschenrechte herrscht jedoch nicht nur in Dersim, sondern überall in der Türkei. Tagtäglich werden Häuser und Dörfer vom türkischen Militär besetzt und dem Erdboden gleich gemacht. Viele Menschen werden wegen ihrer kritischen Äußerungen in Wort und Schrift verhaftet, gefoltert oder erschossen. Für das Verschwindenlassen dieser Menschen wurde unter der Ägide des Geheimdienstes MIT die Konterguerilla aufgebaut. Laut einem Bericht der Tageszeitung Evrensel vom 22. Januar 1996 soll es für die Provinz Diyarbakir in der Hauptstadt und den Kreisstädten zwischen 30 und 40 Verhörzentren von JITEM und MIT geben. Diese Teams sollen unter der Kontrolle der Kommandantur des Armeekorps, das dem Generalstab unterstellt ist, für Ordnung sorgen. Die Verhöre würden zwischen 60 und 70 Tage dauern, wobei viele in und nach dieser Zeit entweder verhaftet oder umgebracht werden, weil sie der Folter standgehalten haben und nicht zu Kollaborateuren wurden.