Eine Aktion der Konterguerilla

Der stellvertretende IHD-Vorsitzende Osman Baydemir zum Anschlag auf Akin Birdal

Seit seiner Gründung kämpft der Menschenrechtsverein IHD für den Schutz und die Entwicklung der Grundrechte und die Freiheit der Menschen. Der IHD führt seinen Kampf nur mit freiwilligen Aktivisten, unabhängig von den politischen Parteien und staatlichen Institutionen. Er hat diejenigen, die Freiheit und Menschenrechte mit Füßen treten, stets kritisiert und angeprangert. Das störte die mit dem Staat verbundenen illegalen und das Lebensrecht verachtenden Organisationen. Diese Organisationen ermordeten allein 14 der Vorsitzenden des IHD

Der Anschlag am 12. Mai 1998 auf unseren Vorsitzenden Akin Birdal reiht sich ein in die Liste der Attentate ‘unbekannter Täter’ auf die anderen 14 IHD-Aktivisten und die anderen politischen Morde ‘unbekannter Täter’. Wir befürchten, daß diese ‘unbekannten’ Mörder, statt ausfindig gemacht zu werden, eigentlich geschützt werden. Und dieser Angriff wird nicht der letzte sein.
Die Tatsache, daß dieses Attentat von langer Hand vorbereitet war, die Art und Weise, wie die Regierung und andere offiziellen Stellen sich zu diesem Angriff geäußert haben, daß die Hintermänner offensichtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden sollen und auch erst durch nationalen und internationalen Druck wenigstens die Attentäter selbst festgenommen wurden, und wie die der Militärjunta hörigen Journalisten über diesen Anschlag berichteten – all das macht deutlich, daß es auch in Zukunft keine Garantie auf das Lebensrecht geben wird.
Die heutige Menschenrechtslage in der Türkei ist von dem Geist der universellen Menschenrechte weit entfernt. Wenn man sich die Realität der Menschenrechte in der Türkei seit ihrer Gründung anschaut, kann man deren systematische Verletzung sehen. Nach dem Militärputsch im Jahre 1980 wurde im Jahre 1982 die türkische Verfassung von den Militärs diktiert, was auch auf die Justiz und die Politik Auswirkungen hat. Ob ein Staat demokratisch ist oder nicht, ob die Menschenrechte existieren oder nicht, ist die wichtigste Frage, die durch Politik und Justiz beantwortet werden kann. Die türkische Verfassung ist anti-demokratisch.
Das Ziel des IHD ist es, daß eine Demokratie nach den Richtlinien des Volkes unter politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Gesichtspunkten entwickelt wird, in dem das Volk den eigenen Willen frei äußern kann.
Das derzeitige türkische Regime kann dies nicht gewährleisten. Da das derzeitige System anti-demokratisch ist, können in jedem Lebensbereich Menschenrechtsverletzungen festgestellt werden.
Die kurdische Frage ist das größte Hindernis für die Lösung der demokratischen Frage. Auf unsere Bemühungen, die kurdische Frage und die Menschenrechte politisch, rechtlich und demokratisch zu lösen, reagierte der Staat mit Verleumdungs- und Gewaltpolitik. Das bedeutete systematische Folterungen, Verbrennung der Dörfer und Vertreibung der Bevölkerung, politische Morde ‘unbekannter Täter’, Verschleppung von politisch mißliebigen Menschen, Vollstreckung ohne Urteile, Strafe für Meinungsäußerungen.

 ’Bringt den IHD zum Schweigen!’
Die Behauptung einiger Kreise, die kurdische Frage sei strategisch mit Krieg zu lösen, ließ den IHD fragen, wem der Krieg Gewinn gebracht hat. Eine Antwort war, daß die illegalen Organisationen wie die Konterguerilla sich vom Krieg ernähren und vom Staat geschützt werden. Dies setzte den IHD heftigen Reaktionen aus.
Kurz gesagt, da der IHD mutig und grundsätzlich gegen die Praktiken des Staates und der rechtswidrigen Organisationen vorgegangen ist, geriet er in deren Fadenkreuz.
Vor dem Anschlag auf unseren Vorstandsvorsitzenden beschloß der  Nationaler Sicherheitsrat (MGK) am 28. Februar, daß der IHD zum Schweigen gebracht werden muß. Anschließend wurden unsere regionalen Büros geschlossen. Anders als mit diesem Beschluß des MGK ist nicht zu erklären, daß unsere Büros in Urfa und Diyarbakir immer noch zu Unrecht geschlossen sind. Gegen jede unserer Presseerklärungen sowie gegen unser Zentralbüro wurden Strafverfahren eröffnet. Als sie aber damit keinen Erfolg hatten, wurde dieser Anschlag verübt.
Einige Zeitungen behaupteten in groß aufgemachten Schlagzeilen, Semdin Sakik hätte den IHD und damit Akin Birdal in seinen Aussagen zum Zielobjekt des Staates gemacht. Unsere Antworten und Presseerklärungen gegen diese Behauptungen wurden jedoch verdreht und ignoriert. Allein dies reicht aus, um zu erahnen, aus welcher Ecke die Planung des Anschlags kam. Sakik wurde durch das Staatssicherheitsgericht (DGM) von speziellen Vernehmungsteams verhört. Nach dem Gesetz dürfen die Verhöre nicht öffentlich bekannt gemacht werden. Also woher hatten die Medien ihre Informationen? Wie konnte es sein, daß sie so sicher waren?
Am 12. Mai 1998 um 12.00 Uhr kamen zwei Personen in unserer Zentralbüro und gaben sich gegenüber Akin Birdal als vom Staat ungerecht behandelt aus.
Nach dem Anschlag sagte Akin Birdal: ‘Als sie ins Büro kamen, machten sie keinen Eindruck von ungerecht Behandelten. Sie sahen mich nicht an und an ihrer Aufgeregtheit fühlte ich ihre aggressiven Absichten. Als ich ihnen eine Zigarette anbot, merkte ich, daß einer eine Waffe trug.’ Aus dieser Situation heraus geleitete Akin Birdal sie aus dem Zimmer, doch sie kehrten wieder zurück.
In vielen unserer Presseerklärungen brachten wir zum Ausdruck, daß wir bedroht und unsere Telefongespräche abgehört werden. Jedoch wurden keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Ohnehin waren die Ein- und Ausgänge unseres Gebäudes unter Beobachtung gestellt. Aber an dem Tag, an dem der Anschlag verübt worden war, waren keine Sicherheitskräfte in der Nähe; obwohl 14 Schüsse fielen, reagierte niemand. Ist das nicht ein Anzeichen eines organisierten Angriffes? Akin Birdal hatte an dem Tag ein Gerichtsverfahren beim DGM, wo er von morgens bis mittags war. Der Anschlag auf ihn geschah 15 Minuten, nach seinem Eintreffen im Büro. Das macht deutlich, daß die Angreifer informiert waren und ihn beobachtet hatten.

Die Repression gegen Oppositionelle verschärft sich
Nach dem Anschlag behauptete Ministerpräsident Mesut Yilmaz, der Anschlag sei eine IHD-interne Abrechnung. In den ersten fünf Tagen nach dem Attentat wurden den Augenzeugen die Bilder der Mitglieder unseres Vorstandes und die der HADEP gezeigt. Hieran zeigt sich im Endeffekt, worauf sie tatsächlich hinaus wollten. Jedoch erreichte der Anschlag sein Ziel nicht. Noch einmal wußte Akin Birdal Widerstand zu leisten und ein Wunder ist geschehen. Er hat die Lebensgefahr überwunden. Daraus folgend gab es sowohl nationale als auch internationale Solidarität, was die Regierung zwang, die Attentäter zu finden.
Denn es war schon im Vornherein bekannt, durch wen dieser Anschlag organisiert und ausgeübt werden sollte. Es hieß, der ehemalige Vorsitzende des Geheimdienstes, Hanifi Avci, wäre schon vor drei Monaten von einer Anschlagsplanung ausgegangen. Er hätte dies an die zuständigen Behörden weitergeleitet. Das Staatssicherheitsgericht hätte einen Bericht darüber verfaßt.
Gegen jegliche Repression und alle Verurteilungen leistete der IHD Widerstand, aber die Angriffe gegen seine Vorstandsmitglieder beruhen auf alten Plänen. In einer Versammlung aller Regionalgouverneure und Staatsmänner 1996 in Mersin gaben der Nationale Sicherheitsrat und die Arbeitsgruppe West eine kurze Anweisung, in der sie direkt Namen genannt haben und diese als Ziele benannten. Der damals benannte Personenkreis beschränkte sich nicht auf Akin Birdal und den IHD.
Verschiedene Medien berichteten über die angeblich von Semdin Sakik gemachten Behauptungen und Aussagen. Diese Berichte waren ein Zeichen dafür, daß gezielt Personen und Institutionen angegriffen werden sollten. Nach diesen Berichten griff die Polizei vor allem die Samstagsmütter an, die eine demokratische Opposition herausgebildet hatten. Auch die KESK, die Schriftsteller, die über Menschenrechte, Demokratie und Frieden reden, die Intellektuellen und Schauspieler, die nicht korrumpiert sind, werden zum Ziel. Die ganze Gesellschaft soll zum Schweigen gebracht werden.
Die Anzahl der Morde unbekannter Täter erhöhte sich im Jahre 1991, als einer der Gründer des IHD, Vedat Aydin ermordet wurde. Man wollte diese unmenschlichen Angriffe 1992 gegen alle oppositionelle Kreise durchführen, und dies sollte mit dem Angriff auf Akin Birdal wieder belebt werden. Die sich für Menschenrechte, Demokratie und Frieden einsetzten, sollten einzeln ermordet werden, ihre Einrichtungen geschlossen werden, oppositionelle Zeitungen bombardiert werden und somit eine Gesellschaft, die nichts sieht, hört und weiß, eine verängstigte Gesellschaft, geschaffen werden. Akin Birdal hat Widerstand geleistet, deshalb ist er nicht tot. Aber das Leben der Menschen, die sich für Menschenrechte, Demokratie und Frieden einsetzen, ist in Gefahr.
Über die aus dem Susurluk-Unfall hinaus bekannt gewordenen Tatsachen gibt es etwa 3500 Verbrechen der Konterguerilla, die mit Unterstützung und Einverständnis des Staates durchgeführt worden sind und die bis heute immer noch von dem Staat gedeckt werden. Diese Verbrechen wurden zwar öffentlich gemacht, aber es gab keine einzige offizielle Kommission, die diese Verbrechen hätte aufklären müssen und Kampfwillen gegen die rechtswidrigen Organisationen gezeigt hätte. Kutlu Savas bereitete im Namen des Ministerpräsidenten einen Bericht vor, indem er kommentierte, daß der Staat zwar das Recht hat, solche Verbrechen auszuüben, aber die Methoden bringen den Staat in Verdacht und dies bringt für die Zukunft große Probleme mit sich.

Die Konter-Guerilla ist innerhalb des Staates fest verwurzelt
Der türkische Staat war gezwungen, die Mörder Akin Birdals zu finden. Wir sehen, daß die Verhafteten wegen ihrer Tätigkeit in Verbindung mit dem Staat standen und ihre Beziehungen spielen ließen. Vom Generalsicherheitsschef über den türkischen Geheimdienst (MIT) bis hin zum türkischen Parlament sind alle ins Kreuzfeuer der Konterguerilla geraten. Die Festgenommenen sagten bei dem Verhör aus, daß sie den Befehl zu dem Attentat von einem Mahmut Yildirim bekommen haben. Wer also ist dieser Mahmut Yildirim? Für wen hat er gearbeitet? Mahmut Yildirim, alias Yesil, ist wessen Mann? Von wem erhielt er die Befehle? Warum wurde er bis heute nicht verhaftet? Bei allen Verbrechen tauchte immer wieder sein Name auf: Warum wurden diese nicht aufgeklärt? Es wird behauptet, daß Semih Tufan Güraltay diesen Anschlag finanzierte. Er wurde im Hause des pensionierten Oberstleutnant Korkut Eken, auch Mitglied des Gendarmeriegeheimdienstes JITEM, verhaftet. Man sagt, daß man bei Korkut Eken 60 Fahnen der türkischen Rache-Brigade und eine Liste von 60 Personen gefunden hätte. Warum wurde diese Liste nicht veröffentlicht? Die Antworten auf diese Fragen würden verständlich machen, daß die Konterguerilla eine fest mit dem Staat verbundene Organisation ist und daß der Staat aus ihr Profit erzielt. Der Ministerpräsident sagte: ‘Wer für den Staat schießt, ist auch zu ehren.’ Der Staatspräsident sagte: ‘Der Staat übt keine Verbrechen aus.’ Oder wie Yesil sagte: ‘Die Getöteten waren sowieso schuldig’. Zeigen diese Aussagen nicht, daß hier eine Organisation auf verschiedenen Ebenen der Politik Einfluß ausübt?
Es müßte gefragt werden, wie es sein kann, daß ein Staat durch solche rechtswidrigen Mechanismen geführt wird und wie er sich davon befreien kann. Die 75jährige Republik ist repressiv und totalitär. Die Art, Probleme untereinander zu lösen, besteht aus verleumderischen und zerstörerischen Praktiken. Es herrscht eine Struktur, die von außerhalb des Rechts stehenden Organisationen geführt wird und weit entfernt ist von Demokratie und Menschenrechten.
Man beharrt darauf, die kurdische Frage mit einer gewalttätigen Politik zu lösen, und dies führt zu einer Systematisierung der Menschenrechtsverletzungen. Die kurdischen Regionen werden seit Jahren mit Gesetzen wie dem ‘Izaleyi Sekavet’, dem ‘Mecburi Iskan-Gesetz’, dem ‘Tunceli-Gesetz’, dem ‘Istiklal mahkemeleri-Gesetz’ und heute mit dem ‘Ausnahmezustandsgesetz’ regiert. Die Regierungsmechanismen haben zugelassen, daß sich rechtswidrige Organisationen durch verschiedene Methoden und Praktiken des Krieges entwickelten und ausdehnten. Nach Susurluk hat sich durch den Anschlag auf Akin Birdal gezeigt, daß eine demokratische Staatsform notwendig ist. Eine Demokratie zu erreichen, ist nur mit einem ehrenhaften Frieden möglich. Mit diesem Frieden kann die kurdische Frage demokratisch und politisch gelöst werden.
Auch für das türkische Volk ist die Notwendigkeit des Friedens von großer Aktualität. Um Frieden zu erreichen, ist eine grundlegende Solidarität der organisierten Kräfte des türkischen Volkes notwendig. Bis in der Türkei Frieden herrscht, bis die Banden abgeschafft sind, wird das Leben der Menschenrechtler, Demokraten und Friedensaktivisten in Gefahr sein.
Der IHD wird vor allem die Bedrohung des Lebensrechts und der Freiheit durch außerrechtliche Organisationen enthüllen, sie verurteilen, zur Rechenschaft ziehen und weiterhin verfolgen. Mit dem Bewußtsein, daß der Frieden eine Sicherheit für das Lebensrecht ist, wird sie ihre Solidarität mit den Anhängern von Demokratie und Frieden verstärken.l

Rechtsanwalt, Osman Baydemir
Stellvertretender des IHD-Generalvorsitzenden
Unsere ermordeten Vorstände und Mitglieder
Vedat Aydin (Gründer und Mitglied der IHD-Filiale in Diyarbakir)
Siddik Tan (IHD-Filiale in Batman, Vorstandsmitglied)
Idris Özcelik (IHD-Filiale in Urfa, Vorstandsmitglied)
Kemal Kilic (IHD-Filiale in Urfa, Vorstandsmitglied)
Orhan Karaagar (Mitglied der IHD-Filiale in Van)
Cemal Akar (Mitglied der IHD-Filiale in Erzincan)
Sevket Epözdemir (Vertreter der IHD-Filiale in Tatvan)
Metin Can (Vorsitzender der IHD-Filiale in Elazig)
Hasan Kaya (Mitglied der IHD-Filiale in Elazig)
Muhsin Melik (Gründungsmitglied der IHD-Filiale in Urfa)
Ikram Mihyas (Mitglied der IHD-Filiale in Izmir)
Didar Sensoy (Mitglied der IHD-Filiale in Istanbul)
Tacettin Asci (Aktivist der IHD-Filiale in Bursa; ermordet im Juni 98)
Ahmet Aydin (Aktivist der IHD-Filiale in Bursa; ermordet im Juni 98)