Nicht der Krieg bringt die Lösung, sondern allein Dialog und Frieden

Eine aktuelle Bewertung

Von Kazim Aycil

Nach verschiedenen Rückschlägen in den letzten Monaten hat der türkische Staat seine psychologische Kriegspropaganda intensiviert. Allerdings ist diese Art von Propaganda nichts Neues, denn sie wurde seit Beginn des Konflikts ununterbrochen angewandt. Neu ist deren heutiges Ausmaß, das durch die Situation, in der sich die Türkei befindet, bedingt ist. Was ist geschehen? Um zu erklären, warum die psychologische Kriegführung eine solche Dimension angenommen hat, ist es notwendig, den Blick auf die vergangenen Monate zu richten.
In der letzten Ausgabe des Kurdistan Report wurde darüber berichtet, wie eindrucksvoll die kurdischen Newrozfeierlichkeiten verlaufen sind. Trotz aller gegenteiligen Bemühungen der staatlichen Seite hat die Bevölkerung in einer noch nie dagewesenen Breite ihr Neujahrs- und Widerstandsfest gefeiert. Kurz nach Newroz hat der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, der eine politische und friedliche Lösung der kurdischen Frage befürwortet, neue Schritte in dieser Richtung unternommen. So sandte er einen Brief an den türkischen Generalstab, in dem er einige konkrete Punkte in Hinblick auf eine Lösung aufgezählt hat. Während einer Diskussionsrunde im Fernsehsender MED-TV startete Öcalan dann noch einmal persönlich einen Aufruf. Sowohl der Brief als auch der Aufruf fanden bei den einfachen Soldaten, in der türkischen und kurdischen Bevölkerung und auf internationaler Ebene ein positives Echo. Die Soldaten, die seit Jahren an vorderster Front gegen die Guerilla kämpfen müssen, wissen aus eigener Erfahrung, daß mit der derzeitig praktizierten Politik keine Lösung zu erreichen ist. Aus diesem Grund hat Öcalans Aufruf auch im wesentlichen auf diese Soldaten gewirkt. So sind die in der Türkei lebenden Völker, die nun schon so viele Jahre die wirtschaftliche Last dieses schmutzigen Krieges tragen und durch ihn ihre Kinder verlieren, nicht mehr bereit, noch mehr Leid zu ertragen. Deshalb hatte der Aufruf auch auf sie eine positive Wirkung. In der Gesellschaft mehren sich täglich die Stimmen, die Frieden fordern.

Der Griff in die Mottenkiste der Propaganda
In dieser Situation ist der Staat unter allen Umständen zum Eingreifen gezwungen. Die Diskussion über eine politische und friedliche Lösung soll wieder von der Tagesordnung entfernt werden. Mit solchen Praktiken hat die Türkei Erfahrung. Wie so oft versucht sie es auch jetzt mittels der psychologischen Kriegführung. Siegesmeldungen werden in die Welt hinausposaunt, gleichzeitig wird militaristisches und chauvinistisches Gedankengut verbreitet. Ein willkommenes Werkzeug für ihre Zwecke war kurzzeitig der Überläufer Semdin Sakik. Mit Hilfe der Medien wurde von staatlicher Seite ununterbrochen versucht, Sakik als zweiten Mann der PKK darzustellen. Die zahllosen Berichte sollten dieses Szenario glaubhafter erscheinen lassen und die kurdische Bevölkerung verunsichern.
In den Medien wurden die angeblichen Aussagen Sakiks breit wiedergegeben; allerdings gehören die Themen und Inhalte der ‘Aussagen’ schon lange zum Standardrepertoire der Staatspropaganda und sind politischen Beobachtern wohlbekannt: mit alten Lügen wie, die PKK habe den schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme ermordet, wurden die Medien gefüttert, doch schon nach wenigen Tagen fielen diese Lügenkonstrukte zusammen. Oder man benutzte Sakik, um Stimmung gegen Oppositionelle zu machen, um letztere einfacher ausschalten zu können. Auf diese Art und Weise versuchte man Vorwände zu schaffen, um unliebsame Organisationen oder Personen, die sich für Frieden und Völkerverständigung einsetzen, zum Schweigen zu bringen. Aus diesem Grund füllten die sogenannten Aussagen Sakiks tagelang die Seiten der Zeitungen. Es war der Versuch, ein Klima zu schaffen, das die Ausschaltung der Opposition ermöglichen sollte. So nahm denn auch die Repression gegen zivile gesellschaftliche Organisationen wie die Demokratische Volkspartei (HADEP), IHD, das Mesopotamische Kulturzentrum (MKM) und die Gewerkschaft KESK stetig zu.

Die legale Opposition im Würgegriff des Staates
Seit ihrer Gründung ist die HADEP massiver Repression ausgesetzt. Der Grund für ihre Verfolgung liegt in der Tatsache begründet, daß sie als das größte Problem der Türkei die kurdische Frage benennt und sich für eine friedliche Lösung derselben einsetzt. In den Parteigeschäftsstellen werden ständig Polizeirazzien durchgeführt, in deren Verlauf sowohl Vorstandsmitglieder als auch die anwesenden einfachen Mitglieder festgenommen werden. Ihr ‘Verhör’ geschieht in der Regel in den Folterkellern der Polizei. Laut den jüngsten Presseerklärungen der HADEP wurden seit März dieses Jahres vier Mitglieder der Partei ermordet. Die politische Polizei hat die Hauptgeschäftsstelle der Partei zweimal hintereinander durchsucht und verwüstet. 29 Geschäftsstellen auf Bezirksebene waren ebenfalls das Ziel polizeilicher Razzien. Zurück blieben jeweils verwüstete Büros. Die Anzahl der in diesem Zeitraum festgenommenen HADEP-Mitglieder wird auf 1304 beziffert. Nahezu der gesamte Parteivorstand inklusive des Parteivorsitzenden befindet sich in türkischen Gefängnissen. Die Zahl der Ende Juni verhafteten Vorstands- und Parteimitglieder von Regionalverbänden kommt noch hinzu. Statt durch ein direktes Parteiverbot, das internationale Kritik hervorrufen würde, soll die Parteiarbeit durch diese stetige und massive Repression behindert werden.
Der Menschenrechtsverein in der Türkei (IHD) genießt aufgrund seines Wirkens – als unabhängige Menschenrechtsorganisation dokumentiert er vom Staat begangene Menschenrechtsverletzungen – weltweites Ansehen. Er schafft auf nationaler und internationaler Ebene Öffentlichkeit über die Situation der Menschenrechte in der Türkei. Mit ihrer mutigen Arbeit sind die Mitglieder des IHD der Regierung ein Dorn im Auge; sie sind von ständigen Repressionen bedroht. Der Mordanschlag auf den international renommierten IHD-Vorsitzenden Akin Birdal, der dabei schwer verletzt wurde, war ein vorläufiger Höhepunkt staatlicher Gewalt gegen die Opposition. Die Reaktion der internationalen Öffentlichkeit auf dieses Verbrechen zwang jedoch die türkische Regierung zum Handeln. Sie brachte ein Bauernopfer dar. Cem Ersever, Offizier der Gendarmerie und langjähriges Mitglied des Geheimdienstes, und einige andere Personen seines Umkreises wurden als Täter verhaftet. Betrachtet man den Fall genauer, wird deutlich, daß hier staatliche Stellen, Todesschwadrone und Mafia, die auf das Engste miteinander verquickt sind, ihre Hand im Spiel haben. Ein Ziel des Attentats auf Akin Birdal war es, all jene einzuschüchtern, die für Demokratie und Frieden eintreten.
Hierzu zählen auch die Samstagsmütter, die hartnäckig auf das Schicksal ihrer verschwundenen oder getöteten Kinder aufmerksam    machen und ein Ende von Unterdrückung und Krieg fordern. Sowohl sie als auch kurdische Kulturschaffende oder die unabhängige Tageszeitung ‘Ülkede Gündem’ – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – sind von staatlicher Verfolgung betroffen. Und auch in den Gefängnissen hat sich die Situation kontinuierlich verschärft. Beispielsweise wurden in den Gefängnissen von Mus, Amasya und Erzurum die politischen Gefangenen unter haltlosen Vorwänden angegriffen und Dutzende von ihnen verletzt.
Die hier beschriebenen staatlichen Angriffe richteten sich alle gegen legale Strukturen. Parallel zu dem schmutzigen Krieg sollen demokratische Organisationen und Personen durch massive Repressionen zum Schweigen gebracht werden. So wird einerseits versucht, die Gewalttaten vor der Weltöffentlichkeit zu verheimlichen, und andererseits, die gesellschaftliche Opposition verstummen zu lassen.

Anhaltende Reformunwilligkeit
Seit Jahren fordern Menschenrechtsorganisationen und auch die Europäische Union Verbesserungen im Bereich der Menschenrechtslage und den Abbau der Demokratiedefizite. Doch die Verantwortlichen in der Türkei lassen sich in diesem Bereich auf keine Reformen ein. Die Unwilligkeit oder auch Unfähigkeit der Herrschenden in der Türkei zu Reformen betrifft aber nicht nur den Bereich der Achtung der Menschenrechte. Auch die Ökonomie befindet sich seit langem in einer tiefen Krise. Ende Mai kritisierten internationale Wirtschaftsorganisationen zum wiederholten Male die türkische Wirtschaftspolitik und mahnten erneut Reformen an.
Die anhaltende Reformunwilligkeit in allen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bereichen ist Ausdruck der Ausweglosigkeit der herrschenden Klasse in der Türkei. Sie suchen einzig einen Ausweg mittels der Anwendung von Gewalt.

Die türkische Militärmaschine läuft ins Leere
Nach der Situation auf der legalen, demokratischen Ebene muß man sich auch kurz die Lage auf der militärischen Ebene vor Augen führen. Auf der einen Seite läßt der Generalstab verlauten, 90% der militärischen Kraft der PKK sei zerschlagen, auf der anderen Seite mobilisiert er im Rahmen seiner Operationen 100 000 Soldaten in Kurdistan. Am 10. April wurde in Botan eine Operation begonnen, die elf Tage dauerte; am 24. April, dem Jahrestag des Völkermords an den Armeniern, startete das türkische Militär in Diyarbakir seine sogenannte ‘Murat’-Operation. Offiziellen Verlautbarungen zufolge war dies die größte Operation in den vergangenen vierzehn Jahren. Bis zu 100 000 Soldaten waren nach Angaben des Pressebüros der kurdischen Volksbefreiungsarmee ARGK daran beteiligt. Große Operationen fanden auch in anderen Gebieten, so in Dersim, Garzan und Serhat, statt.
All diese Militäroperationen wurden mit großem Getöse und markigen Worten begonnen. Doch von ihrer Beendigung hörte man in den  türkischen Medien nichts. Dieses Schweigen sagt viel aus über die türkischen ‘Erfolge’.
Man erkannte nun auch auf türkischer Seite, daß es der Sache mehr diene, wenn eine erneute Invasion Südkurdistans, die dann am 20. Mai gestartet wurde, in aller Stille geschehe. So versuchte man die internationalen Reaktionen äußerst gering zu halten und die eigentlichen Ziele gut zu verheimlichen. Doch auch hier ging die Rechnung nicht auf. Die Türkei erlebte dasselbe wie vorher schon in Nordkurdistan. Die Guerilla ließ die gewaltige Militärmaschine anfangs in Leere laufen, um sie dann verstärkt anzugreifen. Dabei konnten dem türkischen Militär und den mit diesem zusammenarbeitenden KDP-Peschmergas nicht unerhebliche Verluste zugefügt werden. Dadurch war die türkische Armee gezwungen, sich teilweise zurückzuziehen. Zusammen mit den Kräften der KDP hält sie jedoch die Städte im Süden besetzt. Seit längerem ist bekannt, daß die Türkei nicht mehr über die absolute Luftherrschaft verfügt. Allein in den letzten drei Monaten sind acht Militärhubschrauber und ein Kampfjet abgeschossen worden.
Derzeit kommt es sowohl in Süd- als auch in Nordkurdistan täglich zu Gefechten. Die militärische Initiative liegt hierbei bei der ARGK, deren Stärke von Tag zu Tag wächst. So konnte die Guerilla ihr Einflußgebiet in Südkurdistan in diesem Jahr verdoppeln.

Die alten Tricks…
Mit einer falschen Tagesordnung will der türkische Staat jetzt von den eigentlichen Themen ablenken und die anstehenden Wahlen in den Mittelpunkt stellen. Mit so einer Diskussion sollen bei den Massen bestimmte Erwartungen geweckt und die Entwicklung einer gesellschaftlichen Opposition verhindert werden.
Die Innenpolitik der Türkei spielt sich schon lange in einer Sackgasse ab. Bezüglich der Außenpolitik sieht es nicht anders aus. Es gibt nur einen Unterschied. Der entscheidende Einfluß innerhalb der Staatsführung liegt bei den Generälen. Um trotzdem den Eindruck eines Zivilstaates zu erwecken, überläßt der Generalstab die Außenpolitik scheinbar der Regierung. In den letzten Monaten haben die Militärs allerdings auch die Fortführung der Außenbeziehungen in die Hand genommen. So hat der Generalstabschef persönlich Rußland und verschiedene Balkanstaaten besucht. Er wollte diese Besuche zum Abschluß militärischer Handelsabkommen nutzen, kam jedoch mit leeren Händen zurück.
In dieser Zeit war die Türkei, was die politischen Kontakte anging, von Europa isoliert. Die EU hatte der Türkei offen mitgeteilt, daß die Bedingungen für eine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft die Lösung der kurdischen Frage, Fortschritte in Sachen Menschenrechte und Demokratie, die Lösung der Zypernfrage und eine Normalisierung der türkisch-griechischen Beziehungen seien. Zuletzt zeigte sich bei der Sitzung der europäischen Staats- und Regierungschefs in Cardiff, daß sich in der Einstellung gegenüber der Türkei nichts geändert hatte. Den gleichen negativen Verlauf erlebt die Türkei auch bei ihren politischen Beziehungen zu den islamischen Staaten.
Nachdem die Türkei nun sowohl im Mittleren Osten als auch in Europa allein dastand, versuchte sie ihrer Isolation zu entkommen, indem sie durch die Vermittlung des stellvertretenden Ministerpräsidenten, Bülent Ecevit, einen Besuch in China antrat. Aber wie will ein Staat wie die Türkei in China erfolgreich sein?
Auch internationale Kreise nehmen die Krise des türkischen Staates und die Ausweglosigkeit der türkischen Machthaber stärker wahr. Gleichzeitig steigt ihr Interesse an der kurdischen Frage. Es gibt eine Reihe von Konferenzen, auf denen an der Entwicklung von Lösungsvorschlägen gearbeitet wird. So fand Ende Mai eine Konferenz in Kairo – vornehmlich von arabischen Staaten initiiert – statt, auf der vorrangig die Situation in Südkurdistan beraten wurde. Eine weitere nichtöffentliche Konferenz wurde am 7./8. Juni in Berlin durchgeführt – organisiert vom US-amerikanischen Aspen-Institut und der Friedrich-Ebert-Stiftung -, auf der verschiedene Aspekte der Situation der Türkei und der Kurdenfrage angesprochen wurden. Weitere Konferenzen sind im Juli in Wien und in Amerika geplant.
Während der türkische Staat verlauten läßt, er habe der PKK „das Rückgrat gebrochen’, sie „marginalisiert’, erzielt die Volksbefreiungsarmee auf militärischer Ebene große Erfolge. Wie sehr sich die Kraft der Massen verstärkt hat und wie eng die Bevölkerung in jeder Situation zur Befreiungsbewegung steht, haben wir bei den verschiedenen Feierlichkeiten und Veranstaltungen zu Newroz und zum 1. Mai gesehen. Die Teilnahme an der „Demonstration für Frieden und Einigkeit in Kurdistan’ am 6. Juni in Dortmund ist die Antwort aus Europa. Über 100 000 Kurdinnen und Kurden haben dort teilgenommen und ihre Forderungen nach Frieden und Einigkeit zum Ausdruck gebracht. Mit Newroz, dem 1. Mai und der Demonstration in Dortmund hat das kurdische Volk der türkischen Marginalisierungskampagne einen schweren Schlag versetzt. Die türkische Regierung beharrt starrköpfig auf Krieg und verweigert eine Lösung. Aber diese Starrköpfigkeit bedeutet, sich selbst das Grab zu schaufeln.
Die Entwicklungen der letzten Monate haben uns noch einmal gezeigt, daß es außer durch Dialog und Frieden keinen Weg zu einer Lösung gibt. In einer Sendung von MED-TV am 17. April 1998 wies auch der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, darauf hin, daß eine Konferenz, an der alle Kriegsparteien und internationale Organisationen teilnehmen und auf der über Probleme und Lösungsmöglichkeiten diskutiert werden würde, der Ansatz für eine Lösung sein könne. Die kurdische Seite ist dazu bereit. Die Türkei muß hierzu von ihren harten Politik Abstand nehmen. Konkrete Initiativen internationaler Kreise sind hierzu notwendig. Es stellt sich die Aufgabe, dies so schnell wie möglich umzusetzen. Denn Blut wurde schon zuviel vergossen.