...Im Namen Gottes

Die Anfal-Operation: Ziele, Ablauf und Folgen

von Karin Leukefeld

Anfal ist die 8. Sure im Koran. Sie erläutert den Umgang mit Kriegsbeute, die die Soldaten von den Ungläubigen nehmen. Der Rachefeldzug, den die irakische Armee gegen die kurdische Bevölkerung nach der Beendigung des 1. Golfkrieges durchführte, wurde als "Anfal-Operation" mit einem religiösen Deckmantel verhüllt. Die meisten der verschleppten, getöteten, verstümmelten Kurden und Kurdinnen waren aber keine "Ungläubigen" im Sinne des Koran. Schon vor Jahrhunderten waren sie gewaltsam gezwungen worden, dem Islam beizutreten. Anfal ist heute bei den Südkurden ein Synonym für Völkermord. Für die Frauen, die Kinder, für alle, deren Leben durch die Anfal-Operation zerstört wurde, hat es sich unauslöschlich ins Gedächtnis eingegraben.

Der Anfal-Angriff hatte sich lange angekündigt und war sorgfältig vorbereitet. Es ging um die "Endlösung" des organisierten südkurdischen Widerstandes. Der führende Kopf der militärischen Operation, Ali Hassan Al-Majid, Cousin von Präsident Saddam Hussein, war bekannt für seine besondere Grausamkeit. 1989 wurde Al-Majid zum Innenminister ernannt, nach dem irakischen Einmarsch nach Kuwait 1990 wurde er Gouverneur der besetzten Stadt. Später wurde er Verteidigungsminister. Von Kirkuk aus steuerte Al-Majid den Vernichtungsfeldzug gegen den kurdischen Widerstand. Im Einsatz waren neben den regulären Truppen, der Republikanische Elitegarde und den städtischen Anti-Terroreinheiten der Baath-Partei auch die paramilitärischen Jahsh. Diese kurdischen Kollaborateure bereiteten die notwendige Logistik für die militärischen Einsätze vor Ort vor, denunzierten flüchtende Peshmerga, verbrannten und plünderten die verlassenen Dörfer. Die militärische Anfal-Operation umfaßte 8 Einsätze zwischen Februar und Juni 1988.

Hintergrund der Anfal-Operation

Die Vorbereitungen zu der systematischen Vernichtungskampagne begannen bereits während des 1.Golfkrieges. Im März 1987 erhielt Al-Majid das Oberkommando der Baath-Partei für die nördlichen Provinzen. Der Anlaß: Die iranische Armee hatte eine zweite Front gegen den Irak in den kurdischen Bergen eröffnet. Die strategisch wichtige Grenzstadt Haj Omran hatten iranische Truppen bereits 1983 besetzt. Im Februar 1987 kam es mit Unterstützung des südkurdischen Widerstandes, der PUK und der KDP, zu verstärkten Angriffen gegen irakische Einrichtungen. Iranische Truppen drangen bis Rawanduz vor. Bagdad befürchtete, die Kontrolle über die nördlichen Provinzen des Landes völlig zu verlieren. Auf einer Krisensitzung des irakischen Generalstabs Mitte März 1987 wurde Al-Majid beauftragt, die Kurden ein für alle Male zum Schweigen zu bringen. Mit dem Dekret 160 des Revolutionären Kommandorats erhielt er weitreichende Vollmachten. Alle staatlichen Organe in der Region - vom militärischen Geheimdienst bis zum Kommando der Volksarmee - wurden ihm unterstellt. Saddam Hussein erteilte ihm die Verfügung für einen eigenen Haushalt.

Vorbereitungen der Anfal-Operation

Doch es sollte noch ein Jahr dauern, bis Al-Majid seinen grausamen Plan in die Wirklichkeit umsetzte. In zwei Jahren, so Al-Majid später, wollte er die "Saboteure" erledigt haben. Bereits im Sommer 1987 kam es zu gezielten Militäroperationen gegen kurdische Dörfer. Eine Region südlich von Erbil wurde zur Sperrzone erklärt. Nur arabische Dörfer sollten verschont bleiben. Mit IFA-Militärlastwagen (produziert in der DDR) wurde Sprengstoff in die Dörfer gefahren. Alles, was aus Zement war, wie beispielsweise die Brunnen, wurde gesprengt, die Häuser, meist aus Lehm, mit Bulldozern plattgewalzt. Von Hubschraubern aus wurde die Vollständigkeit der Zerstörung kontrolliert. Ebenfalls aus der Luft wurde überprüft, ob nicht etwa Bauern zurückkehrten, um ihre Felder weiter zu bestellen. Systematisch wurden hunderte von Dörfern und kleineren Ansiedlungen zerstört. Nur im Falle aktiven Widerstands, so lautete die Anordnung, sollten die Soldaten das Feuer auf die Dorfbewohner eröffnen. Ziel war zunächst, die Menschen zu vertreiben. Sie wurden in neu aufgebauten mujamma'at, den "collective towns" zusammengepfercht. Dort hatte man sie perfekt unter Kontrolle und konnte sie beizeiten bequem auf einen Schlag vernichten.

Mitte April 1987 kam es zu ersten chemischen Angriffen auf kurdische Peschmerga-Stellungen im Jafati-Tal, dem Hauptquartier der PUK, südöstlich des Dukan-Sees. Auch Stellungen des KDP-Hauptquartiers nahe der türkisch-irakischen Grenze bei Zewa, wurden mit C-Waffen bombardiert. Einen Tag später trafen die chemischen Bomben die Dörfer Balisan und Sheikh Wasan. Besonders pervers an diesem Angriff einer Armee auf die eigene Bevölkerung war die Dokumentation der ganzen Aktion mit Videokameras. Den ganzen Sommer 1987 über hielten die systematischen Dorfzerstörungen an. Mindestens 703 kurdische Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Alle diese Dörfer lagen an Hauptverkehrswegen. Ihre Zerstörung hatte zum Ziel, die durch die Peschmerga von KDP und PUK kontrollierten Gebiete und deren Hauptquartiere, die tief in den schwer zugänglichen Bergregionen von Badinan und dem Jafati-Tal lagen, von ihren Nachschubquellen zu isolieren. Die Bevölkerung in den "verbotenen Zonen" wurde vor die Alternative gestellt: "Geht zu den Saboteuren oder kehrt zurück in die Reihen der Nation". Zehn Tage nach derartigen Warnungen kamen die Soldaten und Bulldozer im Morgengrauen, um die Dörfer zu zerstören. Wer nicht geflohen war, mußte mit schlimmen Folgen rechnen.

Verwaltungsbeschlüsse kreisten die Bewegungsfreiheit der kurdischen Landbevölkerung ebenfalls ein. Den "Saboteuren" wurde jegliches Recht auf Eigentum abgesprochen wurde. All ihr Besitz wurde konfisziert, wenige Tage darauf das Einspruchsrecht der Landbevölkerung gegen bestimmte Maßnahmen abgeschafft. Während bisher die Familien von aktiv kämpfenden Peshmerga häufig bestraft worden waren, indem man ihre Häuser zerstörte, ihren Besitz beschlagnahmte oder sie vertrieb, verschärfte Al-Majid am 1. Mai 1987 deren Lage dadurch, daß er die Hinrichtung von Familienangehörigen 1. Grades von "Saboteuren" anordnete. Nicht immer wurde der Terror widerspruchslos hingenommen. Berichten zufolge kam es in Halabja im Sommer 1987 zu einer Protestdemonstration. Die Rache war grausam: Die kleine Stadt Kani Ashqan (nahe Halabja) und alles in ihrer Umgebung wurde dem Erdboden gleichgemacht, nachdem die Einwohner sich an der Demonstration beteiligt hatten. Auf Befehl von Al-Majid wurden sämtliche verwundeten Zivilisten anschließend ermordet.

In der persönlichen Anordnung 28/3650 vom 3.6.1987 stellte Al-Majid gegenüber allen Behörden der "nördlichen Provinzen" unmißverständlich klar, wie mit den Dörfern und Einwohnern der "verbotenen Zonen" umzugehen sei: Weder Menschen noch Lebensmittel oder Maschinen dürfen in die Dörfer der verbotenen Zonen transportiert werden. Alle Einwohner werden aufgefordert, in die Reihen der Nation zurückzukehren. Angehörige dürfen die Dörfer nicht besuchen, außer mit Wissen des Sicherheitsdienstes. Landwirtschaft und Viehzucht sind untersagt. Jedes Lebewesen, ob Mensch oder Tier, das in den "verbotenen Zonen" angetroffen wird, ist zu töten.

Am 17. Oktober 1987 wurde eine Volkszählung durchgeführt. Wer an Vorbereitungsseminaren für die Bevölkerung nicht teilnahm, verlor seine irakische Staatsbürgerschaft. Diejenigen Perschmergas, die sich bis zum Stichtag ergaben und ihre Waffen übergaben, wurden in den "Reihen der Nation" wieder aufgenommen und konnten mitgezählt werden. Die Familien der anderen wurden in die "verbotenen Zonen" vertrieben, wo sie mit ihren "sabotierenden Verwandten" leben sollten. Eine Liste wurde erstellt, wonach alle in Frage kommenden Familien erbarmungslos aus den staatlichen "Sammeldörfern" (collective towns) und kontrollierten Zonen vertrieben wurden. Männer dieser Familien, die zwischen 12 und 50 Jahren (andere Berichte sprechen von 15 und 85 Jahren) alt waren, wurden festgenommen. Diejenigen, die sich nicht registrieren ließen, hatten keinen Anspruch mehr auf subventionierte Lebensmittel oder Medikamente. Sie erhielten auch keinerlei Papiere mehr, die sie für Hochzeiten, Kaufverträge usw. gebraucht hätten. Erhoben sie doch Anspruch, entgegnete man ihnen, sie seien "Iraner" und sollten sich Unterstützung dort holen.

1987 war der Auftakt zur Anfal-Kampagne. Die bürokratische Verbreitung aller einschlägigen Dekrete und Anordnungen Al-Majids, die verwaltungstechnischen Vorbereitungen sowie die Präsenz der Truppen und ihre Strafaktionen gegen kurdische Dörfer bereiteten nur eines vor: den systematisch durchgeführten Massenmord an der kurdischen Bevölkerung. Beteiligt war eine große Zahl von Zivilisten und Militärs sowie kurdischen Kollaborateuren, denen mit dem "Beutedekret" Nr. SF/4008 ein besonderer Status eingeräumt worden war. Den Verantwortlichen des irakischen Regimes reichte die systematische Zerstörung kurdischen Lebensraums im Jahre 1987 bei weitem nicht aus. Es ging um die Auslöschung des kurdischen Volkes und seiner organisierten Widerstandskräfte.

Chronologie der Anfal-Operationen

Die erste Anfal-Operation begann am 23. Februar 1988 und endete am 19. März. Sie traf die Orte Yakhsamar, Mauma am Berg Gojar, Haladin, Sergalou und Bergalou sowie Surdah und Sekaniyan. Ziel war das Hauptquartier der Patriotischen Union Kurdistans, PUK. Mindestens 7 chemische Angriffe wurden registriert. Die Angriffe galten dem Politbüro der PUK, der PUK-Radiostation und dem zentralen Feldlazarett. Auch das 2. regionale PUK-Kommando, zuständig für die Peshmerga-Einsätze in der Region von Kirkuk, befand sich im Jafati-Tal, ebenso Gruppen der KDP-Iran und der Komala-Iran. Die PUK hatte für den Februar 1988 einen starken strategischen Schlag gegen die Truppen der irakischen Zentralregierung geplant: Mit der Eroberung der Städte Raniya, Koysinjaq und Qala Dizeh sollte die Kontrolle über den Dukan-See gesichert werden und damit auch über einen wichtiger Teil der Stromversorgung. Seit 1985 hatte die PUK ihr gut geschütztes Hauptquartier im Jafati-Tal, die dort lebende Bevölkerung war in Selbstverteidigungseinheiten organisiert. Bereits im Juni 1987 kam es zu einem kurzen Chemiegasangriff auf das Tal, eine Familie war zu Tode gekommen. Geheimdienstberichte hatten die irakische Führung über bevorstehende Aktionen informiert. Sie rechnete mit einem koordinierten Angriff auf die südöstlich von Sulaimaniya liegende Stadt Halabja. Am 23. Februar startete die Armee die Vernichtungskampagne. Luftangriffen in den frühen Morgenstunden folgten die Bodentruppen und zogen einen dichten Belagerungsring um das Tal mit seinen knapp 30 Dörfern. Mehr als drei Wochen hielt die PUK stand. Anfang März aber durchbrachen die irakischen Truppen die Stellungen, fielen über die Dörfer her und machten sie dem Erdboden gleich. Die Einwohner flohen mit Unterstützung der Peshmerga Richtung Iran. Die PUK selber gibt ihre Verluste mit ca. 250 gefallenen Peshmerga an. In der 1. Anfal-Operation ließen die irakischen Truppen die Kurden über die Berge Richtung Iran fliehen. Das sollte sich später ändern. Die PUK selber versucht, ein Ersatzquartier bei Shanakhseh, nahe der iranischen Grenze zu errichten. Irakische Luftwaffe bombardiert Shanakhseh mit chemischen Waffen am 22. März 1988. Die Flucht über die winterlichen Berge kostet Opfer unter der Bevölkerung: Menschen erfrieren, der Weg führt durch massiv vermintes Grenzgebiet.

Noch während die Belagerung des Jafati-Tals anhielt, eröffntete die PUK mit iranischen Truppen eine weitere Front in der Region um die Stadt Halabja. Das irakische Regime aber befand sich schon in der Offensive, seit einigen Tagen hatte es mit SCUD-Raketen den "Krieg der Städte" eröffnet. Mehr als 180 solcher Raketen von irakischen Stellungen wurden auf Teheran abgefeuert. Ein Angriff der iranischen Truppen bei Halabja war der irakischen Armee sogar ganz willkommen. Tatsächlich zwang die Niederlage bei Halabja die iranische Führung später an den Verhandlungstisch. Halabja war damals eine pulsierende kurdische Kleinstadt, ein Handelszentrum nahe der iranisch-irakischen Grenze. Aufgrund der Ansiedlung vertriebener kurdischer Familien war die Bevölkerung von knapp 40.000 auf mehr als 60.000 angestiegen. Politisch stand die Stadt unter verdeckter Kontrolle der PUK, aber es gab noch andere sozialistische und kommunistische Organisationen. Stark vertreten war auch die von Teheran unterstützte Islamische Bewegungspartei. Aufgrund der offenen Unterstützung der Bevölkerung für die Peshmerga hatten Bulldozer und Soldaten bereits im Mai 1987 zwei Stadtteile von Halabja plattgewalzt: Kani Ashqan und Mordana existierten nicht mehr.

Am 13. März wurde über Radio Teheran verkündet, daß eine gemeinsame Offensive der PUK-Peshmerga und der iranischen Pasdaran Vergeltung für den C-Waffenangriff auf das PUK-Hauptquartier üben solle. Weitere Attacken folgten. Am 16. März verkündete der Teheran, Pasdaran-Truppen stünden östlich des strategisch wichtigen Darbendikhan-Sees und kontrollierten bereits mehrere hundert Quadratkilometer irakischen Gebietes. Die iranische Artillerie hatte seit mehreren Tagen Halabja beschossen, Gruppen von Pasdaran waren in die Stadt eingesickert und hatten sich offen als Sieger präsentiert. Irakische Soldaten zogen sich auf verschiedene Weise zurück. Teheran verkündete die kurz bevorstehende Eroberung von Halabja. Das Regime in Bagdad wartete ab, doch ein Gegenschlag, das war auch der Bevölkerung von Halabja klar, war sicher.

Am späten Vormittag des 16. März kam die Antwort in Form einer "starken Eskalation militärischer Macht und Grausamkeit", wie es in einem Funkspruch der irakischen Behörden in Halabja gefordert worden war. Die Luftwaffe schüttete Bomben über Bomben über der Stadt aus. Stunden dauerte der Angriff, die Flugzeuge flogen so niedrig, daß die Menschen deutlich die irakische Flagge erkennen konnten. Augenzeugenberichten zufolge waren bereits unter den ersten Bomben solche, die Phosphor und Napalm verstreuten. Am frühen Nachmittag nahmen die Bewohner von Halabja einen sonderbaren Geruch wahr.

Menschen und Tiere lagen zu dutzenden tot auf den Straßen, manche zusammengekrümmt in den Türeingängen, andere liefen hysterisch lachend herum, bevor sie tot zusammenbrachen. Lediglich die iranischen Soldaten verfügten über Schutzanzüge und Gasmasken. Tausende von Menschen flohen im eisigen Regen, viele barfuß, in Richtung iranischer Grenze. Babys starben auf dem Weg. Flüchtende gerieten in die Minenfelder. Wer überlebte, konnte die große Hilfe bezeugen, die von iranischen Ärzten und Soldaten jenseits der gebirgigen Grenze geleistet wurde. Schwerverletzte wurden in die Krankenhäuser nach Teheran oder Kermanschah gebracht. Viele trugen Verletzungen für ihr Leben davon. Ihren Häusern in Halabja, die nicht durch die Bombardierungen zerstört worden waren, gaben die Bulldozer und Sprengkommandos der irakischen Armee den Rest. Das Regime überließ die zerstörte Stadt weitgehend iranischer Kontrolle. Über Teheran kamen nur wenige Tage nach der Massenvergasung internationale Berichterstatter nach Halabja und fotografierten die Toten. Niemand weiß genau, wie viele es waren. Ein kurdischer Forscher sammelte bei persönlichen Befragungen die Namen von mehr als 3.200 Menschen. Andere Quellen sprechen von mindestens 4000 und möglicherweise sogar 7000 Toten. Die Bilder aber, und das war den wenigsten derjenigen klar, die in aller Welt in Geschrei ausbrachen, bezeugten lediglich die Spitze eines Eisbergs. Halabja war Vorbote der grausamen, systematisch vorbereiteten und durchgeführten Vernichtskampagne Anfal gegen die südkurdische Landbevölkerung in den nördlichen Provinzen des Irak. In 7 weiteren Operationen sollte der Wille des Volkes gebrochen werden. 18. März 1988 wurde schließlich das, was vom PUK-Hauptquartier in Sergalou im Jafati-Tal übrig geblieben war, von den irakischen Truppen gestürmt.

Sieben weitere Anfal-Operationen folgten. Die zweite traf vom 22. März bis zum 1. April 1988 die Region Qara-Dagh. Das fruchtbare Land von Qara-Dagh erstreckt sich von den Glazerda-Bergen südlich der Provinzhauptstadt Suleimaniya bis zu den Zerda-Bergen westlich des Darbendikhan-Sees. 7 Chemiewaffenangriffe wurden registriert. Erste Bombardierungen hatte es bereits im Februar gegeben. Als die ersten Chemiebomben am 22.März auf den Ort Sayw Senan fielen, hatten die Peshmerga mit der Bevölkerung gerade Newroz gefeiert. Der Tod kam um die Mittagszeit nach Sayw Senan. Bis dahin hatten die Menschen mit unverwüstlichem Optimismus jeden Gedanken, daß auch sie einmal Ziel der irakischen Angriffe werden könnten, zurückgewiesen. Pfeifend und zischend fielen die ersten Bomben und verbreiteten ihren Rauch mit dem Geruch von Äpfeln und Knoblauch. Es waren mehr als 80 Menschen, die bei diesem Angriff den Tod fanden. Ein Augenzeuge, der später half, die Toten zu begraben, beschreibt ein grausames Bild: "Ihre Nasen bluteten. Es war, als ob ihre Gehirne explodiert seien." Noch am gleichen Tag und am nächsten Morgen fielen weitere chemische Bomben auf Dörfer in der Region Qara Dagh. Die irakischen Truppen folgten den Luftangriffen. Wie bei einer Treibjagd durchkämmten die Soldaten die kurdischen Dörfer. Nachdem bei Kontrollen Waffenverstecke der Peshmerga gefunden wurden, begannen die Soldaten Tausende, die sich nicht in Sicherheit bringen konnten, festzunehmen. Die Gefängnisse der Geheimpolizei in Sulaimaniya quollen über. Nach Verhören wurden die Gefangenen mit Bussen Richtung Kifri abtransportiert. Hunderte Männer wurden nie wieder gesehen, nur von wenigen sind die Namen bekannt.

Während die Familien, die in Richtung Norden geflohen waren, zum Teil Unterschlupf in Suleimaniya, in Sammeldörfern außerhalb der Stadt bzw. entlang der Straße von Suleimaniya nach Darbendikhan fanden, gingen die meisten der Menschen, die ihr Glück Richtung Süden, in der hügeligen Ebene von Germian versuchten, "verloren". Die Menschen hätten dort ohnehin keine Zuflucht gefunden. Denn die dritte Anfal-Operation, die vom 7. bis zum 20. April 1980 dauerte, richtete sich eben gegen das Grenzgebiet der Sorani-Kurden. Im Süden schließt sich arabisch besiedeltes Hochland in Richtung Bagdad an. In der Logik des irakischen Regimes mußte Germian ein Ziel in der Anfal-Kampagne sein. Die meisten der aktiven PUK-Peshmerga stammten aus den Dörfern der Gegend, die für den Guerillakampf allerdings gänzlich ungeeignet ist. Trotzdem hatten Einheiten nach dem Fall des Hauptquartiers im Jafati-Tal und der Niederlage in Qara Dagh den Versuch gemacht, sich dorthin zurückzuziehen. Im kleinen Ort Sheikh Tawil formierte sich eine Anzahl der versprengten Peshmerga mit Hilfe der Bevölkerung neu und nahm sich der vielen Flüchtlinge aus Qara Dagh an. Doch gegen die überwältigende Welle militärischer Angriffe während der 3.Anfal-Operation konnte niemand mehr etwas ausrichten, niemand sollte entkommen. Von mindestens 8 Seiten waren die irakischen Einheiten nach Germian eingefallen, ihre Marschsäulen teilten sich bis zur dreifachen Stärke auf und ließen Raum für Fliehende nur dort, wo sie diese zum Abtransport erwarteten.

Die vierte Anfal-Operation vernichtete die Dörfer im Tal des Unteren Zabflusses. Vom 3. bis zum 8. Mai 1988 fielen chemische Bomben auf die Dörfer Goktapa, Kani und Askar, alle südwestlich des Dukan-Sees. Die Menschen am Unteren Zabfluß hatten enge Verbindungen zu "ihren Peshmerga". Schon zu Zeiten des alten Mullah Mustafa Barzani gab es Peshmerga-Camps, seit 1984 hatte die PUK einen wichtigen Kommandoposten dort. Nachdem alle Rückzugsmöglichkeiten für die PUK-Einheiten verschlossen waren, versuchten sie das Tal des Unteren Zabflusses zu erreichen. Davon waren auch die irakische Seite ausgegangen und hatte das Gebiet als nächstes Ziel vorgesehen. Die Truppen waren allerbester Laune in diesem Frühling. Nicht nur, daß die vorhergehenden Anfal-Operationen den Peshmerga der PUK und der kurdischen Landbevölkerung einen vernichtenden Schlag zugefügt hatten, auch an der iranischen Front konnten sie Fortschritte verbuchen. Am 17./18. April eroberten sie in einer Vernichtungsschlacht, bei der mehr als 10.000 iranische Soldaten starben, die strategisch wichtige Fao-Halbinsel am Persischen Golf zurück. Die Niederlage der iranischen Truppen war nur noch eine Frage der Zeit. Die irakischen MIG-Jets flogen ihren Angriff am späten Nachmittag des 3. Mai. Die Bewohner von Askar zählten acht dumpfe Explosionen, der Rauch stieg in weißen Säulen auf und verbreitete den Geruch von Pfefferminz und Knoblauch. Vermutlich starben mehr als 200 Menschen durch das Giftgas. Noch in der gleichen Nacht versuchten Überlebende durch die Berge und über Ziegenpfade zu fliehen. Die irakischen Truppen hatten den Staudamm am Dukan-See geöffnet, so daß das Wasser des Unteren Zab schnell anstieg und vielen den Weg in den Norden versperrte.

Die Anfal-Operationen fünf bis sieben ereigneten sich zwischen dem 15. Mai und dem 26. August 1988. Die Chemiebomber folgten dem sich zurückziehenden PUK-Widerstand in die wilden Bergtäler von Shaqlawa und Rawanduz. Die Dorfzerstörungen zogen sich weit bis ins Qandil-Gebirge hinein und entlang der nördlichen Grenze des Dukan-Sees. Die Angriffe trafen diesmal sogar Dörfer, die nicht viel mit den Peshmerga zu tun hatten, so das Dorf Wara, traditionell moslemisch, das eher eng mit der Regierung zusammengearbeitet hatte. Auch wenn aufgrund des starken Widerstandes der PUK-Peshmerga die fünfte, sechste und siebente Anfal-Operation weniger zielgerichtet und erfolgreich verliefen als die vorherigen, so waren die Folgen für die Landbevölkerung doch verheerend. Ihre Vorräte waren vernichtet, die Häuser zerstört, das Vieh getötet, die Felder verbrannt. Viele von ihnen kehrten erst nach dem Aufstand 1991 zurück.

Am 17. Juli 1988, während der sechsten Anfal-Operation, erklärte der iranische Präsident Ali Khamenei, daß sein Land die UN-Resolution 598 anerkennen werde. Diese Resolution des UN-Sicherheitsrates forderte einen umgehenden Waffenstillstand im Iran-Irak-Krieg sowie eine UN-Beobachtertruppe zu dessen Kontrolle. Damit war der PUK eine sichere Nachschubbasis entzogen. Das Hauptquartier beschloß den teilweisen Rückzug Ende Juli 1988. Als sich die Bevölkerung gemeinsam mit den Peshmerga aus den Dörfern zurückzog, wurden sie erneut Ziel einer massiven Giftgasattacke. Mindestens 13 Menschen starben. Erneut wurden den Flüchtenden falsche Versprechungen von den Jahsh gemacht. Als sie sich in den Stationen der Geheimpolizei meldeten, wurden sie festgenommen und später in Richtung Kirkuk abtransportiert. Ihr Schicksal ist unbekannt. Am 8. August 1988 stimmte die Teheraner Führung dem Waffenstillstandsangebot von Saddam Hussein zu. Der achtjährige Krieg zwischen Iran und Irak war beendet. Die iranische Niederlage bedeutete auch für die südkurdischen Peshmerga das Ende. Es blieb nur die Flucht in Richtung iranischr Grenze.

Die komplette Niederlage der PUK war für das Regime in Bagdad Startsignal zur letzten Anfal-Operation, die vom 28. August bis zum 6. September 1988 dauerte und sich gegen die Stellungen der KDP richtete. Deren Hauptquartier Zewa Shkan befand sich hoch im Zagrosgebirge des Dreiländerecks Türkei-Iran-Irak in der Badinan-Region, in der nördlichsten Provinz Dohuk. Die Menschen waren hier eher konservativ geprägt, folgten ihren Aghas oder Sheiks. Weder kulturell-politisch aufgeschlossen, wie beispielsweise die Provinz Suleimaniya noch industriell erschlossen wie die Regionen um Erbil oder Kirkuk, lebte die kurdische Landbevölkerung in Bahdinan gemäß alten Traditionen. Hier schöpfte die konservative KDP ihre Unterstützung aus alten Stammesstrukturen. Es gab unter diesen Stämmen aber auch solche, die in konkurrentem Verhältnis zur KDP standen und bereits ihren eigenen "Frieden" mit Bagdad geschlossen hatten. Auf ihre Zurückhaltung bzw. Unterstützung konnte die irakische Armee zählen. Bis zu 400 Dörfern sollten zerstört werden. Die nördlichste Provinz war seit Jahren schon einer besonders rigiden Kontrolle seitens der Regierung ausgesetzt. Um den Nachschub für die Peshmerga zu unterbinden, war eine Lebensmittelblockade verhängt worden, die nur auf Schmuggelpfaden und unter Lebensgefahr zu umgehen war. 200.000 Soldaten bot die irakische Führung für die letzte Anfal-Operation auf, die von der Luftwaffe, den Jahsh und einem C-Waffenkontingent der Armee unterstützt wurden.

Bereits 1987 waren zwischen 40 und 50 Dörfer in der Region zerstört worden. Nun sollte es noch härter kommen: 49 Dörfer wurden ab dem 25. August 1988 aus der Luft mit Giftgas, Senfgas und Sarin, angegriffen. Zunächst traf es das KDP-Quartier in Zewa Shkan, wo 10 tote Peshmerga registriert wurden. In den folgenden Tagen flog die Luftwaffe in den frühen Morgenstunden ununterbrochen Angriffe auf weitere Dörfer in den Garabergen und nördlich entlang der Grenze zur Türkei. Mehr als 60 Menschen starben sofort. Hunderte aber, vor allem Kinder, starben erst in den folgenden Tagen und Wochen. Als im Jahre 1992, also 4 Jahre später, Mitarbeiter der Organisation "Ärzte für Menschenrechte" Bodenproben im Dorf Birjinni, etwas südöstlich von Zakho gelegen, nahmen, fanden sie noch hohe Rückstände von Sarin und Senfgas.

Die Menschen flohen nach Norden, Richtung Türkei. Doch bald nach den ersten Luftangriffen blockierten die irakischen Truppen die wenigen Straßen, die über die Berge führten, ebenso die Hauptverbindungstraße zwischen Zakho und Kani Masi. Die Menschen saßen in der Falle. Noch am Grenzübergang in die Türkei versuchte die irakische Armee die Flüchtenden mit Giftgasangriffen zu hindern. Die es nicht mehr über die Grenze schafften, wurden festgenommen und abtransportiert.

Und weiter ging die Zerstörung, immer nach dem gleichen Muster: Den Giftgasangriffen folgten die Truppen, die die Dörfer bis auf die Grundmauern zerstörte. Manchen gelang die Flucht in die Berge, doch viele wurden auch hier aufgetrieben und ermordet, oder aber, sofern sie sich ergaben, festgenommen und abtransportiert. Nur wenige Tage nach Beginn der letzten Anfal-Operation hatten die irakischen Truppen mit Unterstützung der kurdischen Kollaborateure Badinan weitgehend besetzt. Zwischen 65.000 und 80.000 Menschen waren auf der Flucht in die Türkei. Recherchen, die in den Jahren 1992 und 1993 durch Mitarbeiter der Middle East Watch mit kurdischen Hilfsorganisationen durchgeführt wurden, ergaben bei 36 zerstörten Dörfern eine Zahl von mehr als 600 Männern, die verschwunden sind. Zahlen der irakischen Armee selbst belegen, daß in der letzten Anfal-Operation knapp über 3000 Männer festgenommen worden seien. Niemand der Verschwunden ist seitdem lebend wieder gesehen worden. Man muß davon ausgehen, daß es Massenexekutionen gab. Im übrigen lautete der Befehl von Al-Majid ohnehin, alle Männer zwischen 15 und 60 Jahren zu töten. Manche wurden dort, wo sie festgenommen wurden, erschossen, andere erst in den Verliesen der Geheimpolizei, wieder andere an unbekannten Orten im Süden des Landes. Als Saddam Hussein am 6. September 1988 die Anfal-Kampagne mit einer "Amnestie" für die Festgenommenen beendete, wurden aus dem Gefängnis Salamiyeh noch Dutzende von gefesselten Männern in Busse verfrachtet und mit unbekanntem Ziel weggefahren.

'Anfal' - der Beutezug - hatte ein ganzes Volk bis ins Unerträgliche gedemütigt, seine Lebensgrundlagen zerstört, Familien auseinandergerissen, seinen militärischen Widerstand zerschlagen. Keine Heimat war den Überlebenden geblieben, das Nicht-Wissen über den Verbleib ihrer Angehörigen bedeutet noch Generationen später ein psychologisches Trauma, jede Hoffnung wurde in den staatlich kontrollierten "collective towns" zunichte gemacht.