Kurdistan lebt

Aufstandsähnliche Zustände in Diyarbakir

von Knut Rauchfuss

Am Morgen des 21. März zeigt das Gesicht der Stadt seine häßliche Fratze. Über Nacht sind an jeder Straßenecke Uniformierte aus dem Boden gewachsen; Militärkolonnen, Mannschaftstransporter, Wasserwerfer, Räumfahrzeuge und Schützenpanzer beherrschen das Straßenbild der wie ausgestorben daliegenden kurdischen Metropole. Der wenige Verkehr stockt an den Kontrollstellen und ein paar Geschäftsleute versuchen den Eindruck zu erwecken, als sei der 21. ein ganz normaler Märztag.

Doch nichts ist normal an diesem Datum, an dem die kurdische Bevölkerung traditionell ihr Newrozfest begeht. Wie in jedem Jahr versucht der türkische Staat dem Fest durch Repression seinen rebellischen Charakter zu nehmen. Seit zwei Jahren flankiert die Regierung die Unterdrückung des kurdischen Festes mit einer gezielten kulturellen Vereinnahmungsstrategie. Seither wird am selben Tag eine neu entdeckte türkische Tradition, das staatlich verordnete "Nevruz"-Fest begangen und Regierungspolitiker hüpfen vor laufenden Kameras über kleine Ölfeuer. Doch die kurdische Bevölkerung zeigt sich von diesen lächerlichen Kunststückchen ebenso unbeeindruckt, wie von der omnipräsenten Propagandalüge, die PKK sei militärisch besiegt und politisch marginalisiert.

So offenbart das Gesicht der Stadt Diyarbakir am Morgen des 21. März nicht nur die häßliche Fratze des Militärs. Aus allen Teilen der Stadt und den umliegenden Dörfern machen sich Menschen auf den Weg zum Batikent-Platz, um unweit der offiziellen, staatlichen Kundgebung ihr eigenes Newrozfest zu begehen. Die Wenigsten von ihnen erreichen ihr Ziel. Sie werden in den Sperren aufgehalten und zurückgeschickt, im schlimmeren Fall festgenommen.

Trotz aller Schwierigkeiten versammeln sich bis zum Mittag rund 80 000 Menschen in Batikent, unter ihnen rund 130 Menschenrechtsdelegierte aus 12 europäischen Ländern. Auf dem Platz werden Feuer entzündet und die kurdischen Farben rot, gelb und grün dominieren das Bild der feiernden Menge. Immer wieder lösen sich Einzelne aus den um die Feuer tanzenden Kreisen und springen durch die hochauflodernden Flammen. In Liedern und Sprechchören lassen die Feiernden die Guerilla hochleben und beschwören den Traum von einem freien Kurdistan.

Auf den Schultern der Menschen werden Akin Birdal, der Vorsitzende des Menschenrechtsvereines IHD, und der italienische Delegierte Dino Frisullo durch die Menge getragen. "Kurdistan lebt" steht auf einem Plakat, das Frisullo vor laufenden Polizeikameras den Feiernden entgegenhält. Wie lebendig dieses Kurdistan ist, zeigt sich an diesem Newroz auf dem Batikant-Platz aufs Neue. Und genau diese Wahrheit ist es, die die sogenannten Sicherheitskräfte an diesem Tag ein weiteres Mal zur Raserei treibt.

Unterdessen ist die Feier eingekreist. Eine mehrreihige Phalanx aus "Robocops", Räumpanzern und Wasserwerfern hat die offene Seite des Platzes abgeriegelt. Kleinere Einheiten mit Schützenpanzern, verstärkt von mit Maschinenpistolen bewaffneten Zivilisten versperren die Seitenstraßen. Unter den Feiernden macht sich eine deutliche Unruhe breit. Immer wieder brechen Greiftrupps aus dem Polizeiring aus, verhaften und verprügeln kleinere Menschengruppen am Rand des Geländes und provozieren tumultartige Szenen. Das Fest ist zu ende und die Menschen beginnen, sich zu einer Demonstration zu formieren. Hubschrauber kreisen, FestteilnehmerInnen rennen durcheinander und VertreterInnen der kurdischen Partei HADEP rufen zu Ruhe und Besonnenheit auf.

Als für einen Moment eine der wegführenden Straßen freigegeben scheint, setzt sich der Demonstrationszug unter lauten Rufen in Bewegung. Die letzten haben gerade den Platz verlassen, als der Polizeieinsatz wie ein Gewitter über die Demonstration hereinbricht. Aus den Nebenstraßen stürzen sich die Einsatzkommandos auf den Zug und zerteilen die Menge. Der Verkehr wird freigegeben und schneidet den Fliehenden den Rückweg ab. Während die abgeschnittenen Gruppen eingekesselt, zusammengeprügelt und verhaftet werden, setzt der Hauptzug seinen Weg in Richtung Innenstadt in schnellem Lauf fort. Eine Staffel Motorradpolizei verfolgt den Zug und bricht mit hoher Geschwindigkeit von hinten in die dicht gedrängt laufende Menge. Zahlreiche DemonstrantInnen werden angefahren, die übrigen von den Knüppeln der motorisierten Einheit erfaßt. Räumpanzer und Wasserwerfer folgen. Hunderte von Kindern und Jugendlichen versuchen verzweifelt, ihnen Einhalt zu gebieten. Ein Hagel aus Pflastersteinen prasselt auf die gepanzerten Fahrzeuge nieder.

Zahlreiche Menschen flüchten sich mit blutenden Schädeln und gebrochenen Knochen in Nebenstraßen und Geschäfte. Wo immer jemand zu Boden fällt schlagen nachfolgende Einheiten auf ihn ein. Eine Gruppe weinender Männer schreit nach einem Taxi. Sie tragen eine schwerverletzte Frau, die durch die Schläge ihr Bewußtsein verloren hat.

Auch die PDS-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke und ihre Mitarbeiterin Gülten Sahin werden in einer Sackgasse von der Polizei eingekesselt. Mit aller Härte prügeln die Spezialeinheiten die Eingekesselten nieder. Beide können den Kessel nur durch ein Polizeispalier verlassen. Während sie durch das Spalier gejagt werden, knüppeln die Polizeikräfte auf ihre Köpfe und Körper ein und stoßen den Frauen ihre Schlagstöcke gezielt zwischen die Beine.

Helfende Ladenbesitzer, die Flüchtenden Zuflucht gewährt haben, werden gewaltsam gezwungen, die Türen wieder zu öffnen. Die Geflüchteten werden aus den Läden gezerrt und ebenfalls verprügelt.

Bis zum Nachmittag werden 25 Verletzte stationär im Krankenhaus aufgenommen. Zu den mehr als 200 Verhafteten gehören auch drei Mitglieder der italienischen Delegation, unter ihnen Dino Frisullo. Während die beiden anderen nach wenigen Tagen freigelassen und mit den anderen Delegationen aus Diyarbakir abgeschoben werden, wird er weiter gefangen gehalten. Der Journalist steht am Monatsende bereits wegen seiner Verhaftung während des Friedenszuges "Musa Anter" vor Gericht. Nach dem Prozeßtermin will die Staatsanwaltschaft über seine Weiterinhaftierung neu entscheiden. Zusätzlich erwartet ihn nun eine weitere Anklage. Frisullo wird vorgeworfen, während der Demonstration die Bevölkerung zum Widerstand aufgewiegelt und ein Komplott der italienischen Rifondazione Communista (RC) gegen die türkische Regierung vorbereitet zu haben.

Unterdessen demonstriert die Fraktion der RC im italienischen Parlament mit PKK-Fahnen gegen die Verhaftung. Ihr Vorsitzender Bertinotti hat bereits angekündigt, gegebenenfalls selbst in Diyarbakir Flugblätter zu verteilen um unter denselben Vorwürfen angeklagt zu werden.

Die Ereignisse rund um das Newrozfest belegen deutlich die brutale Härte, mit der die türkische Regierung, Polizei und Militär auch weiterhin die kulturellen und demokratischen Rechte der kurdischen Bevölkerung zu unterdrücken versucht. Sie zeigen aber auch, daß sich der Widerstand dieser Bevölkerung weder verbieten, noch vereinnahmen, noch für besiegt erklären läßt. Sie beweisen, daß "Kurdistan lebt", wie der italienische Schriftsteller Dario Fo erklärt: "Es ist lebendig in den Feuern von Newroz, in den Gefängnissen, in der Erinnerung an die Verschwundenen und in den Narben der Gefolterten. Eingebrannt und lebendig im Widerstand in den Bergen, der im Westen als Terrorismus diffamiert wird..."