Knut Rauchfuss

"WIR HABEN DIYARBAKIR NICHT ERREICHT,

ABER DIE HERZEN DER MENSCHEN”

Eine Bilanz der Reise des Friedenszuges "Musa Anter”

"Knüppeleinsatz gegen Abenteuerurlauber” titelte der Kommentator der Wochenzeitung Jungle World. "Naive Revolutionsromantiker” nannte Cem Özdemir als grüner Gastkommentator der taz die Teilnehmer des Friedenszuges "Musa Anter”. Jenseits der Ignoranz der Kommentatoren liefert eine politische Bilanz der Ereignisse (vgl. SoZ Nr. 19) jedoch ein anderes Bild.

Als die Initiative Appell von Hannover zur Teilnahme an dem Friedenszug von Brüssel nach Diyarbakir aufrief, gaben sich sicherlich nur wenige der Illusion hin, das Ansinnen könne auf die Tolerierung oder gar Zustimmung der türkischen Regierung stoßen. Wer die Zustände in Kurdistan kannte, mußte wissen, mit welcher Verbissenheit das türkische Militär den schmutzigen Krieg dort führt und mit welcher Härte die Unterdrückung demokratischer Kräfte auch in der Türkei selbst betrieben wird. Dieses Wissen hinderte die TeilnehmerInnen des Friedenszuges jedoch nicht daran, den mit der Reise beabsichtigten Druck auf die türkische Regierung mit dem Angebot zu verbinden, auch mit offiziellen Stellen über Möglichkeiten zur friedlichen Lösung des Konfliktes zu sprechen.

In der kurdischen Bevölkerung war die Zustimmung immens, die die Friedensmission auslöste. 40.000 Menschen hatten sich am 31. August trotz Demonstrationsverbotes und Einstellung des Fährbetriebes über den Bosporus in Istanbul-Kadiköy zur Verabschiedung des Konvois versammelt. Begleitet von Tausenden, die die Busse in Dörfern, Städten und entlang der Straßen erwarteten, und erhofft von Hunderttausenden in Kurdistan selbst, erlebte der Friedenszug trotz aller Hemmnisse, Behinderungen durch Verbote, trotz Repression und Verhaftung die größte Friedensdemonstration in der Geschichte Kurdistans und der Türkei.

Damit hat die Mission nicht nur gezeigt, daß die Bevölkerung den Frieden heute mehr denn je will und braucht; nach Einschätzung führender VertreterInnen der kurdischen und türkischen Parteien, Organisationen und Gewerkschaften, die an den Aktivitäten beteiligt waren, führte der Friedenszug zu bisher nicht gekannten Formen enger Zusammenarbeit.

Auf Seiten des Militärs und der sogenannten Sicherheitskräfte hingegen liegen in Bezug auf das Thema Frieden mittlerweile sämtliche Nerven blank. Die türkischen Behörden hätten mit besonnenerem Vorgehen vielfach die Möglichkeit gehabt, das Ziel des Zuges, auf die internationale Öffentlichkeit zu wirken, ins Leere laufen zu lassen. Mit der reflexhaften Brutalität jedoch, mit der die Forderung nach Frieden beantwortet wurde, servierten die türkischen Machthaber dem Friedenszug die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf dem Silbertablett. "Wir haben uns vor der ganzen Welt blamiert”, titelte selbst die regierungstreue türkische Zeitung "Posta” am Tag nach dem Polizeiüberfall auf das Hotel Mim. Die Erstürmung der dort abgehaltenen Pressekonferenz wurde in ausnahmslos allen europäischen Medien einhellig verurteilt.

"Sie haben eine diplomatische Krise ausgelöst”, ließ das mit Protestschreiben und Telefaxen torpedierte deutsche Konsulat in Istanbul die Verantwortlichen des Friedenszuges wissen. Und die Krise war zeitlich gut plaziert. Derzeit stattet Ministerpräsident Yilmaz den Regierungen Europas seine Antrittsbesuche ab. Im Vorfeld des EU-Erweiterungsgipfels, der im Dezember in Luxemburg stattfinden wird, kommt diesen Besuchen eine wichtige diplomatische Bedeutung zu. Die EU-Kommission führt die Türkei bislang nicht unter den Beitrittskandidaten.

Das erste Land, das der türkische Außenminister Cem und Ministerpräsident Yilmaz nach dem Eklat um den Friedenszug besuchen mußten, war der traditionelle Bündnispartner im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, die Bundesrepublik Deutschland. Doch selbst die Bundesregierung, die sich über das von Innenminister Kanther verfügte Durchreiseverbot nach Kräften bemüht hatte, ein Scheitern der Friedensmission herbeizuführen, konnte nicht umhin, die Menschenrechtssituation in der Türkei und den Krieg in Kurdistan gegenüber den Verbündeten zu thematisieren.

"Die Bundesregierung hat wiederholt und nachdrücklich gegenüber der türkischen Seite die Auffassung vertreten, daß eine Lösung der Probleme im Südosten der Türkei nur mit politischen Mitteln dauerhaft möglich ist. Dies hat auch Bundesminister Dr. Kinkel bei einem Gespräch mit seinem türkischen Amtskollegen (...) zum Ausdruck gebracht”, heißt es in einem Brief des Auswärtigen Amtes.

Zwar ist die Bundesregierung weiterhin nicht zur Suspendierung von Militär- und Wirtschaftshilfe bereit, zumindest aber konnte die nach dem türkischen Regierungswechsel geplante Restauration der deutsch-türkischen Beziehungen vor dem Hintergrund massiver Proteste nicht in der vorgesehenen Art und Weise durchgehalten werden.

Neben den PDS-Abgeordneten Winfried Wolf und Ulla Jelpke hatten auch die sozialdemokratischen Abgeordneten Uta Zapf sowie verschiedene grüne MandatsträgerInnen aus Bund- und Länderparlamenten die Bundesregierung aufgefordert, Konsequenzen aus den Geschehnissen zu ziehen. Grünensprecher Trittin warf der türkischen Regierung vor, "alle Hoffnungen auf eine Änderung ihrer Kurdenpolitik zerstört” zu haben, die Bundestagsgruppe der PDS forderte in einer Pressemitteilung geschlossen die "Einstellung jeder militärischen Unterstützung und Wirtschaftshilfe”. Darüber hinaus hielten die Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (PDS) sowie Angelika Beer und Amke Dietert-Scheuer (B90/Die Grünen) Bundesinnenminister Kanther eine Mitverantwortung an den Ereignissen vor. Auch Marget Mönig-Raane, erste Vorsitzende der Gewerkschaft HBV, protestierte in einem Brief gegen das Durchreiseverbot. Am 10. Oktober mußte Manfred Kanther vor dem Innenausschuß des Bundestages Stellung beziehen.

Schon während des Friedenszuges sah sich das Auswärtige Amt gezwungen, auf den Druck zu reagieren und verbalen Protest gegenüber den türkischen Freunden einzulegen. Nach Informationen des Spiegel ließ Außenminister Kinkel den türkischen Botschafter Volkan Vural einbestellen, um offiziell gegen die "Unverhältnismäßigkeit” des Übergriffes zu protestieren. Auch "der deutsche Botschafter in der Türkei hat in diesem Sinne in Ankara beim türkischen Außenministerium demarchiert und protestiert. (...) Gegen den körperlichen Angriff auf einen Vertreter des deutschen Generalkonsulats in Istanbul hat die Botschaft in Ankara beim türkischen Außenministerium protestiert”, ließ das Auswärtige Amt mitteilen.

Aus den übrigen Ländern der Europäischen Union, der Schweiz und aus Südafrika hagelte es ebenfalls Proteste.

96 italienische Abgeordnete und 23 SenatorInnen sowie zahlreiche RichterInnen und AnwältInnen unterschrieben eine Erklärung gegen die Politik der türkischen Regierung. Neben Italien reichten auch Schweden, die Schweiz und Spanien nicht nur Protestnoten in die Türkei ein, sondern wandten sich ebenso gegen das faktische Verbot des Friedenszuges durch die Bundesregierung.

Joan Saure, Abgeordneter der katalonischen IC-EV im spanischen Kongreß, kritisierte für die damals noch in der Vereinigten Linken vertretene Partei das Vorgehen der türkischen Behörden.

Auch im Europaparlament forderte die Gruppe der Vereinigten europäischen Linken und linken Grünen die Unterstützung des Friedenszuges in einer Resolution. Antonio Guitierrez Diaz, Vizepräsident des Parlaments, protestierte in Brüssel gegenüber einer Abordnung der türkischen Botschaft vor der EU; Parlamentspräsident Jose M. Gil-Robles bestellte den Botschafter zu einem Gespräch ein.

Die EU-Parlamentarier Dr. Peter Truscott, Labour-Abgeordneter für Herfordshire, und Alex Smith, Deputierter für Süd-Schottland, protestierten in direkten Schreiben an den türkischen Ministerpräsidenten. Stan Newens, Abgeordneter für Zentral-London, brachte eine Anfrage ein, in der das EU-Parlament aufgefordert wird, eine Stellungnahme des EU-Ministerrats einzufordern, die der Türkei klarmache, daß ihr Verhalten "völlig inakzeptabel” sei und daß die Vorfälle die Voraussetzungen für weitere EU-Hilfen in Frage stellen.

"Wir glauben, daß es nun genügend Beweise gibt, die Türkei schwerer Verletzungen der Menschenrechte anzuklagen (...). Wir werden den Ausstoß der Türkei aus dem Europarat verlangen, weil ihre anhaltende Mitgliedschaft zunehmend den Eindruck erweckt, als akzeptierten die Mitgliedstaaten die gegenwärtige Situation”, schrieb Frances D'Souza, Direktor des Internationalen Zentrums gegen Zensur, an den Generalsekretär des Europarats, Dr. Daniel Tarschys.

Auch die britische Botschaft in Ankara protestierte gegen die Verhaftung des Vizekonsuls Neil Frape als "eine schwere Verletzung diplomatischer Rechte”. Lord Rea of Eskdale vom britischen Oberhaus ließ nach seiner Rückkehr aus Diyarbakir den britischen Außenminister wissen: "Würden Sie mir bitte antworten, ob die britische Regierung nicht nur gegen die lümmelhafte und unangebrachte Vorgehensweise (...) protestiert, sondern auch ernsthaft darüber nachdenkt, weitere Waffenverkäufe zu stoppen und beim Europarat die Frage aufwirft, ob die andauernde Mitgliedschaft der Türkei noch angemessen ist?”

In den Parlamenten Österreichs und Finnlands fanden Debatten zu den Ereignissen um den Friedenszug statt. "Die Menschenrechtssituation in der Türkei ist von einer Art, daß die Mitgliedschaft der Türkei in der EU nicht am Horizont erkennbar ist”, erklärte der finnische Premierminister Paavo Lipponen in seiner Rede.

Mit der gleichen Begründung stellte Luxemburg vor der EU-Kommission den Antrag, die Türkei nicht in die EU aufzunehmen.

In der Schweiz konzentrierten sich die Proteste auf die Gewerkschaften. Der Schweizerische Verband des Personals Öffentlicher Dienste wandte sich in einem Schreiben an die türkische Botschaft, der Schweizerische Gewerkschaftsbund bekundete seinen Protest in einer öffentlichen Erklärung. Auch die schweizer Delegierten eines Kongresses des Internationalen Bundes der Bau- und Holzarbeiter in Harare, Mozambique, schickten eine Protestnote an die türkische Regierung. Die sozialdemokratische Partei reichte eine Parlamentsanfrage zur Türkeipolitik der Schweiz ein.

Angesichts der internationalen Empörung sah sich selbst Ministerpräsident Mesut Yilmaz gezwungen, in einem Interview gegenüber dem Spiegel einräumen: "Ich bedaure diesen Vorfall sehr. Ich bin fest davon überzeugt, daß die harte Reaktion nicht nötig gewesen wäre, um die öffentliche Ordnung zu schützen. Aber die Demokratie ist nicht stark genug verankert, um solche Übergriffe zu verhindern.”

Der Friedenszug "Musa Anter” war ein Auftakt, mit dem die europäische Friedens- und Menschenrechtsbewegung ihre direkte Einmischung in die inneren Verhältnisse der Türkei begonnen hat. Die TeilnehmerInnen werden es nicht bei diesem Auftakt belassen, sondern fortfahren, den Druck auf die türkische Regierung zu verstärken, um sie an den Verhandlungstisch für eine friedliche Lösung in Kurdistan zu zwingen.