Das Ende der Allianz gegen den „Hitler von Bagdad“
Eine Bewertung zur Situation im Irak
Von Karin Leukefeld

Zum 10. Jahrestag der „Operation Wüstensturm“, dem Beginn des 2. Golfkrieges, zog der Sohn des damaligen US-Präsidenten George Bush, Bush jr. ins Weiße Haus in Washington ein. Bush jr. ist der 7. Präsident, den der irakische Präsident Saddam Hussein während seiner Amtszeit erlebt. Mit Colin Powell, dem damaligen befehlshabenden General, wird ein erklärter Erzfeind des irakischen Präsidenten zum amerikanischen Außenminister ernannt. Es war nicht zu erwarten, dass der Konflikt zwischen den USA und dem Irak sich in naher Zukunft entspannen würde. Mit Luftbombardement Mitte und Ende Februar auf Ziele südlich von Bagdad, zeigte die britisch-US-amerikanische Allianz deutlich, welchen Weg sie in Zukunft gegenüber der arabischen Regionalmacht Irak zu gehen gedenkt. Es ist zu früh, Schlüsse zu ziehen, doch die Allianz des 2. Golfkrieges existiert nicht mehr. Frankreich und Russland protestierten ebenso scharf, wie China. Die arabischen Staaten distanzierten sich von dem Luftangriff. Allein der deutsche Außenminister Fischer äußerte bei seinem Antrittsbesuch in Washington „Verständnis“ für die Angriffe. Der folgende Text beschreibt die Situation im Irak und in der Region 10 Jahre nach Beginn des 2. Golfkrieges.

Zehn Jahre nach der von Bush und Thatcher 1991 geschmiedeten Allianz gegen den „Hitler von Bagdad“ ist nicht viel übrig von der ehemaligen Waffenbrüderschaft. Nicht nur im UN-Sicherheitsrat herrscht Uneinigkeit, auch der Chef der Vereinten Nationen, Kofi Annan, versucht, einen Weg zur Aufhebung der UN-Sanktionen zu finden. Anlässlich des Gipfeltreffens der Golfstaaten am 17. November 2000 in Qatar hatten Kofi Annan und der stellvertretende Vorsitzende des Irakischen Revolutionsrates, Izzat Ibrahim, sich getroffen. Annan hatte ein weiteres Gespräch über ein Ende der UN-Sanktionen für Anfang des neuen Jahres in Aussicht gestellt, der aktuelle Zeitplan sieht Februar vor. Voraussetzung für eine Lockerung oder ein Ende der Sanktionen ist die vollständige Abrüstungskontrolle durch die Vereinten Nationen. Das war bisher die Aufgabe von UNSCOM. Die Mission sollte gemäß UN-Resolution 687 u.a. die Zerstörung von Massenvernichtungswaffen im Irak überwachen. UNSCOM scheiterte 1998. Der Irak warf dem Delegationsleiter Richard Butler Spionagetätigkeiten für die USA vor, UNSCOM verließ am 16.12.1998 den Irak. Am nächsten Tag kam es zu heftigen britischen und US-amerikanischen Luftangriffen auf die irakische Hauptstadt. Der Spionagevorwurf bestätigte sich im Nachhinein. Inzwischen gibt es eine neue Mission, die UNMOVIC. Die Aufgabe ist geblieben, geleitet wird die Mission vom ehemaligen Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), dem Schweden Hans Blix.
Die USA scheint nach wie vor eine Dreiteilung des Irak zu favorisieren. Die eigenmächtig eingerichteten Flugüberwachungszonen im Norden und Süden des Landes – angeblich zum Schutz der von Saddam Husseins Truppen verfolgten Kurden im Norden und Schiiten im Süden des Landes – bieten eine gute Voraussetzung für einen solchen Plan. Ohne Rückendeckung durch eine UN-Resolution kontrollieren britische und US-amerikanische Luftwaffe von Stützpunkten in der Türkei, Kuwait und Saudi-Arabien aus die Flugverbotszonen. Irakischen Berichten zufolge sollen bisher mehr als 300 Zivilisten bei Luftangriffen britischer und US-amerikanischer Maschinen getötet worden sein. Im Westen wurde der fortgesetzte Luftkrieg nahezu ignoriert.
Frankreich, anfangs noch mit von der Partie, zog sich 1996 zurück. Innenpolitisch geriet auch die britische Regierung für ihr militärisches Engagement unter Druck, das London bisher 800 Millionen Britische Pfund gekostet hat. Die britische Tageszeitung „The Guardian“ berichtete von einem internen Papier, wonach die militärische Luftüberwachung der südlichen Zone zukünftig eingestellt werden solle. Die Kontrolle des von Kurden bewohnten Gebietes wird dagegen nicht in Frage gestellt. Die Regierung sei über Berichte besorgt, wonach Zivilpersonen durch Angriffe zu Schaden gekommen sein sollten. Die britische Regierung dementierte den Bericht zwar umgehend, doch ist angesichts des Präsidentenwechsels in Washington nicht nur in London die Irak-Politik auf dem Prüfstand.

Beispiel Türkei
Das türkische Militär nutzte den Wechsel in der US-Regierung, und besetzte gleich den ganzen Norden des Irak. Anfang Januar wurde der Einmarsch von knapp 10 000 türkischen Soldaten bis nach Süleymania offiziell bestätigt. Was aus dem Coup folgen wird, ist unklar. Die Türkei legt offen Feuer an das politische Pulverfass im Mittleren Osten. Bagdad forderte bereits die Arabische Liga auf, gegen den Einmarsch zu intervenieren. Möglich, dass Ankara die Gelegenheit nutzt, einem alten Traum näher zu rücken, der alle national-chauvinistischen Kräfte des Landes vereint. Seit der Neuaufteilung der Region durch die Siegermächte des 1. Weltkrieges fühlt sich die türkische Regierung um den Zugang zu den Ölquellen von Mossul betrogen. Sie leitet dieses Recht u.a. von der Präsenz turkmenischer Bevölkerung in der Region ab. Vordergründig wird mit der Präsenz der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, argumentiert, die sich nach der Einstellung ihres bewaffneten Kampfes in den Norden des Irak zurückgezogen hat.

Internationaler Handel blüht trotz UN-Embargo
Während die ehemaligen Kriegsalliierten heute unterschiedliche Wege gehen, trafen sich Wirtschaftsvertreter aus aller Welt zur Internationalen Irakische Handelsmesse im November letzten Jahres in Bagdad. Trotz UN-Embargo landeten sie direkt auf dem neu eröffneten Flughafen. 1500 Firmen aus 45 Ländern nahmen teil. Nicht nur chinesische und russische Handelsdelegationen reisten an, auch deutsche und französische Firmen fehlten nicht. Bisher können internationale Handelsbeziehungen lediglich im Rahmen der UN-Vereinbarung „Food for Oil“ abgewickelt werden. Die UN-Resolution 986 vom 9.12.1996 erlaubt der irakischen Regierung Öl zu exportieren. Die Käufer zahlen auf ein UN-Treuhandkonto, nach dem Willen Bagdads übrigens seit kurzem in EURO. Ein Teil des Geldes geht als Reparationszahlung an Kuwait. Für den Rest kann der Irak Lebensmittel und Medikamente sowie Güter im Rahmen der UN-Sanktionen einkaufen. Die US-amerikanische Nachrichtenagentur UPI zitiert einen Bericht des irakischen Handelsministeriums, wonach inzwischen Firmen aus 71 Ländern im Rahmen dieses Programms Handel mit dem Irak treiben. Russische Firmen hätten bisher Verträge über 2,5 Billionen US-Dollar abgeschlossen.

Neue politische Bündnisse in der Region
Die politisch wichtigste Unterstützung erhielt die irakische Regierung durch die Teilnahme der arabischen Länder an der Handelsmesse. 14 Minister waren angereist, darunter der jordanische Premierminister. Auch mit dem Iran und Syrien konnte der Irak seine Beziehungen im letzten Jahr intensivieren. Wie mit Jordanien, wurde der Bau grenzübergreifender Eisenbahnlinien vereinbart. Gas- und Ölpipelines sollen renoviert und neu in Betrieb genommen werden. Deutet man die Signale vorsichtig, so ist zu vermuten, dass sich auch im militärischen Bereich in Zukunft eine neue Zusammenarbeit zwischen den Ländern entwickeln könnte. Ende des vergangenen Jahres soll es bereits zu syrisch-irakischen Manövern gekommen sein.
Die neue Stärke des Irak basiert auf der klaren Vertretung arabischer Interessen gegenüber den USA und Israel. Zunehmende Ablehnung erfährt die US-Politik, die in der Region zweierlei Maß anlegt. Während gegenüber dem Irak wegen seines militärischen Einmarsches in Kuwait 1990 die Embargopolitik anhält, Briten und US-Amerikaner Luftangriffe starten, geschieht nichts gegen die Gewalt des israelischen Staates gegen die Palästinenser. Die materiellen und politischen Solidaritätsbekundungen von Saddam Hussein zugunsten der neuen palästinensischen Intifadah verschaffte dem Irak neue Anerkennung. Zum ersten Mal, seit dem Einmarsch in Kuwait am 2. August 1990 wurde das Land wieder zu einem politischen Treffen der Arabischen Liga eingeladen.

Die systematische Zerstörung der Zukunft
Jenseits des politischen Geschehens, ist der Alltag für die irakische Bevölkerung äußerst schwer. Systematisch zerstört das UN-Embargo die Zukunft ganzer Generationen. Angaben von UNICEF und der Weltgesundheitsbehörde, WHO, zufolge sind seit Beginn des Embargos mehr als 1 Millionen Menschen an den Folgen gestorben, darunter 500.000 Kinder. Die Kindersterblichkeit hat sich seit 1990 versechsfacht, mehr als ein Drittel der Kinder leiden an Unterernährung. Die Trinkwasserversorgung ist mangelhaft. Die Energieversorgung liegt ebenso am Boden, wie das Transportwesen. Es fehlt an Ersatzteilen um die Infrastruktur zu warten. Ersatzteillieferungen aber unterliegen dem UN-Embargo.
Ein im vergangenen Jahr bekannt gewordener US-Geheimbericht legt nahe, dass die Angriffe der Golfkriegsallianz gezielt die Trinkwasserversorgungsanlagen des Irak zerstört haben. Das Papier ist datiert auf den 18. Januar 1991 und trägt den Titel „Schlüsselbewertungen zur Verwundbarkeit der irakischen Wasserversorgung“. Die britische Monatszeitschrift „The Middle East“ berichtete (November 2000), dass das Dokument damals allen zentralen US- und Nato-Kräften zur Verfügung gestellt wurde. Ausführlich wird die Bedeutung des Wassers für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens im Irak analysiert. Dabei wird deutlich, dass der Irak besonders auf hochspezialisierte Ausrüstung zur Wasserreinigung angewiesen ist. „Für den Fall, dass die Lieferung von Ersatzteilen nicht sichergestellt werden kann, wird das einen Mangel an Trinkwasser für die Mehrheit der Bevölkerung zur Folge haben,“ heißt es in dem Militärdokument. „Das könnte sogar zu Epidemien führen. Auch Industriebereiche, die von klarem Wasser abhängig sind, müssten ihre Arbeit einstellen, wie die Petrochemie, Raffinerien, Dünge-, Elektro- und Pharmazeutische Industrie.“ Auch die Produktion von Lebensmitteln und Textilien käme zum Stillstand. Für den Fall, dass Ersatzteile weiterhin auf der UN-Sanktionsliste blieben, könnte der Irak seine nationale Wasserversorgung nicht aufrecht erhalten.
Dr. David Levenson von der US-Sektion der Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg bereiste kurz nach dem Ende des Krieges den Irak. Er berichtete von einer gezielten Zerstörung des gesamten irakischen Wassersystems durch die Luftangriffe. Alle 8 Staudämme seien mehrfach getroffen, städtische und industrielle Wasserreservoirs ebenso beschädigt worden, wie Bewässerungsanlagen für die Landwirtschaft und Wasserkraftwerke. Von den sieben wichtigsten Wasserpumpen im Land waren vier zerstört, ebenso Kläranlagen. 31 städtische Abwasser- und Kanalisationsanlagen waren schwer beschädigt, 20 davon in Bagdad. Abwässer flossen ungeklärt in den Tigris. In Basra war das gesamte Abwassersystem zusammengebrochen.
Zehn Jahre nach dem Krieg werden Reparaturen noch immer durch das Embargo verhindert. Im vergangenen Juli veröffentlichte das irakische Gesundheitsministerium Zahlen, wonach 10.000 Menschen an Krankheiten wie Gelbsucht, Cholera und Typhus gestorben sind. Diese Krankheiten sind typisch für mangelnde Wasserversorgung. Mehr als 7.000 waren Kinder.
Kinder sind auch die Opfer des hohen Anstiegs von Krebserkrankungen wie Leukämie. Allein in Basra ist Krebs bei Kindern um mehr als 200% in den letzten 10 Jahren angestiegen. Viele Neugeborene kommen furchtbar verstümmelt zur Welt. Diese Berichte haben endlich auch die Weltgesundheitsbehörde, WHO, veranlasst, eine Untersuchungskommission in den Irak zu entsenden. Die WHO will prüfen, ob die hohe Krebsrate durch das freigewordene Uran der panzerbrechenden DU-Geschosse verursacht wurde, die im 2. Golfkrieg eingesetzt wurden, oder durch ausgeströmtes Gift. Schließlich wurden auch chemische Fabriken durch die Alliierten Streitkräfte in die Luft gejagt.
Proteste gegen das UN-Embargo
Prominente Kritik am UN-Embargo kam von dem ehemaligen Koordinator für das Humanitäre Hilfsprogramm der UN im Irak, Hans Graf von Sponek. Er quittierte ebenso wie Jutta Burghardt, ehemalige Leiterin des Welternährungsprogramms im Irak, aus Protest gegen die Embargopolitik den Dienst.
Einige Länder haben sich zu praktischen Schritten entschlossen. Humanitäre Hilfsflüge kamen – trotz Embargo – aus Ägypten, Jordanien, Russland, der Türkei und Frankreich.
Ein aus Deutschland für Mitte Dezember 2000 geplanter Flug, wurde beim dritten Versuch von der Fluggesellschaft kurzfristig abgesagt. Alle notwendigen Genehmigungen lagen vor, vom Auswärtigen Amt bis hin zur UN. Mitorganisatoren waren u.a. das Deutsch-Arabische Friedenswerk und der Deutsch-Arabische Funkerverband.
Anstelle deutscher Menschenrechtsaktivisten betraten zum 10. Jahrestag US-amerikanische Menschenrechtler irakischen Boden. Sie verzichteten auf einen Direktflug New York – Bagdad, sondern reisten, in prominenter Begleitung des jordanischen Gesundheitsministers, mit der Jordanischen Fluggesellschaft von Amman.
Auch in England formiert sich Protest. So wurde Premierminister Blair anlässlich einer College-Eröffnung in Bristol pfundweise mit Tomaten beworfen. Die Protestler forderten die Einstellung britischer Luftangriffe auf den Irak und ein Ende der Embargopolitik.
Im Deutschen Bundestag hat die Fraktion der PDS Ende November einen Antrag zur „Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak“ eingereicht (DS 14/4709). Die Abgeordneten Gehrke, Lippman u.a. fordern die sofortige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen, irakische Auslandsguthaben sollten zweckgebunden freigegeben und das EU-Programm der humanitären Hilfe für die irakische Bevölkerung soll aufgestockt werden. Die militärischen Sanktionen sollen aufrechterhalten bleiben. Außerdem soll die Bundesregierung in Übereinstimmung mit den Bundesländern keine Flüchtlinge in den Irak abschieben, sondern ihnen Asyl gewähren.