Der Weg zum Frieden führt über die Seidenstraße

Über die geostrategischen Interessen des Westens in Kurdistan
von Knut Rauchfuss

Auf dem letzten EU-Gipfeltreffen im Jahr 1999 wurde die Türkei offiziell zur Beitrittskandidatin erklärt. Im folgenden Artikel beleuchtet Knut Rauchfuss, Arzt, Mitglied der ‚Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum’ und Autor verschiedener Zeitschriften (u.a. zur kurdischen Frage) Hintergründe und Interessensphären dieser Entwicklung.
Der Westen muss sich grundsätzlich entscheiden, welches Interesse er an der Türkei hat. Möchte er, dass die Türkei europäischer Staat wird? [...] Die jetzige Bundesregierung hat im Unterschied zu ihrer Vorgängerin [...] der Türkei offensiv angeboten und hat sich dafür stark gemacht, Kandidatin für den Beitritt zur Europäischen Union zu werden. (Ludger Volmer, Staatssekretär im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik)1*

Europa ist eine Idee
Die Bundesregierung und im Gleichklang mit ihr die Regierungen der übrigen Staaten der EU haben sich entschieden. Im Dezember soll auf dem EU-Gipfel in Helsinki offiziell beschlossen werden, was längst Konsens unter den Vertragsstaaten ist: die Türkei wird in den Status der EU-Beitrittskandidatin gehoben werden.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Offizielle Beitrittsverhandlungen stehen damit noch nicht auf dem Programm. Dennoch ist es ein offenes Geheimnis, dass insbesondere die Bundesrepublik die Aufnahme des südöstlichen NATO-Partners in den Staatenbund aktiv anstrebt, wären da nicht noch gewisse Hindernisse zu bewältigen: Krieg, Verfolgung, Vertreibung, Armut, Elend, Unterdrückung, Folter und politischer Mord.
Ganz im ductus der seit Amtsantritt vorherrschenden Menschenrechtsrhetorik wird die Bundesregierung dem gemäß nicht müde zu betonen, dass letztlich alle Politik gegenüber dem Land am Bosporus dessen demokratischer Konsolidierung diene. In dieser deutschen Rhetorik geraten außenpolitische Aktivitäten von der Unterstützung der Beitrittskandidatur bis zur Lieferung von Kriegsgerät, geraten zaghafter Protest gegen Menschenrechtsverletzungen und Krieg ebenso wie Passivität und Schweigen zur diplomatisch-didaktischen Großtat im Sinne proklamierter Demokratisierungsbestrebungen.
“Dies ist faktisch die einzige Möglichkeit, auf die Politik der Türkei Einfluss zu nehmen,” erklärt Volmer das deutsche und europäische Engagement und man könnte fast meinen, er glaube dies selbst.
Und ganz nebenbei verändert sich die Weltkarte, wird die Europäische Union bis Yüksekova reichen, und ein Teil Kurdistans wird ebenso dazu gehören wie die zur Unkenntlichkeit zerschlagenen Kleinstaaten des Balkan. Allein im Namen der Menschenrechte, versteht sich.
Auch die USA schlagen neuerdings bisher ungekannte Töne an, wenn es um die Türkei geht. In seiner Rede vor dem türkischen Parlament forderte Präsident Clinton im Vorfeld des OSCE-Gipfels die Türkei auf, auch den kurdischen Bürgern der Republik volle Gleichberechtigung zu geben. “Die Zukunft, die wir zusammen errichten möchten, beginnt mit den Fortschritten der Türkei, ihre Demokratie zu vertiefen,” erklärte der US-Präsident. “Souveränität darf nicht auf Angst basieren,” mahnte er, Kemal Atatürk zitierend, die Abgeordneten und warb für das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie kulturelle Freiheiten. “Wenn friedvolle Wege existieren, um normale menschliche Differenzen auszutragen, wird der Frieden bewahrt, nicht erschüttert. Wenn Menschen ihre Kultur und ihren Glauben in einer Weise ausüben können, die die Rechte Anderer nicht einschränkt, werden aus Moderaten keine Extremisten und aus Extremisten keine Helden.” Außerdem warb Clinton für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. “Europa ist ebenso eine Idee wie ein Ort, die Idee, dass Menschen vereint leben können ohne einheitlich zu sein. Es hat keine fixen Grenzen. Es reicht, soweit die Grenzen der Freiheit gehen können.”
Vor dem Hintergrund dessen, was wir aus der Vergangenheit über die Methoden europäischer und US-amerikanischer Türkeipolitik wissen, verblüfft zunächst dieser Sinneswandel, der sich in den Worten Clintons ebenso wie in der europäischen Diplomatie auszudrücken scheint. Überrascht und zögerlich, gelegentlich gar euphorisch, glauben viele nunmehr, ZeugInnen eines deutlichen Wandels der außenpolitischen Interessen des Westens zu werden. Und während wir noch erstaunt der Demokratisierungsrhetorik lauschen, holen uns geplante Panzerlieferungen, Geschäfte mit Kampfhubschraubern und die Auslieferung von Oppositionellen wieder auf den Boden der Realität zurück.
Wie erklärt sich der Widerspruch zwischen neuer Demokratisierungsdiplomatie und militärischer Unterstützung? Markiert der erklärte Einsatz für Menschenrechte tatsächlich eine neue Zielsetzung in der europäischen oder nordamerikanischen Außenpolitik, bzw. stehen die außenpolitischen Absichten der EU und der USA überhaupt im Widerspruch zur Lieferung von Kriegsgerät?
Die Ziele und Interessen der neuen europäischen Türkeipolitik, die Wandlung ihrer Methoden, die Chancen, aber vor allem auch die Risiken und Grenzen dieser Politik lassen sich nur vor dem Hintergrund jener Veränderungen verstehen, die die Europäische Union selbst und deren Verhältnis zu den USA in den letzten Jahren durchlaufen hat.

Der Preis für die Stabilität des westlichen Bündnisses

Über lange Jahrzehnte schienen die Fronten der Türkeipolitik klar. Welche Verbrechen auch immer Militär, Polizei, staatlich gelenkte Mafia oder die kemalistischen Biedermänner in Parlamenten und Verwaltung begingen, sie fanden ihre internationale Rechtfertigung in den militärstrategischen Interessen der NATO. Ob durch die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Schmidt oder die christlichliberale Kohl-Regierung, die Bundesrepublik wurde der ihr im Rahmen des Bündnisses zugeteilten Zuständigkeit der militärischen Unterstützung durch Waffenlieferungen und Ausbildungshilfe stets gerecht.2*
Im “Kalten Krieg” heiligte der Zweck jedes Mittel. Und die “Eindämmung des Kommunismus” war als Ziel heilig genug, die Zerschlagung der türkischen Linken nach dem Militärputsch von 1980 zu finanzieren. Hatte die NATO doch noch kurz zuvor einen wichtigen Alliierten durch die islamistische Revolution im Iran verloren. Den direkten Verlust eines Mitgliedsstaates wollte man sich keinesfalls leisten. Die NATO setzte auf Krieg und die türkischen Machteliten, Polizei und Militär führten ihn. Und von Anfang an traf er die kurdische Linke mit vielfacher Härte. Mit dem Erstarken des kurdischen Widerstandes und dem Beginn des Befreiungskampfes, sollte die Stabilität der Türkei mit dem militärischen Sieg über die kurdische Freiheit erkauft werden. Die systematische Zerstörung kurdischer Dörfer, Zehntausende von Toten, hunderttausende von Menschen auf der Flucht und all jene Bilder der Barbarei, die sich uns in mehr als 15 Jahren versuchter Niederschlagung des jüngsten kurdischen Aufstandes tief in die Erinnerung gebrannt haben, sie waren der Preis für die Stabilität des westlichen Bündnisses.
Auch nach dem Ende des “Kalten Krieges” verlor der NATO-Bündnispartner seine Sonderstellung nicht. Als geostrategischer Vorposten zum Nahen und Mittleren Osten blieb die Bedeutung der Türkei unverändert - auch und gerade gegenüber dem systematisch zur Bedrohung aufgebauten Politischen Islam. Das “Feindbild Islam” unterschied nicht mehr zwischen einzelnen Bewegungen und zog eine ganze Kulturgemeinschaft pauschal in den Sog der Diffamierung. Wieder und wieder musste die Argumentation von der kemalistisch-laizistischen Türkei als Garant gegen den aus den Nachbarstaaten drohenden “islamistischen Vormarsch” für die Rechtfertigung der Unterstützung des türkischen Staates herhalten.
Und der kurdische Aufstand in der Türkei hätte im Erfolgsfall nicht nur die Ostgrenzen der NATO, sondern ganz konkret den uneingeschränkten Zugriff auf die Militärbasen in Incirlik, ebenso wie den Ausbau der GAP-Staudammprojekte zur Kontrolle der Wasserreserven aus Euphrat und Tigris bedrohen können.
Das Interesse des Westens war folglich die Stabilisierung der Regierung in Ankara und die Stabilisierung eines Militärs, das in Kurdistan auf die Karte der gewaltsamen Lösung setzte. Weder die USA, noch die Länder Europas betrieben dabei eine gezielt antikurdische Außenpolitik. Für sie war es lediglich egal, auf welche Weise die gewünschte Stabilität erreicht würde. Das Sterben in Kurdistan war für den Westen somit stets der billigend in Kauf genommene Preis für “höherwertige” geostrategische Interessen. Die strategische Instrumentalisierung galt für die zum “terroristischen Feind” erklärte PKK in Nordkurdistan ebenso, wie für die nach 1991 zur Destabilisierung des Iraks instrumentalisierten “Freunde” im Süden Kurdistans.

Die Festung Europa als christlicher Club
Diese von den Ländern der NATO bis auf kleine Nuancen weitgehend einheitlich betriebene Politik war dabei kaum ökonomisch motiviert. Die Handelsbeziehungen mit der Türkei gediehen prächtig und erlitten durch den Krieg in Kurdistan sogar eher gewisse Nachteile. Die ökonomische Anbindung der Türkei an die Europäische Union konnte über deren Mitgliedschaft in der Zollunion zur Zufriedenheit des europäischen Kapitals betrieben werden, und mit einer verhaltenen Kritik an der Menschenrechtssituation ließ sich gar die Auszahlung der im Rahmen der Zollunion vereinbarten Ausgleichszahlungen sperren. Auf dieser Basis bestand lange Zeit kein wirkliches Interesse daran, die Türkei zum Vollmitglied des Staatenbundes zu machen.
So entsprachen die zur Zurückweisung der regelmäßig vorgebrachten türkischen Beitrittsbegehren angeführten Argumente, die plötzlich die Demokratiedefizite des Landes ins Zentrum der Kritik rückten, auch niemals der wirklichen Motivation für den Ausschluss. Die Regierung in Ankara wusste nur zu gut, dass nicht Krieg und Menschenrechtsverletzungen die Tür nach Europa verschlossen hielten, durch die doch stets auch weiterhin Geld und Waffen zur Unterstützung eben jener Verbrechen hindurch gereicht wurden. Es war ein offenes Geheimnis, dass die “Festung Europa” in Wirklichkeit den Zustrom von Flüchtlingen im Rahmen der Freizügigkeit fürchtete und obendrein die türkische Ökonomie noch nicht für beitrittsreif hielt. Und die in der EU maßgeblichen Konservativen und ChristdemokratInnen, sie glaubten wirklich an die vorgestellte islamistische Gefahr, die sich bereits in der Türkei breit mache und Europa, jenen “christlichen Club”, bedrohe, der sich in eurozentristischer Überheblichkeit ohnehin den Beitritt eines Landes mit islamischer Bevölkerung nicht vorstellen konnte.
Über diese Punkte hinaus gab es keine einheitliche Türkeipolitik im heterogenen Staatenbündnis, ebensowenig wie eine einheitliche europäische Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten insgesamt. Diese blieb stets auf einzelne Mitgliedstaaten, allen voran Großbritannien und Deutschland, beschränkt. In Situationen somit, in denen die EU tatsächlich ernsthaft Kritik an den türkischen Verbrechen gegen die Menschenrechte übte und erst Recht in jenen, in denen diese Kritik nur verlogenen Charakter hatte, konnte die Türkei ihre europäischen Bündnispartner gegen einander und gegen die USA perfekt ausspielen. Ihren ökonomischen Einfluss als wichtigster Handelspartner der Türkei mochte die EU niemals in die Waagschale werfen, und diplomatisch konnte sich die Regierung in Ankara stets auf die bedeutendere USA zurückziehen. Grundsätzlich waren die US-amerikanischen geostrategischen Interessen im Rahmen der NATO ähnlicher Art wie die europäischen. Als Hegemonialmacht in der Region setzten die USA nur noch rigoroser auf die türkische Karte.

Die EU ist sich ihrer Macht bewusst
In den vergangenen Jahren und speziell in den letzten Monaten, in denen nun alle von der Demokratisierung sprechen, hat sich an den politischen, ökonomischen und militärstrategischen Interessen weder für die USA, noch für die EU substantiell etwas geändert. Was sich geändert hat, ist die EU selbst und die Rolle, die sie in der Zukunft zu spielen gedenkt.
Insbesondere durch die Wahlen in Großbritannien, Frankreich, Italien und zuletzt in Deutschland hat die Europäische Union einen Wandlungsprozess durchlaufen, der sich am treffendsten als “Sozialdemokratisierung” des politischen Profils beschreiben lässt. Insbesondere unter den führenden Regierungen wurden die konservativen Parteien auf die Oppositionsbänke verbannt. Zahlreiche zwischenstaatliche Widersprüche, insbesondere im Bereich der EU-Außenpolitik, sind damit in den Hintergrund getreten und haben zu einem einheitlicheren Auftreten geführt. Den bislang letzten großen “Homogenisierungsschub” hat die europäische Außenpolitik im Rahmen des Balkankrieges erfahren. Mit diesem Schritt ist der Staatenbund zum Bündnis avanciert, das sich seiner Macht bewusst fortan der Sicherung und Ausdehnung seiner Interessenssphären, auch im Widerspruch zu den USA, zu widmen gedenkt.3*
Das “Bemühen der herrschenden Klassen hochentwickelter kapitalistischer Länder, ihre ökonomischen und politischen Interessen international auch gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen”, erfährt in einer europäischen “expansiven Sicherungspolitik”4* eine neue imperialistische Hochkonjunktur.5* Während die Ausdehnung der Union ins nördliche Osteuropa über die “friedliche” Aufnahme der BeitrittskandidatInnen vollzogen wird, markiert die Zerschlagung Jugoslawiens und die damit verbundenen Kriege auf dem Balkan die blutige Variante zukünftiger europäischer Osterweiterung, gekleidet in die Rhetorik humanitärer Zielsetzungen.6* Gelohnt hat sich der Feldzug nicht nur für die europäischen Rüstungsindustrien.7* Schon jetzt gieren die ökonomisch abhängigen Kleinstaaten Kroatien, Slowenien und Mazedonien nach der Aufnahme in das europäische Großmachtbündnis.8* Bosnien sowie die noch immer jugoslawischen Teilrepubliken Kosovo und Montenegro haben bereits die D-Mark als offizielles Zahlungsmittel eingeführt.9*
Mit Javier Solana, der als ehemaliger NATO-Generalsekretär während des Balkankrieges zu europaweiter Popularität gelangte, hat die EU nun ihren neuen “Außenminister” gefunden. Als außenpolitischer Beauftragter wird Solana ab Ende November 1999 auch den Vorsitz des europäischen Verteidigungsbündnisses der WEU10* übernehmen, deren Integration in die EU auf dem EU-Gipfel in Helsinki geplant ist.11* Die Vollendung der Herausbildung einer Großmacht Europa, mit gemeinsamer Außenpolitik und Militärunion, soll noch im kommenden Jahr über innereuropäische Reformen abgesichert und abgeschlossen werden.12*
Erstmals besteht in dieser neuen Situation auch ein tatsächliches Interesse, die Türkei mittelfristig zum regulären Mitglied der Großmacht EU zu machen und damit die direkte europäische ökonomische und militärstrategische Einflussnahme im Nahen und Mittleren Osten zu etablieren und abzusichern, auch in Konkurrenz zum NATO-Bündnispartner USA.
Die Interessen der EU an diesem Schritt sind vielfältig. Neben der Ausweitung der geostrategischen Einflusssphäre dürfte vor allem der Zugriff auf die Erdölvorkommen am Kaspischen Meer eine maßgebliche Rolle spielen. Dort liegen Erdölreserven, die mitunter als die zweitgrößten der Welt gehandelt werden. Die einzige nutzbare Pipeline führte zunächst über Russland, von Baku nach Noworossisk an die Schwarzmeerküste.13* Diese Route bietet jedoch heute, durch die politischen Entwicklungen im Kaukasus, den dortigen russischen Kontrollverlust und die Kriege in Tschetschenien und Dagestan, bis auf weiteres keine Perspektive für die an der Ausbeutung der Vorkommen interessierten internationalen Konzerne, so dass sie aus der mittelfristigen Planung weitgehend verschwinden musste.14* Im April dieses Jahres wurde eine weitere ins georgische Supsa eröffnet, die erstmals nicht über russisches Territorium führt.15* Die Unsicherheit, ob Russland nach Beendigung des Krieges im Nordkaukasus nicht versuchen wird, weiter in den Südkaukasus vorzudringen, scheint Europa wie den USA jedoch zu groß. Daher war seit langem auch die Routenführung von Baku in den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan im Gespräch. Diese Route scheiterte jedoch bisher einerseits an den beteiligten Ölkonzernen, für die die Route Baku-Ceyhan mit Abstand die teuerste Trassenführung darstellt, und andererseits an der schlichten Tatsache, dass dieser Weg mitten durch Kurdistan und damit ebenfalls durch Kriegsgebiet führt.
Während Russland noch versucht, die Vorherrschaft über den Kaukasus und damit über die Nordroute zurück zu bomben, wurde auf dem OSCE Gipfel in Istanbul schließlich die Unterzeichnung eines Vertrages für die neue Pipeline Baku-Ceyhan vereinbart. Die beteiligten Staaten haben die Konzerne so weit von den Kosten entlastet, dass der Bau für diese wieder lukrativ erscheint. Die Türkei beispielsweise verzichtet für 10 Jahre auf ihre Einnahmen aus dem Geschäft.16*
Doch nicht alleine der 4 Milliarden Dollar umfassende Pipelinebau rechtfertigt heute das europäisch-nordamerikanische Interesse an einer befriedeten kurdischen Region in der Türkei. Im Verlauf der Trasse sollen Handelsstraßen entstehen, Eisenbahnlinien und ein Luftkorridor, der die unabhängigen Staaten der Kaukasusregion aus der territorialen Isolierung befreien soll. Dabei geht es vor allem darum, Transport und Verkehrswege zu erschließen, die weder über Russland, noch über den Iran führen.17* Auch die im Zuge einer angestrebten Entspannung zwischen Israel und Syrien vorgesehene Wiedereröffnung des Landweges von Tel Aviv nach Ankara führt über Kurdistan.18*

Die Türkeiintegration als Beweis außenpolitischer Handlungsfähigkeit
Mit der Entscheidung, die Türkei mittelfristig als Vollmitglied aufnehmen zu wollen und damit die geostrategische Schlüsselposition des Landes zu einer EU-Schlüsselposition zu machen, und mit der Erkenntnis, nunmehr auch ein Maß an außenpolitischer Handlungsfähigkeit erreicht zu haben, die dieses Ansinnen nicht mehr rundweg in den Bereich realitätsferner Zukunftsträume verbannt, hat sich die EU direkt nach dem Balkankrieges dem ehrgeizigen Vorhaben Türkei-Integration zugewandt.
Die reguläre Einbindung der Türkei als Mitglied der EU erfordert jedoch die Befriedung Kurdistans sowie Veränderungen in der politischen Verfasstheit der Türkei und deren ökonomische und soziale Stabilisierung. Andernfalls wäre weder die ökonomische Nutzung Kurdistans denkbar, noch die im Sinne der Festung Europa notwendige Kontrolle über mögliche Migrationsbewegungen innerhalb der Union möglich.
Dabei macht sich die objektive Konkurrenzsituation zu den USA bei der Vorbereitung zukünftiger Hegemonien im Nahen und Mittleren Osten interessanter Weise subjektiv derzeit noch kaum bemerkbar. Für beide ist die Demokratisierung der Türkei zum Schlüssel der Befriedung Kurdistans geworden und beide wollen diesen Frieden, den sie militärisch nicht erzwingen konnten. Gelegentlich scheint es sogar, als konkurrierten die USA und die EU derzeit darin, wer die Regie über einen Demokratisierungsprozess führen wird und wer sich damit den Einfluss auf die Zukunft sichert.
Für die EU hat sich Deutschland in die Schlüsselposition des Neugestaltungs- und Erweiterungsprozesses katapultiert. Mit dem ehemaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Günter Verheugen (SPD), der nun als EU-Kommissar für die Erweiterung der Union zuständig ist, und dem mit Außenminister Fischer eng vertrauten Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit (Grüne), der in Straßburg im Juli den Vorsitz über die europäisch türkische ParlamentarierInnen Kommission übernahm, besetzt die Bundesregierung zwei zentrale Positionen innerhalb dieses während ihrer Ratspräsidentschaft eingeleiteten Prozesses.

Konkurrierende Interessen von USA und EU
Sowohl für die USA, als auch für die Europäische Union kann es sich in Zukunft als entscheidend erweisen, wer diesem Prozess seinen Stempel aufzudrücken vermag; sprich: wer in der Zukunft seine Vorherrschaft in der Region auszubauen versteht oder zu verlieren riskiert. Daher setzen beide vordergründig einheitlich auf den Demokratisierungsprozess in der Türkei als Schlüssel zur zukünftigen Hegemonie in der Region. Trotz konkurrierender Interessen in diesem Prozess resultiert auf der politischen Ebene ein synergistisches Handeln, das es der Türkei derzeit erschwert, die EU und die USA wie in der Vergangenheit gegeneinander auszuspielen.
Das Rennen um die Demokratisierung hat begonnen für die EU: unter deutscher Regie. Interessant erscheint insofern ein Blick auf die Wege und Ziele, die die EU für die von ihr favorisierte Form der Demokratisierung anstrebt, denn nur aus ihnen lassen sich Chancen und Risiken dessen ableiten, was mit diesem Kurs möglich ist.
“Wir wollen die Türkei demokratisch, friedlich, multikulturell und vereint,” fasste der griechische Außenminister Papandreou die Rahmenbedingungen der europäischen Integrationspolitik Anfang November zusammen.19* Diese ergeben sich als Bedingungen aus Artikel 49 in Verbindung mit Artikel 6 des Amsterdamer EU Vertrages20*, sowie den vom Europäischen Rat 1993 in Kopenhagen formulierten Beitrittskriterien. Danach ist Voraussetzung für einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft, dass ein Staat folgende Grundsätze achtet: Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit. Auch eine Lösung des bewaffneten Konfliktes in Kurdistan ist formal über diese Kriterien mit erfasst. In einem Briefwechsel mit dem deutschen Bundeskanzler Schröder im Vorfeld des Europäischen Rates Anfang Juni in Bonn, erkannte der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit die o.g. Verpflichtungen und Beitrittskriterien als verbindlich für die Türkei an und bekräftigte die Entschlossenheit, entsprechende Reformen durchzuführen. Auch existieren Zusagen über Gespräche zur Erarbeitung eines “Fahrplanes” für die Durchführung von Reformen.21*
Und in der Tat drängen die europäischen Regierungen nicht nur mit Hochdruck auf eine Lösung des Zypernkonfliktes. In Straßburg arbeiten gar europäische Rechtsexperten bereits an einem Entwurf für eine neue Verfassung der Türkei, die den Kopenhagener Kriterien genügt, und das Land auf diesem Gebiet formal integrationsfähig machen soll.22* Denn wie weit gehen die Demokratievorstellungen der EU wirklich?
In seiner Rede bei der Vorbereitungskonferenz zum Stabilitätspakt für Südosteuropa wies Bundesaußenminister Fischer explizit auf die historischen Vorbilder hin, die der Bundesregierung für die Demokratisierung der Region vorschweben: “Es hat sich wiederholt gezeigt, welch mächtige, friedensstiftende Kraft in der europäischen Idee steckt bei der Aussöhnung der ‘Erbfeinde’ Deutschland und Frankreich, bei der Überwindung des Erbes der Diktatur in Spanien, Portugal und Griechenland, zuletzt bei der gesellschaftlichen Transformation und der Überwindung von Minderheiten- und Grenzproblemen in Mittel- und Osteuropa.”23*
Gerade in Griechenland nach dem Ende der Obristendiktatur und im postfranquistischen Spanien wurde die Demokratisierung der Gesellschaften allerdings unter Beibehaltung der herrschenden Eliten betrieben. Die juristische Aufarbeitung der von den jeweiligen Diktaturen begangenen Verbrechen kam nur schleppend voran oder fand überhaupt nicht statt. Die Staatsapparate und Verwaltungen, Polizei und Militär blieben bis auf wenige personelle Veränderungen im Kern unangetastet.24*
Wie weitergehende Forderungen gegebenenfalls ausgehebelt werden, mit welchen Mitteln eine mögliche Hegemonie fortschrittlicher Kräfte in Demokratisierungsprozessen hintertrieben werden kann und wie die Grenzen maximaler europäischer Demokratiebereitschaft gewahrt bleiben, zeigt die Sozialdemokratisierung der sozialistischen portugiesischen Nelkenrevolution, die insbesondere durch die deutsche Sozialdemokratie induziert wurde.25*
Der im Frühsommer 1999 auf dem G8- Gipfel in Köln verabschiedete Stabilitätspakt basiert auf der Grundidee, dass eine politische Stabilisierung Südosteuropas im sicherheitspolitischen Interesse der EU liege. Als Anreiz bietet die EU die stufenweise Integration über Stabilitäts- und Assoziierungsverträge an.26* Und auch wenn die Türkei nicht explizit unter den für diesen Pakt vorgesehenen Ländern aufgeführt ist, sondern bereits auf einer höheren Stufe des Aufnahmeprozesses gehandelt wird, so gehorchen die Integrationsstrategien doch denselben Gesetzmäßigkeiten. Gleichzeitig verabschiedete das Gipfeltreffen der Europäischen Union eine Erklärung zum Ausbau der militärischen Schlagkraft Europas. “Wir, die Mitglieder des Europäischen Rates,” heißt es dort, “wollen entschlossen dafür eintreten, dass die Europäische Union ihre Rolle auf der internationalen Bühne uneingeschränkt wahrnimmt. Hierzu beabsichtigen wir, der EU die notwendigen Mittel und Fähigkeiten an die Hand zu geben, damit sie ihrer Verantwortung im Zusammenhang mit einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gerecht werden kann.” Es folgen Ausführungen über die dafür notwendige “Umstrukturierung der europäischen Verteidigungsindustrien”.27*

Frieden in Kurdistan im Interesse von USA und EU
Nach menschlichem Ermessen und nach sorgfältiger Betrachtung von Friedensprozessen in anderen Abschnitten der Geschichte dürfte der gemeinsame Wille der USA und der EU mittelfristig tatsächlich hinreichen, eine demokratische Veränderung der Türkei und Frieden in Kurdistan herbeizuführen. Dieser Wille ist jedoch weder ein Selbstzweck noch an den tatsächlichen Bedürfnissen der kurdischen Bevölkerung oder der demokratischen Kräfte der Türkei orientiert. Er orientiert sich an den geostrategischen Interessen der USA und der EU. Dazu gehört es nicht nur, die Türkei weiterhin uneingeschränkt mit jenen Waffen auszustatten, die sie im Rahmen des Bündnisses befähigen, die ihr zugedachte Rolle auch in Zukunft zu erfüllen.
Auch die Auslieferung des Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, an die Türkei gehörte zu den Schritten einer europäisch-nordamerikanisch-türkischen Lösung der kurdischen Frage.
Als Öcalan im vergangenen Jahr in Rom eintraf, war die Verständigung der EU auf eine gemeinsame Außenpolitik gegenüber der Türkei noch nicht abgeschlossen. Diese Verständigung zog sich über mehrere Monate hin und endete in der sorgfältig abgewogenen Auslieferung des PKK-Vorsitzenden.
Doch bereits in den teils widersprüchlichen Erklärungen verschiedener Regierungen aus jener Zeit zeichneten sich schon zentrale Aspekte ab, die sich auch in der heutigen Demokratisierungspolitik wiederfinden lassen: eine Lösung der kurdischen Frage sollte ohne die gestalterische Beteiligung der kurdischen Seite, insbesondere ohne Beteiligung der PKK, stattfinden. Nur das öffentliche Interesse an Öcalans Aufenthalt in Rom, und der Versuch der PKK, die EU zu einer Parteinahme zu bringen, schien diese Absicht zeitweise zu durchkreuzen.
Die europäische Position hat sich in diesem Punkt bis heute wenig geändert. Man wolle die PKK nicht als “Vertreterin eines politischen Anliegens aufwerten”, hieß es noch im Juni in deutlichen Worten aus dem Auswärtigen Amt, und unterscheide “zwischen den berechtigten politischen Anliegen der kurdischen Bevölkerung und dem Terrorismus bzw. Separatismus ...”
Statt dessen setzt die EU auf den sozialen Wiederaufbau des zerstörten Landes, hier auch unter Einbindung der legalen kurdischen Parteien.
Um nicht falsch verstanden zu werden: die von Seiten der EU angestrebte Demokratisierung wird in vielen Bereichen Verbesserungen für die kurdischen und türkischen demokratischen Kräfte mit sich bringen. Es macht real einen großen Unterschied, ob man in Zukunft nicht mehr auf offener Straße willkürlich ermordet oder verhaftet werden kann, ob Menschen nicht länger systematisch abgeholt und in Polizeihaft gefoltert, umgebracht oder “verschwunden” gelassen werden und es macht einen riesigen Unterschied, wenn es gelingen sollte, dem Morden in Kurdistan ein Ende zu bereiten.
All dies kann aber nicht das Ziel sondern nur die Ausgangsbasis wirklicher Demokratisierung sein. Letztere wird auch in Zukunft noch weiter politisch erstritten werden müssen notfalls auch gegen die Interessen der Europäischen Union. Hierauf gilt es sich schon heute vorzubereiten.

 

1) Streitgespräch zwischen Ludger Volmer und dem Autor. WDR III, 05.09.99
2) J. Hippler und A. Lueg “Das Feindbild Islam in den westlichen Medien” Hamburg 1993
3) K. Rauchfuss “... erkämpft das Menschenrecht ? - Kinkelbesuch in der Türkei” in: SoZ 8/1997
4) Winfried Wolf “Bombengeschäfte - Zur politischen Ökonomie des Kosovo Krieges”, Hamburg 1999
5) Georg Fülberth “Stammtischzerlegung - Wessen Krieg ist der Kosovokrieg?” in konkret 7/99
6) Noam Chomsky “The New Military Humanism”, Monroe 1999
7) Winfried Wolf a.a.O. Hamburg 1999
8) Michel Collon “Poker menteur. Les grandes puissances, la Yugoslavie et les prochaines guerres.”, Brüssel 1999
junge Welt vom 03.11.1999
10) WEU: Westeuropäische Union
11) Anton Landgraf “Solanas Macht” in jungle world 47/99
12) Angela Klein “Autoritäre EU-Reform” in SoZ 24/99
13) Jean Radvanyi “Der Westen knüpft in Mittelasien ein geostrategisches Transportnetz - Die neue Seidenstraße führt an Russland vorbei” in Le Monde diplomatique vom 12.06.1998
14) Michel Collon a.a.O. Brüssel 1999
15) Klaus-Helge Donath “Der Kampf ums Öl” in taz vom 27.11.1999
16) Jürgen Gottschlich “Die moderne Seidenstraße wird gebaut”
17) Jean Radvanyi a.a.O. Le Monde diplomatique vom 12.06.1998
18) Jürgen Gottschlich “Die Türkei auf dem Weg nach Europa?” in taz vom 22.07.1999
19) Gespräch mit dem Autor am 3.11.99, Cambridge, USA
20) Fassung vom 02. Oktober 1997
21) Bundestags-Drucksache 14/1368
22) Wie 1)
23) Josef Fischer “Südosteuropa am Wendepunkt” Rede bei der Vorbereitungskonferenz zum Stabilitätspakt für Südosteuropa auf dem Petersberg bei Bonn, 27.05.99
24) Periklis Korovessis “Die Menschenwärter”, Vorwort zur 2. Dt. Auflage, Frankfurt Main 1981
amnesty international “Folter in Griechenland - Der erste Prozess gegen Folterer 1975”, Baden-Baden 1975
Walther L. Bernecker “Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg”, München 1984
25) Günter Schröder [Hrsg.] “Portugal: Materialien und Dokumente” Bd. 1-5 Gießen 1975
26) Hans-Georg Erhard “Stabilitätspakt für Südosteuropa” in Blätter für deutsche und internationale Politik 8/99
27) “Erklärung des Europäischen Rates zur Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.” Gipfeltreffen der EU, Köln 3. und 4. Juni 1999