Eindrücke einer Reise vom 9. bis 20.10.2013 – Eine andere Welt entstehtRojava – Momente einer RevolutionMichael Knapp, Kurdistan-Solidaritätskomitee BerlinSchon
als wir am 9. Oktober den Tigris von Südkurdistan aus überquerten, war
der Systemwechsel deutlich zu spüren. Wir kamen aus dem hyperkapitalistisch-neofeudal
organisierten Südkurdistan, verabschiedet von Peschmergas der Demokratischen
Partei Kurdistans (PDK), die vom Auftreten her durchaus mit deutschen
PolizistInnen vergleichbar sind, mit einem Fährboot am anderen Ufer
zum Grenzposten der Sicherheitskräfte der westkurdischen Rätebewegung,
der Asayiş. Es standen uns zwei freundliche junge Frauen und ein junger
Mann gegenüber, die gerade viele Menschen, darunter rückkehrende Flüchtlinge,
respektvoll und freundlich kontrollierten. Dabei fiel sofort auf, dass
hier nicht etwa Angst vor Sturmgewehren die Bevölkerung zur Kooperation
mit den Sicherheitskräften zwang, sondern vielmehr großer Respekt vor
diesen jungen aus dem Volk kommenden RevolutionärInnen bestand. Viele
bestätigten uns dies im Laufe unserer Reise immer wieder, indem sie
erklärten: »Das sind unsere Kinder und sie beschützen uns.« Auf dem
Weg in die kurdische Stadt Dêrik (Al-Malikiya) kamen wir an etlichen
Checkpoints der Asayiş sowie der Volksverteidigungskräfte YPG und ihrer
Frauenverteidigungseinheiten YPJ vorbei. Das Land ist hier übersät mit
Ölpumpen, ein Grund mit, warum Islamisten versuchen, gerade diese Region
mit aller Gewalt unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine neue Ökonomie: »Auch wenn sie die Grenze nicht öffnen, werden wir wie Kuba wenn nötig auch sechzig Jahre trotz Embargo aushalten!«Die Revolution in Rojava ist nicht nur eine Revolution der demokratischen Selbstverwaltung auf administrativer Ebene, auch die Ökonomie ist eingeschlossen. Das Assad-Regime hatte als antikurdische Maßnahme die Ländereien der kurdischen Großgrundbesitzer verstaatlicht und sie von arabischer Bevölkerung bewirtschaften lassen. Diese verstaatlichten Flächen wurden auch nach der Revolution nicht an die Großgrundbesitzer zurückgegeben, sondern werden jetzt von den Räten kontrolliert, auf ihnen wird für die Gesellschaft produziert, um z. B. billiges Obst, Getreide, Olivenöl und Ähnliches herstellen zu können. Dabei organisieren sich die ArbeiterInnen in Kooperativen nach basisdemokratischem Prinzip; dies gilt nicht nur für die Landwirtschaft, sondern geht bis hin zu den Ölfabriken. Neben diesem basisdemokratischen System gibt es aber noch Privatbesitz an Land und Produktionsmitteln, der teilweise kollektiv bewirtschaftet wird. Das Embargo bedroht die Bevölkerung: »Welche Schuld hat ein Baby, das verhungert, weil es keine Milch bekommt?«
Die Selbstverwaltung wird von einem massiven Wirtschaftsembargo behindert.
Sowohl die Türkei, die zurzeit eine Mauer durch Kurdistan entlang der
türkischen Staatsgrenze baut, als auch die Kurdische Regionalregierung
und Masud Barzanî versuchen, dieses fortschrittliche Projekt auszuhungern.
Hier ist insbesondere wieder das Interesse Barzanîs zu nennen, die fortschrittlichen
Kräfte zu schwächen und in Westkurdistan mit Hilfe von Parteien wie
Azadî und El-Partî ein ebenso kapitalistisches, neofeudales System wie
in Südkurdistan zu schaffen. Unmenschliche Bedingungen in FlüchtlingslagernIm Moment befinden sich etwa 200 000 Menschen aus Rojava in Südkurdistan in Flüchtlingslagern. Wir haben das Kawagosk-Camp in einem wüstenähnlichen Gebiet, eine halbe Stunde von Hewlêr (Arbil) entfernt, besucht, in dem etwa 20.000 Menschen bei glühender Hitze eingesperrt sind. Krankheiten grassieren, medizinische Versorgung gibt es kaum. Viele dieser Menschen sind aufgrund des Embargos oder der Angstpropaganda der PDK-nahen Sender Rudaw und Zagros TV geflohen und leben nun in diesen Flüchtlingslagern. Verteidigung Rojavas gegen die Vernichtung
Wenn wir uns in den Städten Rojavas bewegen, so fällt uns meist das
ganz normale Leben der Bevölkerung auf. Die Lebensbedingungen sind an
den von uns besuchten Orten wesentlich besser als in den südkurdischen
Flüchtlingslagern. Fragen wir die Menschen, egal ob AraberIn, AssyrerIn,
ChristIn, SozialdemokratIn, religiöseR VertreterIn oder RevolutionärIn,
alle antworten, dass ihr relativ normales Leben der Verteidigung durch
die Verteidigungseinheiten YPG/YPJ und die Asayîş zu verdanken sei.
Diese Verteidigungseinheiten, die die Frontlinie gegenüber dem islamistischen
Terror, aber auch gegenüber dem Baath-Regime bilden, sind alles, was
die in Rojava lebenden Menschen von einem entsetzlichen Terrorregime
trennt. Wir haben vor wenigen Wochen befreite Stadtteile und Dörfer
in der Region Serê Kaniyê (Ras al-Ayn) besucht und hier die Spuren des
Terrors dieser vom Westen unterstützten Banden gesehen. So z. B. das
yezidische Dorf Cafa – hier konnte die Bevölkerung bis auf eine Person,
die von Islamisten enthauptet wurde, entkommen. Das Dorf wurde zum Stützpunkt
der Islamisten, überall stehen islamistische Parolen wie »Wir kommen
zum Schlachten – Grüße von den Taliban«, »Wir vernichten die Yeziden«
oder an einer von den YPG befreiten Kirche »Wir vernichten die Christen«.
Dass die Parole »Wir kommen zum Schlachten« wörtlich gemeint ist, zeigen
uns unter anderen die vielen in Blut geschriebenen Parolen und die Berichte
der Bevölkerung. Öffentliche Enthauptungen, das Abschlagen von Fingern
wegen Rauchens am Ramadan, Zwangsehen auf Zeit als religiöse Institutionalisierung
von Vergewaltigung sind in den von den djihadistischen Gruppen Al-Nusra-Front
und Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) kontrollierten Gebieten
an der Tagesordnung. In den von den Islamisten verwüsteten Häusern finden
sich noch Nahrungsmittelpakete aus der Türkei. YPG-Einheiten bestätigen
uns, dass insbesondere in Serê Kaniyê und Afrîn die islamistischen Einheiten
mit Hilfe des NATO-Staats Türkei versorgt werden. Opfer eines Massakers
in Tell Hasil und Tell Aran, bei dem mindestens 50 Menschen ermordet
und über 300 entführt wurden, berichten, dass bei ISIS und Al-Nusra
sowohl deutsche Kämpfer als auch der südkurdischen Regierung nahestehende
Einheiten der Azadî-Partei beteiligt bzw. anwesend waren. Eine Revolution inspiriert von den Ideen Abdullah Öcalans
Wenn wir mit den Frauen in Rojava reden, bekommen wir immer zu hören,
dass es keine befreite Gesellschaft ohne die Befreiung der Frau geben
könne und dass die Freiheitsbewegung von den Ideen Abdullah Öcalans
inspiriert sei. Wir können bestätigen, dass die Ideen des Demokratischen
Konföderalismus, der Basisdemokratie und der Frauenbefreiung, die von
Abdullah Öcalan stammen, der bis zu seiner Vertreibung 1998 zwanzig
Jahre lang in Syrien lebte, hier direkt in die revolutionäre Praxis
einfließen. So ist es kein Wunder, dass die Bewegung einerseits organisatorisch
vollkommen unabhängig von der Arbeiterpartei Kurdistan PKK ist, aber
Abdullah Öcalan ebenfalls als ihren Repräsentanten und Ideengeber sieht.
Selbst in Polizeiwachen hängt so das Bild Öcalans und in vielen Privatwohnungen
finden sich Öcalan-Bilder neben den Porträts gefallener YPG-KämpferInnen
und religiösen Symbolen an der Wohnzimmerwand. |