Zum Tod von Hikmet Karahan / Heval Süleyman

Mit Humor und einer tiefen Menschenliebe …

Sigrid Töpfer, Mehmet Zahit Ekinci, Nujiyan Urfa

Am 19. Oktober 2011 verstarb Hikmet Karahan (Süleyman) in der Nähe von Hamburg im Alter von 67 Jahren an einem Herzinfarkt. Hikmet Karahan war Sprecher des kurdischen Volksrats Hamburg und Mitglied der zweiten Friedensgruppe aus Europa, deren Einreise in die Türkei im Oktober 2009 verhindert wurde. Er hinterließ seine Frau, seine Kinder und Enkelkinder sowie seine politischen Freundinnen und Freunde. Beerdigt wurde er im Beisein Tausender in seiner Heimatstadt Dep (Karakoçan) in Kurdistan. Seine große Menschlichkeit und seine politische Integrität machten ihn zu einem unvergesslichen Freund und Genossen.
Im Folgenden veröffentlichen wir Texte zu Hikmet Karahan von seiner Hamburger Rechtsanwältin Sigrid Töpfer, dem Journalisten Mehmet Zahit Ekinci sowie von Nujiyan Urfa, einer seiner Genossinnen.

Trauerworte für Hikmet Karahan
(Heval Süleyman)

Sigrid Töpfer

Liebe Familie und liebe Freunde von Hikmet,

allen wird es gleich gehen: Ich konnte die Nachricht nicht fassen, ich dachte, es ist ein Irrtum, es muss eine Verwechslung sein. Ich erfuhr erst drei Tage später von seinem Tod.

Ich höre seine ruhige, sonore Stimme, sehe seinen klaren Blick, seine ruhigen Bewegungen und denke, ich sehe ihn gleich wieder, wie immer, wie schon lange mit grauen Haaren, aber wie immer. Mir ist es wichtig, als eine deutsche Freundin und seine Anwältin zu Euch zu sprechen.

Als Hikmet 1986 sein Asylverfahren auf Anhieb gewann, war er 42 und ich 31; er sah aus wie der Anwalt und ich wie eine Studentin. Er hat alle überzeugt. Ich mochte ihn auf Anhieb, ich mochte [seine Frau] Güneş und die Kinder, die ich bald kennenlernte. In 30 Berufsjahren ist Hikmet für mich der mit Abstand liebenswerteste und beeindruckendste Mandant gewesen und ein Freund geworden.

Er war ein treuer und liebender Ehemann, ein liebevoller, kluger und demokratischer Vater, ein sorgender, zugewandter Freund, ein hoch moralischer Mensch, ein unabhängiger Geist, ein kämpfender Politiker und ein absolut zuverlässiger Genosse unter Männern wie unter Frauen. Er hatte Humor und eine tiefe Menschenliebe in sich.

Diese Aufzählung ist fast unpassend für ihn. Sie klingt anpreisend, aber Hikmet war im Leben mit Selbstverständlichkeit und ohne Worte alles das, was andere gern wären und nie sein werden. Er war eine Ausnahmeerscheinung, in der kurdischen Kultur, im politischen Leben in der Türkei, in der nordeuropäischen und persönlichen Kultur. Ich habe in ihm eine Männer- und Vaterfigur geschätzt und bewundert. Einen solchen Vater habe ich nicht gehabt.

In unserer großen Welt kann man auf solche Ausnahmeerscheinungen treffen, die die Gesellschaft und jeden Einzelnen von uns bereichern, egal, wo sie sind, und deren hohe Moral über alle Grenzen hinweg wirkt. Mehr noch als durch die Begegnung mit anderen Kulturen, die in meinem Leben eine Rolle spielt, ist die Begegnung mit Hikmet als Erscheinung und Person für mich eine immerwährende Bereicherung.

Das Bewusstsein, dass es so jemanden gibt, dass er hier in Hamburg erreichbar ist, in der Türkei, in Kurdistan, unter uns, hat auch mir Zuversicht und Kraft gegeben. Als deutsche Freundin kann ich nur sagen: Die Besten von Euch sind eine große Stütze für uns Eingesessene, eine Erweiterung des Lebens, eine Vergewisserung dessen, was wir für gut und richtig halten, ein Halt in dem Ringen um eine bessere Welt, auf andere Art, durch einen anderen Blick, durch eine andere Sprache.

Der Tod von wertvollen Menschen oder auch die Migration im Alter zurück in die Herkunftsländer ist für Menschen wie mich ein Verlust, eine neue fühlbare Veränderung, eine Verengung der Zuversicht, eine Abnahme von Selbstverständlichkeiten. Einer der Wichtigsten ist einfach nicht mehr da. Und in kurdischer Erde begraben. Er schien so selbstverständlich. Die Welt ist ärmer geworden und wir werden es erst langsam gewahr werden.

Sein Sterben hat nur wenige Minuten gedauert. Als seine Anwältin tröstet mich beim Gedanken an seine Folterung, dass er einen Weg aus dem Leben gehen konnte, der ohne Angst, ohne körperliche Schmerzen, ohne Ohnmacht und ohne Demütigung war. Er ist in voller Erfüllung seiner selbstgesetzten Aufgaben gegangen, geachtet und geliebt.

Schlimm ist es nur für die Hinterbliebenen. Das ruhige Leben mit Güneş wird nicht mehr sein. Uns Überlebenden bleibt, den schnellen Tod zu begrüßen und das unfassbar Schwere mit Güneş und den Kindern zu teilen und an ihrer Seite zu sein.

Neben aller Arbeit war Hikmet immer unermüdlich und zugewandt für andere da. Wir können als sein Vermächtnis nur annehmen, dass wir diese Zuwendung weitergeben, an seine Familie und andere. Und weiter versuchen, ohne Eitelkeiten diese Welt besser zu machen.

Hamburg, den 01. November 2011

„Freunde, es gibt viel zu tun“

Mehmet Zahit Ekinci

Es war einmal …, so fangen die meisten Märchen an. Und meistens werden die mutigen Menschen zu Heldinnen und Helden und die Feinde des Volkes nehmen ihren Platz auf den verdammten Seiten der Geschichte ein. Vor kurzem haben wir Hikmet Karahan (Süleyman), Sprecher des kurdischen Volksrats Hamburg, verloren. Er war einer dieser mutigen Menschen aus den Märchen. Er war ein Symbol für Selbstlosigkeit und Sorgfalt.

Seine 67 Lebensjahre verbrachte er im Exil, in Kerkern und Folterkammern. Aber niemals verlor er ein Wort darüber. Als ich ihn fragte, warum er nie darüber sprach, entgegnete er nur, dass jeder einen Preis gezahlt habe. Aber in diesen 67 Jahren hat er ein würdevolleres Leben geführt, als die meisten von uns sich vorstellen können. Er erinnerte an einen Weisen, der zu stolz ist, um davon zu berichten. Er organisierte etliche Streiks und gehörte zu denen, die ganz vorn stehen, wenn es darum geht, Widerstand zu leisten. Er widerstand auch schwerster Folter.

Heval Süleyman war immer beschäftigt. Das Telefon ständig zur Hand, wollte er immer Balsam für die Wunden der Menschen sein. Jeder Mensch, der in den kurdischen Verein in Hamburg kam, fragte zuerst nach ihm.

Zuletzt waren wir gemeinsam nach Kopenhagen gefahren. Dort fand eine Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude statt, in dem das Verbotsverfahren gegen Roj TV lief. Alle flüchteten sich vor dem strömenden Regen ins Zelt. Mir fiel auf, dass er im Regen stehen geblieben war. Als ich ihm sagte, er solle doch ins Zelt kommen, antwortete er: „Heval, wir sind wegen einer Kundgebung hier, nicht um uns ins Zelt zu stellen!“ Obwohl er vom strömenden Regen vollkommen durchnässt war, reihte er sich in die Tanzenden ein und rief die Parolen mit. Woher sollte ich wissen, dass das sein letzter Halay war?

Auf der Rückfahrt nahm er im Bus das Mikrofon in die Hand und sagte: „Hört zu, ich werde Euch jetzt ein wunderschönes Liebeslied singen.“ Während wir uns noch wunderten, was für ein Lied unser 67-jähriger Märchenheld singen würde, fing er an: „Arbeiter und Bauern, vereinigt Euch …“ Das war sein Traum: Dass sich die Arbeiter und Bauern vereinigen und die schönste Liebesgeschichte der Welt ein glückliches Ende findet. Jahrzehntelang hat er dafür gekämpft. Voller Sehnsucht nach einer gerechten Welt, auf der die Menschen wie Menschen leben können. Und dafür hat er nur zu oft einen hohen Preis gezahlt.

„Freunde, es gibt viel zu tun“ – das war ein Satz, den er oft sagte. Es gibt so viel zu tun, aber gegen seinen Tod konnten wir nichts tun. Wir konnten nicht einmal weinen, weil wir wussten, dass er dann aus dem Sarg springen und uns kritisieren würde: „Es gibt so viel zu tun und Euch fällt nichts Besseres ein, als mir hinterherzuweinen!“

So wie er im Leben ein Vorbild für uns war, hat er auch im Tod unzählige Menschen zusammengeführt. Wie vielen Menschen Du etwas bedeutet hast … Auf der Trauerfeier machte es den Eindruck, als ob jeder einen nahestehenden Verwandten verloren habe.

Unseren Märchenhelden aus dem Land der Riesen haben wir an einem kalten Oktoberabend verloren. Unsere Jahreszeiten sind ohne ihn noch ein bisschen kälter geworden. Er war ein Vater, ein Vertrauter, ein Genosse. Alle teilten ihre privates­ten Gefühle mit ihm, weil wir wussten, dass er niemals ein Geheimnis verraten würde. Mit wie vielen Geheimnissen ist er jetzt von uns gegangen. Er hat von uns allen einen Teil mitgenommen und sich auf den Weg in die Endlosigkeit gemacht.

Auch wenn wir ihn nicht sehen können, bin ich davon überzeugt, dass er uns weiter sieht. Dass er kontrolliert, ob wir unseren Aufgaben nachkommen. Die seiner gedenken und seine Ideale weiterleben lassen wollen, die gewissenhaft sind, für die gibt es auf jeden Fall viel zu tun. Wenn wir Heval Süleyman und den für die gleichen Ziele Gefallenen gerecht werden wollen, dann liegt es in unserer Schuld, ihre Ideale und Leidenschaften weiterzuleben. Sie haben nie etwas für sich selbst gewollt, sondern für die Freiheit und das Glück der Menschen gelebt bis zum letzten Atemzug.

(Übersetzung aus Yeni Özgür Politika, 04.11.2011)

Heval Süleyman: Weggefährte im vom Kampf geprägten Leben

Nujiyan Urfa

Der Tod von Heval Süleyman hat uns völlig unvorbereitet getroffen. Auf den Gedenkveranstaltungen für ihn und in den Medien haben viele seiner GenossInnen versucht, ihn zu beschreiben. Auch seine Kinder, sein Neffe und seine Lebenspartnerin erzählten davon, was für ein Vater, Onkel und Partner er war. Ich habe diesen Berichten zugehört; alle zusammen ergeben ein Bild davon, wie er gewesen ist. Auch ich hatte das Glück, Heval Süleyman zu kennen. Über ihn zu schreiben, ist mir ein Bedürfnis, etwas, was ich ihm schuldig bin.

Bekanntermaßen organisiert sich die kurdische Bevölkerung in Europa entsprechend dem konföderalen System in Räten. Diese Form der Organisierung hat sich herauskristallisiert, um den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Menschen zu begegnen. Ein falsches Verständnis des Prinzips, auf dessen Grundlage die Volks-, Frauen- und Jugendräte aufbauen, kann problematisch sein. Wer sich in dieser Form organisiert, muss Abdullah Öcalan lesen und sich als AktivistIn einer Ideologie begreifen. Wird ein solches Niveau nicht erreicht, macht sich bei den FreundInnen, die in den Räten eine führende Rolle übernehmen, leicht die Krankheit der Elitenbildung breit. Und mit dieser Krankheit wird der gesamte Rat infiziert.

Wir alle sind von Geburt an von den Wertmaßstäben eines gesellschaftlich existierenden Sexismus geprägt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der diese Wertmaßstäbe vorherrschen. Wer also innerhalb eines Volksrats eine Vorreiterrolle übernehmen will, muss diese Wertmaßstäbe brechen und somit die gesamtgesellschaftliche Entwicklung vorantreiben. Das gilt insbesondere für die gewählten SprecherInnen der Volksräte. Ich habe das oft feststellen können in der Arbeit mit diesen FreundInnen. Resultierend aus einem patriarchalischen Blick­winkel gibt es immer wieder FreundInnen, die sich als Elite empfinden. Sie stehen sozusagen über der Bevölkerung. Dadurch wird die Arbeit erheblich erschwert und jegliche Entwicklung verhindert.

Vielleicht stellt sich jetzt den LeserInnen die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem konföderalen System und der Persönlichkeit Heval Süleymans. Für mich ist das genau der Punkt. Nur in diesem Zusammenhang kann ich von Heval Süleyman erzählen. Denn er war einer, der sich mit den Volksräten identifizierte.

Wir haben eine ganze Weile zusammengearbeitet. Auch wenn ich die Einzelheiten seiner Vergangenheit nicht kannte, war angesichts seiner Haltung eindeutig, dass er durch unermüdlichen Einsatz an den Punkt gekommen war, an dem er sich befand. Er strahlte Vertrauen aus in seinem gesamten Umfeld. Quelle dieses Vertrauens waren seine tiefe Überzeugung von der Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes und die Festigkeit, mit der er selbst seinen GenossInnen vertraute.
Heval Süleyman hat sein Alter nicht gezeigt. Mit ihm zusammen haben sich alle wie AltersgenossInnen gefühlt. Anscheinend wusste er gar nicht, was Müdigkeit und Erschöpfung bedeuten. In der Arbeit war er immer jung und dynamisch. Er war zutiefst empathiefähig und gewann sofort das Vertrauen der Menschen, mit denen er zu tun hatte, durch sein natürliches und herzliches Verhalten. Jeden Tag verbrachte er mit uns, mit seinem Volk. Und das machte ihn sehr glück­lich. Er verbrachte so viel Zeit mit uns, dass selbst seine Familie ihn mit uns, unserer gemeinsamen Arbeit gleichsetzte. Als er starb, war seine Frau, unsere geliebte Mutter Güneş, in Kurdistan. Nach ihrer Rückkehr besuchten wir sie mit einer Gruppe Freundinnen. Das Erste, was sie sagte, als sie mich sah, war: „Du bist jetzt auch allein, Deinen Genossen gibt es nicht mehr.“ Das ging für sie vor – mehr noch als die eigene Einsamkeit und das Gefühl, verlassen worden zu sein. Und das hängt mit den Werten zusammen, die er im Leben erschaffen und nunmehr als Erbe hinterlassen hatte.

Das konföderale System und seine Persönlichkeit – Heval Süleyman hatte die Besonderheiten dieses Systems verinnerlicht. Ich habe schon einige seiner Eigenschaften beschrieben. Es gibt noch einige weitere, die genannt werden müssen: Er schätzte die GenossInnen in seinem Umfeld, und ihr Erfolg machte ihn glücklich. Niemals machte er den Versuch, den Einsatz anderer als eigenen Erfolg auszugeben. Im Gegenteil machte er immer deutlich, wessen Arbeit hinter welchem Ergebnis steckte. Er verhielt sich Frauen gegenüber nicht patriarchalisch. Oftmals gibt es bei Revolutionären das Problem, dass sie sich außerhalb der Familie demokratisch-revolutionär geben, innerhalb der Familie jedoch patriarchal auftreten. Diesem Problem begegnen wir leider allzu häufig. Wenn wir jedoch Heval Süleymans Familie betrachten und seinen Familienmitgliedern zuhören, merken wir, dass er die gleichen genossenschaftlichen Beziehungen, die gleiche Liebe, wie im Kampf so auch in seiner Familie gepflegt hat. Er war zu Hause nicht anders als unter den FreundInnen.

Seitdem er nicht mehr bei uns ist, sagen wir ständig: „Wenn Heval Süleyman hier wäre, würde er das und das machen, er würde diese Gedenkrede halten, diese Veranstaltung organisieren, oder bei dieser Aktion an der Spitze der Halay-TänzerInnen stehen.“ Aber auch wenn er im Moment nicht bei uns ist, stehen alle diese Dinge immer mit ihm in Verbindung. An jeder Ecke dieser Stadt sind seine Spuren zu sehen. Er hat Spuren in den Köpfen aller Menschen hinterlassen, mit denen er zu tun hatte, und er hat Liebe in die Herzen gepflanzt. Auf den mehrtägigen Trauerfeiern haben viele Menschen über ihn gesprochen. Alle, die ihn kannten, hatten etwas über ihn zu erzählen. Natürlich gelingt das nicht jedem. Aber zweifellos war Heval Süleyman ein ganz besonderer Mensch.

Als wir ihn verloren haben, ist eine riesengroße Lücke entstanden in dieser Stadt, in der wir leben. Diese Leere können wir nur versuchen zu füllen, indem wir seinen Weg weitergehen und fortführen, was er nicht mehr hat zu Ende führen können. Sein plötzliches Gehen hat uns, die ganze Stadt, mit Trauer erfüllt. Wir haben geweint, die ganze Stadt hat um ihn geweint. Alle GenossInnen, die ihn im Laufe seines so stark vom Kampf für ein besseres Leben geprägten Lebens kannten, haben den gleichen großen Verlust empfunden: Er hat uns, unsere Stadt verlassen.

Er ist gegangen, aber er hat viel hinterlassen. Sein Erbe an uns ist das Beispiel seines Lebens, seiner Haltung und seines Kampfes ...