Zum möglichen
Chemiewaffen-Einsatz des türkischen Militärs
„...
die Türkei [ist] jetzt in einer Bringschuld ...“
Jan van
Aken, Mitglied des Deutschen Bundestages für die Partei DIE LINKE
Es besteht aktuell wieder der Verdacht,
dass das türkische Militär chemische Waffen im Kampf gegen die kurdische PKK
eingesetzt hat. Am 22.–24. Oktober 2011 wurden bei einem Einsatz des türkischen
Militärs in der Region Kazan Vadesi (bei Cukuca, Provinz Hakkari) 36 PKK-KämpferInnen
getötet. Nach Berichten einer Überlebenden sowie von AnwohnerInnen kamen dabei
auch chemische Agenzien zum Einsatz.
Berichten über den vermeintlichen Einsatz von Chemiewaffen ist grundsätzlich
mit einer gewissen Vorsicht zu begegnen, insbesondere wenn sie von einer Seite
in einer militärischen Auseinandersetzung erhoben werden. In fast jedem bewaffneten
Konflikt wird – oft von beiden Seiten – zu Propagandazwecken der Vorwurf erhoben,
dass verbotene Waffen eingesetzt wurden. In der Regel lassen sich diese Vorwürfe
nicht bestätigen.
Es gibt jedoch sehr gute Gründe dafür, dass im aktuellen Fall der Einsatz einer
unabhängigen, internationalen Untersuchungskommission dringend angeraten ist.
Denn es ist belegt, dass das türkische Militär 1999 verbotene chemische Waffen
eingesetzt hat, mit ihnen trainiert hat und dass es von der Führung des türkischen
Militärs in der Vergangenheit entsprechende Befehle gegeben hat. Zudem ist belegt,
dass die Türkei noch vor kurzem (2010) verbotene chemische Waffen gelagert und
zum Verkauf angeboten hat. Die Vernichtung dieser Waffen ist nicht dokumentiert.
Einsatz von CS-Gas im Jahre 1999
Am 11. Mai 1999 wurden in einer Höhle bei Balikaya, südöstlich von Şırnak, 20
PKK-KämpferInnen bei einer bewaffneten Auseinandersetzung mit dem türkischen
Militär getötet. Vor Ort wurden Überreste einer Granate gefunden, die vom Roten
Halbmond einem deutschen Fernsehjournalisten übergeben wurden. Eine Analyse
am Rechtsmedizinischen Institut der Universität München konnte eindeutig Spuren
von CS-Gas an den Granatresten feststellen. Nach Angaben des deutschen Fernsehmagazins
„Kennzeichen D“ wurde die Granate vom Typ RP707 von der deutschen Firma Buck
& Depyfag produziert und seit 1995 an die Türkei geliefert.
Dieser Gas-Einsatz
wurde auch auf Video dokumentiert.1
Dort kann
man hören, wie ein Soldat über Funk mitteilt: „Wegen der eingesetzten Gasgranate
im Inneren besteht Vergiftungsgefahr für unsere Soldaten.“ Und weiter: „Wir
haben zwar einen Tag gewartet, aber die Wirkung des Gases dauert an.“2
Im Video ist zu sehen, dass die Soldaten nach dem Einsatz die Höhle und das
Gelände davor ohne Schutzkleidung betreten.3
Das
spricht eher dafür, dass es sich um Tränengas gehandelt hat und nicht um ein
tödlicheres Nervengas.
CS-Gas ist Tränengas. In hohen Konzentrationen, vor allem in geschlossenen Räumen,
kann es tödlich sein. Nach der Chemiewaffen-Konvention (CWC) darf Tränengas
zwar bei Demonstrationen, nicht aber in bewaffneten Konflikten eingesetzt werden.
Damit liegt hier ein forensisch nachgewiesener Verstoß gegen die Chemiewaffen-Konvention
vor, die die Türkei 1997 ratifiziert hat.
Produktion
von militärischer CS-Munition in der Türkei
Im Jahre 2010 hat die Bradford University in England einen Bericht vorgelegt,
nach dem der staatliche türkische Rüstungskonzern Makina ve Kimya Endustrisi
Kurumu (MKEK) CS-Granaten vom Kaliber 120 mm produziert und international vermarktet
(siehe Abbildung 1).4
Die Granate mit der Typenbezeichnung
„MKE MOD 251“ hat ein Gewicht von über 17 kg und eine Reichweite von über 8
km. Damit ist sie zum Einsatz gegen Demonstrationen vollkommen ungeeignet und
ausschließlich für den militärischen Einsatz geeignet.5
Ein solcher Waffentyp ist nach der Chemiewaffen-Konvention (CWC) verboten.
Befehl zum Einsatz chemischer Waffen
Am 23. Juli 1989 veröffentlichte die türkische Zeitung İkibine Doğru einen Artikel
über chemische Waffen, in dem auch Auszüge aus einem Geheimbefehl der türkischen
Streitkräfte gezeigt wurden.
Laut diesem Befehl wurde den türkischen Streitkräften gestattet, „Tränengas
und Übelkeit verursachende Gase einzusetzen, wenn es notwendig ist“, sowie Tunnel
dadurch unbrauchbar zu machen, dass sie mit „giftigem Gas gefüllt werden“.
Es kann
natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass dieses Faksimile eine Fälschung
ist. Allerdings gibt es dafür keine Anhaltspunkte. Außerdem schweigt die türkische
Regierung beharrlich zu diesem Dokument. Im Jahre 2004 haben wir den Unterzeichner
des Befehls, General a. D. Necdet Öztorun, angeschrieben sowie ihn direkt in
Istanbul persönlich kontaktiert. Er wollte sich jedoch nicht zu diesem Dokument
äußern. Die Bundesregierung wurde über dieses Dokument im Oktober 2010 informiert.
Im Januar 2011 teilte das Auswärtige Amt mit, dass es sich um Klärung bemüht
habe, ob dieser Geheimbefehl tatsächlich ursprünglich existierte. Dies habe
jedoch nicht geklärt werden können. Unklar bleibt, ob die Bundesregierung seinerzeit
mit dieser Frage auch direkt an die türkische Regierung herangetreten ist.6
Zwei Verdachtsfälle aus jüngster
Zeit
Im September 2009 starben im Raum Çukurca, Provinz Hakkari, acht PKK-KämpferInnen
in einer Höhle bei einem Gefecht mit dem türkischen Militär.7
Augenzeugen berichteten, dass die türkischen Soldaten auch Gas eingesetzt haben
sollen. Danach hätten sie die acht Opfer regungslos aus der Höhle herausgebracht.
Einige der Opfer seien dann noch mit Panzern überfahren worden.
Die Leichen wurden später obduziert, die Staatsanwaltschaft verweigert jedoch
bislang eine Herausgabe der Obduktionsberichte. Direkt nach der Obduktion wurden
Fotos der Opfer gemacht, die einer Menschenrechtsdelegation aus Deutschland
übergeben wurden. Ein deutscher Bildfälschungs-Experte fand keinerlei Hinweise
darauf, dass die Fotos manipuliert waren. Pathologen am Universitätskrankenhaus
Eppendorf in Hamburg begutachteten die Fotos und stellten eine mögliche Einwirkung
von Chemikalien fest.8
Weder die Augenzeugenberichte noch das Hamburger Gutachten sind für sich genommen
ein hinreichender Beweis für einen Chemiewaffen-Einsatz. Augenzeugenberichte
– zumal wenn sie von einer am Konflikt beteiligten Seite stammen – sind nicht
immer zuverlässig und sollten wenn irgend möglich durch objektive Beweise wie
Laboruntersuchungen bestätigt werden. Und der von den Hamburger Rechtsmedizinern
festgestellte mögliche Chemikalieneinsatz könnte auch nach dem Tod bzw. der
Gefangennahme der Opfer passiert sein.
Andererseits werden andere Punkte der Augenzeugenberichte – so zum Beispiel
die Abtrennung von Gliedmaßen durch das Überfahren mit Fahrzeugen – ebenfalls
durch das Hamburger Gutachten bestätigt. Das legt eine gewisse Glaubwürdigkeit
der Quellen nahe. Zudem ähnelt das Szenario dieses Einsatzes in hohem Maße dem
oben geschilderten Trainingsszenario der türkischen Anti-Terror-Einheiten.
Gerade im Kampf gegen Gegner, die sich in Höhlen verschanzt haben, sind Chemikalien
eine effektive – wenn auch verbotene – Waffe. Und, wie oben dargelegt, hat die
türkische Armee zum Zeitpunkt dieses Gefechtes über verbotene CS-Granaten verfügt.
Die Weigerung der Staatsanwaltschaft, die Obduktionsberichte herauszugeben,
verstärkt nur noch den Verdacht, dass hier möglicherweise verbotene chemische
Waffen eingesetzt wurden. Einen echten Beweis könnte jedoch nur eine unabhängige
internationale Untersuchung liefern.
Im Oktober 2011 fanden in einem kleinen Seitental der Region Kazan Vadisi (nahe
Çukurca) über drei Tage Kämpfe zwischen dem türkischen Militär und PKK-Guerilla
statt. 36 PKK-KämpferInnen und ein türkischer Soldat starben. Am 31. Oktober
durften lokale Behördenvertreter, der Menschenrechtsverein IHD sowie Anwohner
und Angehörige der Toten für drei Tage in das Gebiet. Dort fanden Sie noch Leichen
sowie viele Überreste der Kämpfe. Später erhoben der IHD und andere den Vorwurf,
dass in diesem Gefecht auch chemische Waffen eingesetzt wurden.
Bei einem Besuch in diesem Tal am 27. November 2011 fanden sich noch Spuren
von den Kämpfen: Überreste von Munition, verbrannte und entwurzelte Bäume, Kleidungsreste
der PKK-Kämpfer. Das Gefecht fand im offenen Tal statt und nicht in einer Höhle.
Über eine Länge von 2–3 km konnten noch Munitionsreste identifiziert werden,
sowohl von schweren Fliegerbomben (500 und 2 000 Pfund) als auch von kleinkalibriger
Munition.
Eine Überlebende des Gefechtes hat nach Aussage Dritter berichtet, dass an einem
Punkt des Gefechtes in der Nähe eine Bombe explodiert sei. Danach habe sie einen
fruchtigen Geruch wahrgenommen und sich sofort in den nahen Bach gerettet. Die
anderen KämpferInnen in ihrer Gegend seien durch das Gas bewusstlos geworden
und gestorben. Eine unabhängige Bestätigung dieser Schilderung gibt es nicht.
Anwohner eines flussabwärts gelegenen Dorfes berichteten, dass die Soldaten
der türkischen Armee ihnen nach dem Gefecht geraten hätten, für drei Tage kein
Wasser aus dem Bach zu trinken. Dies wurde von den Anwohnern als weiterer Hinweis
auf den Einsatz von Giften gewertet. Allerdings könnte diese Aussage der Soldaten
auch gemacht worden sein, weil flussaufwärts Leichenteile im Bach lagen – beide
Interpretationen sind rein spekulativ.
Es gibt auch keine anderen, objektiveren Befunde, die einen Verdacht auf den
Einsatz chemischer Waffen erhärten würden. Allerdings verweigert auch hier bislang
die Staatsanwaltschaft die Herausgabe der Obduktionsberichte. Zum Zeitpunkt
der Erstellung dieses Berichtes (mehr als einen Monat nach dem mutmaßlichen
C-Waffeneinsatz) liegen immer noch mehrere Leichen im Leichenschauhaus Malatya.
Sie sind derart entstellt und verbrannt, dass sie nur mit Hilfe einer DNA-Analyse
identifiziert werden können. Als ich bei der Staatsanwaltschaft von Malatya
einen Besuch im Leichenschauhaus beantragen wollte, wurde ich vom zuständigen
Staatsanwalt Özdemir handgreiflich und ohne weitere Erklärung aus dem Büro gedrängt.
Eine unabhängige Autopsie dieser Leichen sowie eine Analyse der Obduktionsberichte
erscheint dringend angezeigt, um den Vorwurf eines Chemiewaffen-Einsatzes entweder
zu erhärten oder aber aus der Welt zu räumen.
Ausblick
1) Angesichts der belegten wiederholten Verstöße der Türkei gegen die Chemiewaffenkonvention
– namentlich der Einsatz von CS-Gas 1999 sowie die Lagerung von militärischen
CS-Granaten bis mindestens 2010 – ist eine umfassende Untersuchung gegenwärtiger
und vergangener Chemiewaffen-relevanter Aktivitäten bei den türkischen Streitkräften
dringend erforderlich. Die türkische Regierung sollte die OPCW einladen, eine
solche Untersuchung durchzuführen; sie sollte außerdem alle Unterlagen über
vergangene Aktivitäten in diesem Bereich der OPCW zur Verfügung stellen sowie
freien Zutritt zu allen relevanten Anlagen gewähren. Dabei muss auch der Status
des Geheimbefehles aus dem Jahre 1986 untersucht werden. Solange die türkische
Regierung dieses dunkle Kapitel der türkischen Republik nicht transparent aufarbeitet,
wird sie auch künftig immer dem Verdacht ausgesetzt sein, verbotene Waffen im
Kampf gegen die Kurden einzusetzen.
2) Die von der türkischen Regierung angekündigte Zerstörung der militärischen
CS-Granaten muss von der OPCW kontrolliert werden.
3) Die Türkei muss eine Untersuchung der jüngsten Verdachtsfälle – namentlich
zumindest die hier geschilderten Vorfälle in der Region Çukurca vom September
2009 sowie vom Oktober 2011 – durch eine unabhängige internationale Institution
wie z. B. dem Roten Kreuz/Roten Halbmond zulassen. Alle relevanten Informationen,
einschließlich der Autopsieberichte, müssen zur Verfügung gestellt werden.
Eine Autopsie der noch in Malatya verbliebenen Leichen durch unabhängige Ärzte
ist unverzüglich durchzuführen.
Wie eingangs betont, ist es weit
verbreitet, den Vorwurf eines Chemiewaffen-Einsatzes als Propagandamittel einzusetzen.
Transparenz und umfassende Offenlegung aller Fakten sind der einzige Schutz
vor einer solchen Propaganda – und gleichzeitig der einzige Weg, künftige Einsätze
chemischer Waffen zu verhindern und so die Beteiligten in gewaltsamen Konflikten
vor diesen grausamen Waffen zu schützen.
Angesichts der hier zusammengestellten Fakten ist die Türkei jetzt in einer
Bringschuld und muss endlich nachweisen, dass sie in keinem Falle mehr chemische
Waffen produzieren, lagern, weitergeben oder einsetzen wird. Die Bundesregierung
sowie die anderen Mitgliedsstaaten der CWC müssen Druck auf die türkische Regierung
ausüben, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Denn wer wiederholte Verletzungen
der Konvention toleriert oder ignoriert, macht sich am Ende mitschuldig.
Der Autor:
Dr. Jan van Aken ist Biologe. Er hat 1999 das Sunshine Project zur Kontrolle
biologischer Waffen sowie 2003 die Forschungsstelle Biowaffen an der Universität
Hamburg gegründet. 2004 hat er einen Bericht über chemische und biologische
Waffenforschung in der Türkei veröffentlicht. 2004–2006 war er Biowaffeninspektor
bei den Vereinten Nationen. Seit 2009 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages
für die Partei DIE LINKE.
Fußnoten:
1- Siehe http://www.youtube.com/watch?v=sDR_6YcUC_E. Eine Version mit deutschen
Untertiteln findet sich unter http://www.youtube.com/watch?v=oansyFqx3e8.
2- Im türkischen Original: „…askerlerimiz su anda zehirlenme tehlikesiyle karsi
karsiyalar. Ama yine de canavarca, kahramanca giriyorlar....“ (5:28 im türkischen
/ 5:36 im deutschen Videos) sowie „Bir gün ara vermenize ragmen gaz hala etkisini
sürdürüyor.“ (5:22 im türkischen, 6:12 im deutschen Video).
3- Siehe der deutsch untertitelten Version des Videos zum Beispiel bei 5:47,
6:04 oder 6:18.
4- The Production and Promotion of 120mm munitions containing CS: A Briefing
Note for CWC States Parties attending CSP-15 29th November 2010. Veröffentlicht
von der University of Bradford, dem Institute for Security Studies und der Omega
Research Foundation.
5- Zudem gibt die University of Bradford mit Verweis auf einen Artikel in „Janes
Defense Weekly“ an, dass dieser Granatentyp speziell für den 120mm-Granatwerfer
der türkischen Armee vom Typ HY-12 vorgesehen ist.
6- Sachstandsbericht des Auswärtigen Amtes vom Januar 2011 mit dem Titel „Türkei
– Vorfall beim Kampf gegen die PKK in 2009“.
7- Eine Zusammenfassung dieses Falles findet sich auch bei Spiegel online, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,711506,00.html
8- Das Gutachten des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf vom 20.7.2010 liegt
dem Autor vor. Es stellt zum Beispiel bei dem Leichnam eines jungen Mannes „pergamentartige
Hautvertrocknungen im Oberkörperbereich, an den Armen und im Gesicht“ fest.
Wörtlich: „Diese erinnern an die Folgen von Hitzeeinwirkung. Gegen eine thermische
Einwirkung spricht allerdings, dass die Haare im Gesicht und an der Brust nicht
angesengt wirken. Insofern kommt auch die Einwirkung einer chemischen Substanz
als Ursache in Betracht.“